Bundestagswahl 2017

– Eine philosophische Betrachtung –

1) Historisch-politische Begriffe.

Was Erkenntnisse anbetrifft, so werden  aus philosophischer Sicht zwei Ansätze verfolgt: Einmal der historische und dann zum anderen der systematische  Ansatz. Beides, das Historische und das Systematische unterscheiden sich prinzipiell. Das Historische ist immer zeitabhängig, das Systematische ist  genau das eben nicht.  Man kann sich die Begriffe an einem Koordinatensystem klarmachen.

Bild : Systematische und Historische  Begriffe

Im Hinblick auf den kommenden Wahlkampf 2017  zum Bundestag werden wir Stimmbürger  voraussichtlich mit einer Lawine von Wörtern überfallen. Einige davon können hier schon aufgezählt werden, weil bisher alle Wahlkämpfe von diesen Vokabeln durchtränkt waren. Wir zählen auf: Christentum, Kapitalismus, Liberalismus, Sozialismus,  Nationalismus, Ökologie, Islam, etc., und dann aber auch Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Sicherheit, Bedürfnisse, etc.  Bei dieser Aufzählung  von politischen Wörtern hat schon eine Vorsortierung stattgefunden, wenn wir Paul Lorenzen in seinem Aufsatz „Politische Vernunft und der Begriff Sozialismus“ (1984)  folgen. Die ganze Klaviatur runter von Christlichkeit  und Kapitalismus runter  bis zur Ökologie ist ein historisches Vokabular. Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit und dann auch der große Begriff  „Wahrheit“ sind hingegen systematische Begriffe. Im Wahlkampf sollten die Kämpfer schon dartun, was sie unter dem Vokabular verstehen, wenn sie es benutzen, um von uns, den Stimmbürgern verstanden zu werden. Also versuchen wir es auch einmal selbst als Nicht-Politiker.

Die historischen Begriffe sind leicht zu erklären, schwierig wird es mit den systematischen Begriffen. Historische Begriffe im politischen Sinne  bezeichnen geistige Strömungen, die kommen und vergehen. Kommunist z.B. will heute niemand mehr sein. Beginnen wir in Sachen  historischer Begriffe mit dem Sozialismus. Es gibt viele Definitionen. Wir übernehmen die Definition, die Lorenzen verwendet. „Sozialismus ist die seit der Industrialisierung im 19.Jahrhundert entstandene Bewegung, anstelle der liberalistisch-kapitalistischen Wirtschaftsordnung eine neue gemeinwirtschaftliche Ordnung herbeizuführen.“ Herausgekommen ist bei uns eine Gemengelage, ein bisschen von allem. Das Christentum als geistige Bewegung entstand  in der Spätantike durch einen direkten Bezug auf die Taten Jesu Christi. “Nach dem christlichen Mittelalter entstand der Kapitalismus, wenn man der Begriffsbildung Werner Sombarts (1863-1941) folgt. Das ist ein Wirtschaftssystem, das in Europa die mittelalterliche Wirtschaftsordnung ablöste. Es ist charakterisiert durch Kostenkalkulation und Gewinnstreben privater Unternehmen am Markt. Der Hochkapitalismus entsteht, als die kirchlichen und staatlichen Bindungen des Absolutismus durch den Liberalismus (Freihandel) zerbrochen werden “ lesen wir bei Lorenzen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand die Ökologie im Zuge eines wachsenden Umweltbewusstseins. Der Begriff „Ökologie“ wurde schon 1866 vom „Rekapitulationstheoretiker“ Ernst Haeckel (1834-1919) eingeführt, was mich in Erstaunen versetzt.

Der Wahlkampf ist offensichtlich dazu da, dass man sich zunächst auf die systematischen Begriffe stürzt, und hier an erster Stelle auf den  Begriff „Gerechtigkeit“. Gerechtigkeit gehört  in schlichter Gesinnung zu den Wieselwörtern, die alles und nichts besagen. Es sind Abstrakta, die in den Bereich der Verdünnung fallen.  Es war der ungarische  Mathematiker  Georg Pólya (1887-1985), der von verdünnender Abstraktion sprach, insbesondere spöttisch  im Hinblick auf die Mathematik seiner Kollegen. Eine verdünnende Abstraktion entsteht immer dann, wenn nicht angegeben wird, in welcher Richtung abstrahiert wird, was im Blogbeitrag „Organisations-Anthropologie im Zeitalter einer abstraktiven Informationstechnologie“ ausführlich dargestellt wurde.

„Man muss historische Texte  in systematischer Absicht lesen“, so lautet die bekannte Aufforderung, um einer Abstraktion, z.B. Gerechtigkeit, eine Richtung zu geben und einer Verdünnung zu entgehen. Wenn es z.B. um Steuergerechtigkeit geht, muss ich   ökologische Texte und  Texte einer  Wirtschaftstheorie lesen, auch einer liberalen, um Gerechtigkeit herzustellen oder besser, um Ungerechtigkeit  zu vermeiden. Wir nehmen natürlich an, dass ein Erreichen einer  Gerechtigkeit gleichbedeutend  ist mit einem  Vermeiden einer Ungerechtigkeit.  Das gilt nur klassisch logisch. Bei genauerem Hinsehen (d.h. konstruktiv), das hier unterbleiben soll, ist das natürlich nicht der Fall. Das Problem: Ich muss die ökologische Sprache und die Sprache der Wirtschaftstheorie in  die Fachsprache des Steuerwesens übertragen, was im glücklichen Fall gelingt. Häufig landet man aber in einer  Interpretations-Spirale, deren Ende dann erzwungen wird, weil alles auf Erden endlich ist. Hoffentlich verfügen unsere Politiker und ihre Mitarbeiter  über das Bildungsniveau, um den Abbruch zu vermeiden. Auch Politiker bedürfen der Bildung.

2) Systematisch-politische Begriffe.

Wir beschränken uns auf Gerechtigkeit. Das wichtige, aber sehr technische und umfangreiche  Thema „Sicherheit“, äußere wie innere, soll nicht behandelt werden. Und Freiheit? Den systematischen Begriff  „Freiheit“ erleben wir  sehr direkt, wenn über den Brexit zwischen Großbritannien und der EU verhandelt wird. Denn dann geht es die vier Freiheiten einer liberalen Idee: Freier Personenverkehr, freier Kapital- und Dienstleistungsverkehr und freier Warenaustausch.

Gerechtigkeit“ ist systematisch gesehen ein unglaublich voluminöser Begriff, ein Tummelplatz menschlicher Rede, was Wikipedia eindrucksvoll zeigt. Schlicht betrachtet lebt der Begriff in stark  verdünnter Luft, manchmal  politisch sogar  im Vakuum. Ohne Richtung ist der Begriff wertlos. Man muss sauber konstruktiv abstrahieren, schrittweise, zirkelfrei und alles explizit machen, damit Streitigkeiten schon auf dem Wege zum Ziel  eliminiert werden. Historisch ist alles einfacher: Gerechtigkeit basiert auf dem Prinzip der sozialen Gleichheit aller Menschen, als „egalité“, als Gleichheit vor dem Gesetz, ein Produkt der revolutionären Aufklärung in Europa.

Im Bundestagswahlkampf wird der arme Stimmbürger überschüttet mit Gerechtigkeitsbegriffen: Generationen-, Steuer-, soziale Verteil-, Geschlechter-,  (digitaler) Bildungs-, Maut-Gerechtigkeit (die Österreicher wollen das so). Sogar Einschränkungen der Freiheit werden als Ungerechtigkeit empfunden. Die Kirchen im Lutherjahr stehen völlig hilflos daneben. Denn Luther unterschied auch noch in seiner Rechtfertigungslehre  zwischen aktiver und passiver Gerechtigkeit. Und der berühmte  John Rawls (1921-2002) in seiner „Theory of Justice“  bringt auch noch statt Gerechtigkeit  den englischen Begriff der Fairness ein, der aus dem Sport stammt.

Man muss zwischen Setzen des Rechts, was Aufgabe der Politiker ist, die im Wahlkampf kämpfen, und der Rechtsprechung, der Justiz, unterscheiden. Natürlich kann  man für das Setzen des Rechts Prinzipen der  Gerechtigkeit definieren, wie das z.B. Prof. Manfred Becker (Mainz) noch kürzlich (24.5.2017 in der FAZ) getan hat. Er führt Gerechtigkeit auf drei Prinzipien (erste Sätze)  zurück: Das Solidaritätsprinzip oder das römische „ultra posse nemo obligatur“. Niemand darf über seine Fähigkeiten hinaus beansprucht werden. Das ist ein Appell an die Leistungsfähigen, in die entstandene Bresche zu springen. Dann das Subsidiaritätsprinzip, das als eine Umkehrung aufgefasst werden kann: Wenn du kannst, dann sollst du auch, und nicht etwa jemand anders. Als moralische Prinzip wird es nach Kant auch als „ Sollen impliziert Können“ formuliert  oder als „wenn  du sollst, dann kannst  du  auch“. Andernfalls sollst du  gar nicht;  und ein Nicht-Können regelt das Solidaritätsprinzip.  Wehe, man vergisst das dritte Prinzip, das Leistungsprinzip. „Wir treffen uns sonst alle auf dem Sozialamt“, meint Prof. Becker spöttisch. Das Leistungsprinzip besagt „ich tue so viel ich kann“ (tantum quantum  possum). Das ist ein Spruch der Aufklärung, die einen fundamentalen Beitrag zum Thema „Recht und Gerechtigkeit“ geleistet hat. Zu bedenken ist, dass im Hintergrund dieser systematischen Prinzipen immer  das Historische steht, deren Texte wir in systematischer Absicht lesen müssen, ohne in eine Spirale zu geraten.

Von der Rechtsetzung nun zur Rechtsprechung. Jetzt geraten wir in die  höchsten Höhen der Abstraktion. Wir müssen Recht sprechen „Ohne Ansehen der Person“ (symbolisiert für die Bürger durch die Augenbinde der Justitia) . Das ist  ein altes römisches Juristenprinzip. Man könnte auch sagen „Recht wird gesprochen, unveränderlich (invariant) in Bezug auf den Austausch von Personen“.  Das ist die juristische Transsubjektivität, die zum (abstrakten) Begriff  „Gerechtigkeit“ führt. Die allgemeine Transsubjektivität, beispielsweise auch  formuliert im Kategorischen Imperativ (Kant), führt unmittelbar auf den praktischen Vernunftbegriff. Und höher geht’s nicht mehr, zumindest nicht  auf Erden. Es war Luther, der noch höher stieg, mit seiner Rechtfertigungslehre  vor 500 Jahren und den Begriff der passiven Gerechtigkeit einführte. Aber das ist ein anderes, ein  theologisches  Thema.

Ein Kommentar zu „Bundestagswahl 2017

  1. Praktikabel (d. h. hier Prozess-orientiert) wird das aber erst, wenn wir einige der hier ins Spiel gebrachten Grundbegriffe zu einer Art (gerichtetem) „Gerechtigkeitsdreieck“ verbinden (konstruieren); etwa so:

    Wettbewerbsprozesse (Agon, Leistungsprinzip) —-> Subsidiaritätsprozesse (denjenigen gegenüber, die zeitweise nicht können) —-> Einforderungsprozesse (Einschränkungen der Souveränität von Institutionen bzw. gezügelte Freiheit Einzelner in bestimmter Hinsicht, „fördern und fordern“) —-> wieder Hinführung an die Wettbewerbsprozesse und der „Dreiecksumlauf“ beginnt für jedes Mitglied einer (Solidar-)Gemeinschaft (bis zur Rente) von neuem.

    Bei den Einforderungsprozessen wird am häufigsten „geschludert“ (z. B. Griechenland-Hilfen oder der Länder-Finanz-Ausgleich). Dies führt dann bei den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, bei denjenigen, die dem Leistungsprinzip folgen und es durch „Fleiß“ erfüllen, zu frustrationen und oft zur Verabschiedung aus der „Solidargemeinschaft“.

    Man Arbeitet, um zu leben. Wer nicht arbeitet und trotzdem gut lebt, ist nicht von diesem Planeten.

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