1) Die Verbesserungsbedürftigkeit unserer Demokratie
Wenn Demokratie Herrschaft des Volkes (gr. demos) heißt, dann heißt Epistemokratie Herrschaft des Wissens (gr. episteme).
Den Begriff „ Epistemokratie“ und seine Erklärung habe ich von Alexander Bogner. In seinem Büchlein “Die Epistemisierung des Politischen – Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet“ führt er u.a. aus, dass Epistemokratie auch als eine Verbesserung der Demokratie aufzufassen ist. „Epistemokratie“ bezeichnet die Herrschaft einer „Wissensförmigkeit“, schreibt er genauer auf Seite 130. Die Herrschaft von Wissenden, also eine Epistokratie, die Platon in seiner Politeia noch als eine Herrschaft von wenigen Philosophen forderte, steht für Bogner nicht zur Debatte. Nicht die Wissenden, sondern die Wissensförmigkeit ist bei Bogner gemeint. Und was Wissensförmigkeit ist, das erfährt man in einer jeden Wissenschaftstheorie. Drei Forderungen werden genannt: es muss Vernunft herrschen, es muss methodisch vorgegangen werden und es sollte einen Dialog geben. Das gilt für alle Wissenschaften, die sich so nennen.
Vernunft heißt, man geht über einen noch animalischen Subjektivismus hinaus. Man ist transsubjektiv. Gemeint ist im Speziellen eine praktische Vernunft, die auch Regeln und Normen setzt und keineswegs werturteilsfrei ist wie der Szientismus, der glaubt, außerhalb der Wissenschaft gäbe es keine sinnvollen menschlichen Aktivitäten. Wissenschaftssprache muss genau sein und unterscheidet sich so von einer Alltagssprache mit ihren Beliebigkeiten. Methodisch heißt, es wird schrittweise, zirkelfrei und alles explizit machend vorgegangen, und in einem Dialog soll mein Resultat auf Augenhöhe von einem anderen überprüft und kritisiert werden können. Deshalb ist publizieren so wichtig.
Tiefer Subjektivismus und ja keine Methodik sind aber an der Tagesordnung einer heutigen demokratischen Politik. Beide, der Subjektivismus und das Unmethodische, sind nicht wissensförmig. Man kann nur auf einer höheren Spracheben über sie reden. Vielleicht hilft das im Subjekt der „Seele“, der Psyche eines politischen Menschen. Das Unmethodische wird ihm aber häufig zum Verhängnis, weil er u.a. etwas voraussetzt, was es noch gar nicht gibt, und er nicht weiß, wie er das Vorausgesetzte herstellen soll. Proklamationen langen nicht.
Wenn man das so sieht, ist unsere demokratische, politische Landschaft im Sinne einer wissensförmigen Epistemokratie dringend verbesserungsbedürftig. Wie soll man z.B. mit Subjektivismus und unmethodisch die großen Probleme unserer Zeit wie Energiewende, Digitalisierung und Pandemie angehen? Ein nicht-epistemokratisches, vulgär-demokratisches, unvernünftiges und unmethodisches Vorgehen führt ins Chaos. „Vulgär“ wird verstanden als dürftig, armselig oder kümmerlich.
2) Wissenschaftsleugner
„Wissenschaftsleugnung“ (science denial oder science denialism) ist ein sozial-psychologisches Problem ersten Ranges, das nur wenig beachtet wird. Ist es eine mentale Krankheit von epidemischem Ausmaß? Es gibt eine Vielzahl qualitativ hochwertiger Publikationen zum Thema, wie man aus der Wikipedia- Darstellung oben entnehmen kann. Verschärft wird die Wissenschaftsleugnung durch die rapide Zunahme der Nutzung „Sozialer Medien“, auch seitens vulgär-demokratischer Politiker wie z.B. Donald Trump. Hervorzuheben in der umfangreichen Literatur ist das kürzlich erschienen Buch von Lee McIntyre „How to talk to a Science Denier“ (2021) oder „Wie spricht man mit einem Wissenschaftsleugner“.
Die Leugner nach McIntyre: Man muss sie ernst nehmen und ja nicht belehrend auf sie einzuwirken versuchen. Die Kunst ist, das Fürwahrhalten von Falschem im Dialog aufzeigen, und der Leugner darf das nicht direkt merken, sonst geht er laufen. Das kostet Zeit, die man im Allgemeinen nicht hat. Also unterbleibt der Versuch und es bleibt wie es ist, schlimmer, es wächst epidemisch. Dafür sorgen die Sozialen Netzwerke. Wissenschaftsleugner wissen nicht, was Probleme und ihre möglichen Lösungen sind. Das Wort „ Problem“ in seiner griechischen Wurzel hat die Bedeutung „ Gegenstand“ oder lateinisch „Objekt“, also was einem vorgeworfen wird und weggeschafft werden muss.
Kommen wir zu unseren Problemen, die vulgär-demokratisch allesamt nicht zu lösen sind, sondern verschärft werden.
Betrachten wir zunächst die Energiewende.
2.1 Energiewende
Seit meiner Studentenzeit (1955-1960) sind mir Atomkraftgegner ein Begriff. So um 1960 trat in einem kernkrafttechnischen Seminar von Prof. Jaroscheck (1899-1989) (TH Darmstadt) der bekannte Publizist und Kernkraftgegner Robert Jungk (1913-1994) auf. U.a. ist Jungk durch sein Buch „Atomstaat- Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ berühmt geworden. Mein Professor saß in der ersten Reihe. Ich sehe ihn noch heute jammern „Herr Jungk, was Sie da erzählen, ist nicht hilfreich“. Wir beschäftigten uns damals mit Themen wie Reaktorsicherheit, Brennstoffkreislauf, Kugelhaufenreaktoren, negativer Temperaturkoeffizient, Personalschulung, Standortbedingungen, Endlagerung, etc. Das war alles schon wissensförmig, aber interessierte Herrn Jungk nicht, er verschwand einfach so, nachdem er seine Botschaft abgelegt hatte. Er war halt eine Demagoge, und so war die ganze Bewegung, die sich „Atomkraft nein danke“ nannte und die er als Berühmtheit hinter sich herzog. Eine ernsthafte Diskussion, die McIntyre fordert, war mit diesen Wissenschaftsleugnern nicht möglich.
Aber Jungk hatte gesiegt. Kerntechnische Lehrstühle verschwanden in Deutschland von der Bildfläche und unser kerntechnisches Knowhow in Deutschland ist mittlerweile auf null gesunken. Uns in Deutschland fragt international niemand mehr. Es müsste alles bei einer klimabestimmten Neubesinnung z.B. aus England, Frankreich oder den USA wieder importiert werden. Das wissen wir aber. Z.B. Konrad Kleinknecht, Prof. für Physik (Mainz) und Klimabeauftragter der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 2007 im SWR „Die Klimafalle – Warum wir auf Kernenergie nicht verzichten können“ und sein Buch „Wer im Treibhaus sitzt“ (2007). Selbst Sigmar Gabriel, ehemaliger deutscher (SPD)-Politiker, sagte einmal: „In Sachen Energiewende hält uns das Ausland für bekloppt“. Sicherlich: Vulgär-Demokraten sind oftmals äußerst beschränkt.
Und nun gibt es auch noch einen offenen Brief von diversen Wissenschaftlern in DIE WELT vom 15.10.2021, sogar von einigen mit Harvard- und Oxford- Reputation, mit der Überschrift „Liebe Deutsche, lasst die Kernkraftwerke am Netz“. Eine Klima-Notstandsverordnung mit einer Änderung des Atomgesetzes wird verlangt.
Das geht natürlich nicht. Denn das würde für die GRÜNEN, eine präsumtive Regierungspartei und Anti-Kernkraftpartei ab ovo, unter normalen Verhältnissen den Genickbruch bedeuten.
2.2. Pandemie
Unsere Querdenker in Sachen Ausbreitung des Corona-Virus sind harmlose Leute. Harmlos jedenfalls im Verhältnis zu den massenhysterischen, militanten Anti- Kernkraft- Gegnern. Es gibt zwar eine Querdenker-Bewegung. Aber die Impfquote zeigt, dass Querdenker im Bund keine Mehrheit bilden können- Gesundheitspolitische Verhältnisse wie unter Bolsonra in Brasilen bleiben uns erspart. Pandemisch haben wir eine epistomokratische Situation. Bei großen Ankündigungen tritt Gesundheitsminister Jens Spahn (Politiker) immer gemeinsam mit dem Präsidenten des Robert Koch Instituts (RKI) Lothar Wieler (Wissenschaftler) auf. Es herrscht Harmonie und man darf hoffen, dass unser pandemisches Problem epistemokratisch gelöst wird.
2.3 Digitalisierung
Digitalisierung (auch jenseits der Infrastruktur) ist ein großes Thema. Nicht erst seit dem Sondierungspapier der Ampel-Parteien vom Oktober 2021. Man spricht hier sogar von einem „digitalen Staat“. Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: „Sind da Epistemokraten oder Vulgär-Demokraten am Werk?“. Man kann die Frage auch präziser stellen: „Ist mit Digitalisierung das Ersetzen, die Substitution von analogen Prozessen in Organisationen durch digitale Prozesse gemeint?“ Wenn das der Fall ist, sind wir vulgär. Statt auf Papier ist dann alles auf dem Bildschirm zu sehen. Es gilt dann der bekannte Vulgär-Spruch von Thorsten Dirks in die “ besten IT-Sprüche 2015“: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen digitalen Scheißprozess“. Damit ist im vornehmen Deutsch Substitution gemeint. Analoges wird durch Digitales ersetzt.
Hoffen wir, dass im Sondierungspapier keine bloße Substitution gemeint ist. Hoffen wir, dass eine digitale Prozess – Rekonstruktion für unsere Ablauforganisationen gemeint ist, und das im großartigen Wort „Modernisierung“ zum Ausdruck kommen soll. Also ein rekonstruktive und keine bloß substitutive Digitalisierung. Dazu gehören dann aber gewaltig mehr Gehirnanstrengungen, die ausgiebig von Volker Stiehl in seinem Prozess gesteuerten Ansatz (process driven application, PDA) dargestellt werden. Ob unsere präsumtiven Koalitionspolitiker auch die geeigneten Leute für eine solche Kraftanstrengung im Auge haben, ist eine offene Frage.
Es geht um Prozesse. Der Kulturphilosoph Bernd Scherer sagt dazu in einem FAZ Artikel vom 04.01 2020: „Wir sind wissensgetriebene Gesellschaften, nicht nur weil unser Wissen ständig zunimmt, sondern weil die Realitäten, die wir erzeugen, auf Wissen beruhen. Das heißt, wir bewegen uns von objektbasierten zu prozessbasierten Weltsichten“.
Wir haben also drei unterschiedliche Fälle behandelt. Die Energiewende ist vulgär-demokratisch in den Sumpf gesetzt worden. Das Pandemie-Problem wird epistodemokratisch gelöst. Und bei unserem dritten Fall, der Digitalisierung wissen wir nicht, wohin die Reise geht.
Herr Habeck müsste diesen Blogeintrag verstehen. Vielleicht kann er ihn dann an Herrn Lindner, an Frau Baerbock und an Herrn Scholz, den neuen Klimakanzler, weitersagen.