Die vierte Kränkung der Menschheit

1) Siegmund Freud und die drei Kränkungen der Menschheit

Es war der weltberühmte Psychoanalytiker Siegmund Freud (1856 – 1939), der zuerst von den Kränkungen der Menschheit sprach. Er zählte dabei drei Kränkungen auf:

Die kosmologische Kränkung eines Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543), der eine heliozentrische Planetensystem dem alten geozentrischen Planetensystem gegenüberstellte. Insbesondere die katholische Kirche war tief getroffen, galt für sie doch Rom in Italien auf der Erde als das Zentrum des ganzen Kosmos. Man spricht auch von der Kopernikanischen Wende.

Die biologische Kränkung eines  Charles Darwin (1809 – 1882). Der Mensch entstammt dem Tierreich, oder anders formuliert, der Mensch stammt vom Affen ab.

Die psychologische Kränkung durch   Siegmund Freud (1856 – 1939) selber. Es war die Entdeckung des Unbewussten. Ein beträchtlicher Teil des „Seelenlebens entzieht sich demnach der Herrschaft des bewussten Willens“.

Schön und gut, aber was ist nun die vierte Kränkung? Um das darzustellen, müssen wir etwas weiter ausholen.

2) Das Allgemeine und das Besondere

Die vielen Lesarten in der Literatur zum Thema „Das Allgemeine und das Besondere“ kann man am besten tabellarisch wiedergeben:

Das Allgemeine          Das Besondere                 Bemerkung

Schema                        Aktualisierung                    Allgemeine Sprachlehre

type                              token                                  nach C. S. Peirce (1839 – 1914)

competence                 performance                       nach   N. Chomsky (* 1928)

Sprache (langue)         Rede (parole)                     nach  F. de Saussure (1857- 1913)

Für uns hier ist insbesondere die Unterscheidung von Sprache (franz. langue) und Rede (franz. parole) von Bedeutung. Rede, das ist ja bloß eine Aktualisierung, eine Ausprägung einer Sprache, mehr nicht. Denn so einfach ist das nicht, wie im Rahmen von KI und ChatGPT (der generative vortrainierte Transformer) von Large Language Model (LLM) zu sprechen. Ungeheure Textmengen als Redemengen zu benutzen, das sind Redemengen, über die nicht zu Gesetzmäßigkeiten einer Sprache so einfach übergegangen werden kann. Vom Besonderen einer Rede kommt man nicht so ohne weiteres zum Allgemeinen einer Sprache, wie das die Struktur einer Grammatik tut. Wir geraten in eine Zwittersituation, wenn wir von schematisierter Rede sprechen müssen. Das ist neu, und das hat es bis heute in der Geschichte noch nicht gegeben. Denn eine (künstlich) schematisierte Rede führt zu einer vierten Kränkung der Menschheit. Ein „stochastic parrot“, ein stochastischer Papagei, der nur nachplappert, was ich vorgeplappert habe, kränkt mich nicht, der belustigt mich. „stochastisch“ heißt zufallsgebunden.

Wenn das überhaupt gelänge, Reden zu schematisieren, dann wäre das eine vierte Kränkung der Menschheit. Wir nennen das:

Die mentale Kränkung der Menschheit durch ChatGPT. Der Mensch als schematisierter Papagei. Das tut schon weh.

Der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure, so glaube ich, würde sagen „une parole schematisée“, das geht nicht, „ce ne va pa“. Und in der Tat, es ist eine pur experimentelle Frage, ob das geht oder nicht. Man braucht natürlich eine schematisierende Theorie dazu, und die wird in der reichlichen Literatur zur KI ausgiebig dargestellt.

 

 

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