„Sollen impliziert Können“

-Eine Kritik an der klassischen Ethik-
1)  Moralisches Können (MK) als moralische Pflicht (Sollen)

Ein wesentlicher Inhalt der klassischen Ethik wurde von Immanuel Kant (1724-1804) in seinem Werk „Kritik der praktische Vernunft“ (1788) erarbeitet. Das wichtige Prinzip“Sollen impliziert Können“, eine Formuliereng der Modernen, wurde von Kant im Original wie folgt abgefasst: Er urteilt also, dass er etwas kann, darum weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.” (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, § 6. Aufgabe II.)

In einer hochtechnisierten Umgebung  kommen einem diese Formulierungen, Original wie auch die moderne Kurzform, unrealistisch vor. Denn man muss sich das mal vorstellen: Es wird ein unumstößliches Sollen vorgegeben, um daraus logisch ein praktisches Können zu erschließen. Statt „unumstößlich“ sagte Kant „apodiktisch“. Über ein Sollen  werden  meine praktischen Handlungsfähigkeiten, mein Können, abgeleitet. Schön wär`s, wenn das so einfach wäre. Wenn viele „Sollen“ auf mich einprasseln, dann kann ich auch viel. Als  Argument wird mir dann von Logikern  das „argumentum e contrario“ (Umkehrschluss, Kontraposition) zum Trost entgegen gehalten.“ Nimm das Sollen nicht so ernst, denn wenn du nicht kannst, dann sollst Du auch nicht“. Das ist das berühmte römische „Ultra posse nemo obligatur“, das schon im letzten Blogbeitrag herangezogen wurde. Zentral ist schon das Können und nicht das Sollen, denn ohne ein Können ist  ein Sollen nichts wert. „Sollen impliziert Können“: Das reine Sollen  klingt  wie Frau Merkels „Wir schaffen das“ oder die Selbstverpflichtung des Staates in der Bereitstellung von Kita-Plätzen. „Sollen impliziert Können“ erweist sich dann als ein leerer Moralappell, nur  gut für das Seelenheil von reinen Moralisten.  Über den Satz „Sollen impliziert Können“ gerät die Ethik in Verruf unglaubwürdiger Wortpolitik. Das wäre  aber mit Sicherheit nicht im Sinne Kants.

Den Satz „Sollen impliziert Können“ kann man wie folgt graphisch darstellen werden.

Bild 1:  „Sollen impliziert (→) Können“

Ein „Können“ steht wie eine Möglichkeit auf der Ebene des Problematischen. Das ist auch in der Philosophie Kants so. Und um das Problematische geht es in diesem Beitrag. Wir problematisieren einen Kernsatz der klassischen Ethik. Planung und Tatkraft werden bei Kant noch nicht hervorgehoben.

2) Technisches Können (TK) versus Moralisches Können (MK)

Schon Lorenzen in seinem Aufsatz „ Praktische und theoretische Modalitäten“ (1985) spezifizierte den Begriff „Können“ als eine praktische Modalität  und ersetzte ihn durch das eindringlichere „Erreichbar“ (S.10). Er erklärt uns den Terminus „erreichbar“ bei der Apfelernte:

„Wer behauptet, ein Sachverhalt A (z.B. Ich habe den Apfel) sei „erreichbar“, der behauptet, er könne A erreichen.  Die Vernunft empfiehlt auch hier, so lange zu warten, bis A erreicht ist. Aber ohne Planung, einschließlich der Tatkraft, die bisher Unerreichtes zu erreichen sucht, wird – das ist analytisch wahr – nichts Neues erreicht.“

Klassisch ist das Bild: Wer behauptet er könne springen, der springe (hic Rhodos, hic salta). Durch Tatkraft und Planung kommen wir aus dem Problematischen heraus und steigen im Bild oben  eine Stufe höher ins „Assertorische“. Wir dürfen nach der Tat faktisch behaupten (assertio (lat) = Behauptung) „es ist erreicht“.

Schauen wir aktuell auf das verheerende Erdbeben in Italien, dann wird unmittelbar evident, dass ohne ein technisches Vermögen im Schuttbeseitigen und ohne ein Forschen in Trümmern  nach Leben einer moralischen Pflicht zur Hilfe nicht Genüge geleistet werden kann. Umfangreiche Forschungen im Bereich des Bauingenieurwesens (earthquake civil engineering) waren und sind weiter präventiv erforderlich, damit  sich solch unglücklichen Widerfahrnisse  nicht wieder ereignen. Technisches Können (TK) muss heute in einer Zeit  nach Kant und Lorenzen apodiktisch (unumstößlich)  verlangt werden.  Die Forderung „ Auch Technisches Können (TK) impliziert Moralisches Können(MK)“ wird zur Diskussion gestellt. Das ist eine ethische Frage, die von Ethikern gemieden wird, weil sie sich auf das Moralische konzentrieren. Natürlich gilt auch der Umkehrschluss (Kontraposition): „Wenn kein Moralisches Können (MK), dann auch kein Technisches Können(TK)“. Denn die moralischen  Helfer stehen mit bloßen Händen  da und können nicht wirksam  helfen, weil sie technisch dazu gar nicht in der Lage sind. So abhängig sind wir heute von unserem technischen Vermögen, das ein Technisches Hilfswerk im Zentrum einer jeglichen Ethik stehen muss.

Bild 2: „Sollen UND Technisches Können“  implizieren (→) Moralisches Können (MK)

Es muss eine Konjunktion (UND) gefordert werden: „Sollen UND Technische Können(TK) bestimmen das Moralische Können (MK)“ in seiner Wirksamkeit. Alleine wäre das Technische Können (TK) eine bloße Demonstration oder eine Show von Fähigkeiten und ist für Ausstellungen oder zum Anwerbung für  technische Berufe geeignet. Der Satz „Sollen UND Technisches Können (TK) implizieren Moralisches Können(MK)“ kann auch umgekehrt im Sinne der Kontraposition (argumentum e contrario) gelesen werden:

Wenn kein Moralisches Können (MK) erbracht wird, also ¬MK), dann auch kein Sollen (¬Sollen) UND kein Technisches Können (¬TK).

Das kann nach de Morgan umgeformt werden zu:

Wenn kein Moralisches Können erbracht wird (¬MK), dann auch kein Sollen (¬Sollen)  ODER kein TK(¬TK).

Das ODER besagt: Man kann es sich bei einem moralischen Versagen (¬MK)  aussuchen, ob man gar nicht soll (¬Sollen) ODER technisch nicht kann (¬TK).

Man braucht z.B. nur ein Nicht -Technisches Können  (¬TK) ins Feld zu führen, und schon ist ein moralisches Versagen (¬MK)  argumentativ gerechtfertigt.  Und das geschieht häufig, weil ein Technisches Können eben schwierig zu erwerben ist. Von einem Sollen im Sinne der Praktischen Vernunft und im Sinne eines moralischen Gesetzes braucht dann gar nicht die Rede zu sein.

Wenn einer glaubt,  ohne technisches Können auskommen zu können, dann behauptet er einfach „TK ≡ true“, Technisches Können ist wahr und somit  verfügbar. Hoffentlich täuscht er sich nicht bei dieser Wahrheitsbehauptung.  Das wichtige und häufig entscheidende Technische Können (TK) wird heute meistens nur implizit angenommen. Es wird als selbstverständlich hingestellt. Zur Zeit Kants gab es nur ein primitives Technisches Können (TK), nicht der Rede wert aus heutiger Sicht.

Zwischenfrage: Die Staaten der EU lehnen durchweg eine Quotenregelung in Sachen  Aufnahme muslimischer Flüchtlinge ab. Tun sie das, weil sie sich nicht verpflichtet fühlen oder sind sie technisch dazu nicht in der Lage? Oder beides?

Eine weitere systematische Frage steht zur Debatte, wenn das Technische Können (TK) auch von der ökonomischen Seite betrachtet wird (Ökonomisches Können, ÖK). Gemeint ist im engeren Sinne die Finanzierung des Technischen Könnens (TK).

Was gilt? Einmal ist Technisches Können (TK) und Ökonomisches Können (ÖK) zusammenfassbar (TK UND ÖK) und wir sprechen von einem umfassenden Technischen Können (UTK). Oder aber wir sagen: TK impliziert (→) ÖK, das heißt aber auch: Wenn kein Ökonomisches Können (z.B. keine Finanzierung), dann auch kein Technisches Können. Eine dritte Variante wäre das ÖK ganz außen vorzulassen, weil man sagen kann, wir sind finanziert. Ähnliches gilt für das wichtige Medizinische Können (MeK), das heute stark technisierte ist. Ohne Gerätemedizin läuft heute fast nichts mehr. Anlagern (UND) oder Implizieren (→), das ist hier die Frage. Man kann vom logischen Standpunkt nur sagen, dass eine Konjunktion (UND) eine wesentlich stärkere Bindung  der Glieder erzeugt als eine Implikation (→). Aus einer starken Konjunktion (UND) kann man eine schwächere Implikation (→) schon formal erschließen.

Was würde Immanuel Kant sagen, wenn er sähe, wie sein Sollen der praktischen Vernunft erweitert wurde bzw. erweitert werden muss? Es ist halt eine auch von ihm initiierte Aufklärung über uns hinweg gegangen.  Unser Können wurde gewaltig aufgeladen. Die Industrialisierung begann um 1800, als Kant starb.