– Afrika und Europa –
1. Einleitung: Das ethische Gleichgewicht eines Aristoteles
Tugenden (sprachlich abgeleitet von Tüchtigkeit) bilden das Gerüst unserer moralischen Werte, mit denen wir gut zu überleben versuchen. Das gute Leben ist unser Ziel, sagte Aristoteles schon tiefgründig. Berühmt geworden sind die vier, zentral gesehenen Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit oder Tatkraft, Besonnenheit (siehe später genauer im Europa-Abschnitt) und Klugheit). Das Mitleid, das Mitfühlen, die Empathie, um die es uns in diesen Beitrag geht, wird in der Antike als megalopsychia (gr.) oder magnanimitas (lat.) im Sinne von Großherzigkeit oder Großgesinntheit unter der Kardinaltugend „Tapferkeit oder Tatkraft“ behandelt. Es ist eine Charaktertugend, die über Gewohnheit (ethos) erworben wird. Was wir heute so unter Ethik verstehen, rangierte klassisch unter dem Begriff „Gewohnheit“. Aristoteles postuliert eine Ethik des Maßhaltens. Bei den ethischen Tugenden gilt es, die richtige Mitte (mesotes) zwischen Übermaß und Mangel zu treffen. Ein Übermaß wie auch ein Mangel stellt eine Verfehlung dar. Tapferkeit (Tatkraft) als die richtige Mitte wird verlangt und nicht Feigheit als Mangel oder Tollkühnheit als Übermaß. Im Sinne der Empathie oder des Mitleids heißt ein Mangel Gleichgültigkeit. Im Übermaß führt Mitleid zu einem Reaktionsschaden. Es erzeugt Abscheu oder Aversionen, was als doppeltes Leid angesehen werden kann. Ein evangelischer Pfarrer erzählte mir einmal, er führe nicht mehr nach Indien, weil er das Elend nicht mehr sehen könne (Abscheu). Es übersteige auch seine Fähigkeiten bei weitem. „Look at the prevailing forces, and you respond with aversion” hat mir mal ein Amerikaner im gleichen Sinne gesagt.
Tugenden werden philosophisch wie eine Medizin gesehen. „ Dosis facit venenum“ oder „Die Dosis macht das Gift“ (Paracelsus, 1493-1541). Von Paracelsus bis zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles ist es, so gesehen, kein weiter Weg. Es waren Schopenhauer und Nietzsche, die sich in der deutschen Literatur am intensivsten mit „Mitleid“ als Begriff auseinander gesetzt haben, was auch ausgiebig im neuen Buch von Fritz Breithaupt „Die dunklen Seiten der Empathie“ (Suhrkamp 2017) behandelt wird. Frau Merkels „Wir schaffen das“ wird auch ausgiebig behandelt (S.140 ff).
Das zentrale Problem ist immer ein Gleichgewicht, eine Metapher aus der technischen Mechanik. Gleichgewicht herrscht an einem starren Körper, wenn sich die Summe aller auf ihn wirkenden Kräfte in allen Richtungen und die Summe aller wirkenden Drehmomente zu Null addieren. Man unterscheidet ein stabiles, ein indifferentes und ein labiles Gleichgewicht, je nachdem ob, bildlich gesprochen, eine Kugel in einer parabolischen Vase, auf einer flachen Ebene oder auf dem Gipfel eines Zuckerhutes liegt. Im ethischen Sinne hofft man immer auf ein stabiles Gleichgewicht (Kugel in Vase). Verschwindet das stabile Gleichgewicht, kann sich die Kugel bewegen. Wohin? Ja, das ist die Frage. Antwort: Indifferent, oder stürzt sie dann irgendwohin. So sagt es das mechanische Modell.
Literarisch ist das stabile Gleichgewicht von geringem Interesse. Es fehlt die Spannung. Die Indifferenz und die Instabilität sind hingegen von hoher Attraktion, weil Fragen gestellt werden können. Das ist wie im Kino und in der großen Politik. Nur brave, ausgewogene Leute langweilen, und keiner geht hin. Schurken werden verlangt, die Abscheu erregen und Spannung erzeugen (man nennt das heute „fun“).
2. Afrika: „Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu“
Hans Christoph Buch (* 1944) ist ein deutscher Schriftsteller mit einer beachtlichen Afrika-Erfahrung. Er hat sich ausgiebig mit Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), dem bedeutendsten deutschen Literaturkritiker auseinandergesetzt, was besonders auch von dem heute noch bekannten „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) herausgestellt wurde. Bei seinen Untersuchungen hat Hans Christoph Buch die kritische Schrift Lessings „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ ausgiebig studiert und hier den für Afrika geltenden Grundgedanken gefunden: „Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu“. Es ist erstaunlich bei Hans Christoph Buch: Aus der Kunstkritik des Gotthold Ephraim Lessings erwächst eine hochaktuelle politische Kritik, die uns in die Knochen fährt. Ob die Kirchen das registrieren?
Wir skizzieren kurz den Gedankengang und zeigen unten im Bild die weltberühmte antike Skulptur. Das Thema „Laokoon“ wurde von Virgil dichterisch verarbeitet.
Bild1 : Die Laokoon-Gruppe
Lessing stellt in seinem Essay die Möglichkeiten der Bildhauerei mit ihrem klassischen Ideal des Schönen („edle Einfalt, stille Größe“) den Möglichkeiten der Dichtkunst gegenüber. Die Dichtkunst kann in Lessings Sicht drastisch und grausam sein, viel wirklichkeitsnäher, rudimentärer als die formenverpflichtete Bildhauerei.
In der Zeitschrift „Cicero“ lesen wir von Hans Christoph Buch:
„Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu – so lautet der Grundgedanke von Lessings «Laokoon»“. Es wird dann Lessing im Original zitiert:
„Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf und urteile. Man lasse ihn schreien und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine hässliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne dass die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann“ ( Lessings Laokoon, Reclam, S.23).
Ausweglosigkeit, das heißt philosophisch hier: Wir sind in einer afrikanischen „Aporie“. Man weiß nicht weiter, obwohl die Zeit weitergeht und nicht zu Ende ist. Philosophisch gibt es zwei Möglichkeiten: Man probiert im Sokratischen Sinne einen Neuanfang oder man enthält sich eines Urteils und lässt die Sache liegen. Das bedeutet „Weltverlust“, der nicht endgültig zu sein braucht (Epoche). Ein Neuanfang ist schon vor Jahren vorgeschlagen worden. Der Neuanfang heißt „Patenmodell“. Europa und Nordamerika übernehmen danach Patenschaften für afrikanische Länder in väterlicher, nicht in kolonialer Absicht. Durch die koloniale Vergangenheit ist dieses Modell psychologisch stark vorbelastet. Immerhin: Die Kinder eines Vaters sind minorenn, für eine Übergangzeit in gewissen Grenzen unmündig. Das muss so sein, weil ein Erziehungsprozess stattfindet. Ein Erziehungsprozess, das wäre der Neuanfang aus der Aporie im Sokratischen Sinne.
In der Zeitung Die WELT schrieb Hans Christoph Buch am 30.08.1017 einen offenen Brief an den Herrn Bundespräsidenten Steinmeier mit dem Thema „Afrikas hausgemachtes Elend“. Seine Feststellung „Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu“ steht im Brief an zentraler Stelle. Die Frage bleibt offen, wie man marodierende Warlords, Terroristen und Glaubensfanatikern, die Afrika auch in korruptiver Absicht ruinieren, beseitigen kann. Eine Ausbildung zur Lebensfähigkeit, die die Menschen in die Höhe bringt, ist gefragt. Vorschläge auch außerhalb des Patenmodells sind dringend erbeten. Zu bedenken ist, dass eine normale Entwicklungshilfe unwirksam ist und deshalb gar nicht erst vorgeschlagen zu werden braucht.
Wie Wikipedia unter Empathie sehr präzise feststellt, ist die Basis immer Selbstwahrnehmung. Eigentlich trivial. Denn wie soll ich das Leid anderer empfinden, wenn ich mich nicht selbst als Projektionsfläche erkenne.
„Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern“ (2011) heißt das Werk von Hans Christoph Buch. Wer die Zuschauer sind, ist nicht schwer zu erraten. Das Buch ist sehr eindrucksvoll und lesenswert. Bei Politikern scheint Herr Buch unbeliebt zu sein, wie er selbst berichtet. Politiker sehen eben nur den Laokoon der Bildhauer, nicht den der Dichter, die ihn schreien lassen.
3. Das unbesonnene Europa wankt: Der Flüchtlingsansturm
Hans-Ulrich Jörges vom Stern prophezeite schon vor Jahren (2015) „ Der Flüchtlingsstrom wird Europa zerlegen“. Und siehe da, das Zerlegen passiert tatsächlich. Oder philosophisch gefragt: Welche der Tugenden gerät in Europa deutlich ins Ungleichgewicht? Antwort: Es ist sicherlich die Kardinaltugend der „Besonnenheit“. Es ist eine ganze wichtige der vier Tugenden. Denn: Was hilft einem die Tatkraft, die Gerechtigkeit und die Klugheit, wenn sie unbesonnen ausgeübt werden.
Im Übermaß führt die Tugend der Besonnenheit zur „Karikatur des Bedenkenträgers. Jeder Beschluss wird durch neue Bedenken verzögert“, ist im Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie von Paul Lorenzen auf Seite 252 nachzulesen. „Ohne Besonnenheit handelt der Politiker aber bedenkenlos“, ist auf Seite 252 weiter zu lesen. Der gute Politiker im Sinne der Kardinaltugend „Besonnenheit“ liegt im stabilen Gleichgewicht zwischen dem Bedenkenträger und dem Bedenkenlosen. Wo liegt Frau Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“? Keine Frage. Sie war bedenkenlos und sah nicht die unkontrollierte Menge an Flüchtlingen im Lande, die auch schon wegen ihres mäßigen Ausbildungsstandes jenseits der Transfergelder nicht in Arbeit und Brot gebracht werden können. Es dauert nach dem OECD-Bericht „Nach der Flucht: Der Weg in die Arbeit“ (2017) 10-15 Jahre bis das Niveau der im Inland geborenen Bevölkerung erreicht wird. Eine Besonnenheit, eine „temperantia“ sieht anders aus. Ob Frau Merkel das weiß? Zugeben tut sie es nicht. Sie sagt bloß, dass sich 2015 nicht wiederholen darf. Ist das ein indirektes Eingeständnis ihrer Unbesonnenheit?
Deutschland ist bei weitem nicht Europa im Sinne der EU, und will und soll es auch gar nicht sein. Hans Jürgen Jörges Wort, dass der Flüchtlingsstrom Europa zerlegt, kann leicht nachgewiesen werden. Europa ist mental völlig unvorbereitet und hechelt hinterher. Ein Unvorbereiteter handelt in der Regel unbesonnen und hektisch. Er hat nicht nachgedacht. Das ist sein Problem.