Beschreibung von Pandemien

1) Der Ahnherr Gustav Kirchhoff

Gustav Robert Kirchhoff (1824-1887), mit dessen berühmten Kirchhoffschen  Regeln wir schon im Physikunterricht konfrontiert wurden, ist für uns insofern ein Ahnherr, als er eine Beschreibungstheorie einer klassischen Erklärungstheorie entgegenstellte. Kirchhoff wollte nicht mit Gesetzen Ursache-Wirkungszusammenhänge erklären. Er wollte beschreiben. Wir würden heute sagen, er wollte Modelle bilden. In dem schönen Aufsatz von R. Kötter und R. Inhetveen (1996) mit dem Titel „Beschreibungen in den Kultur-und Naturwissenschaften“ wird Kirchhoff wörtlich zitiert:

Aus diesem Grund stelle ich es als die Aufgabe der Mechanik hin, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste  Weise zu beschreiben. Ich will damit sagen, dass es sich nur darum handeln soll, anzugeben, welches die Erscheinungen sind, die stattfinden, nicht aber darum, ihre Ursachen zu ermitteln (G. Kirchhoff, Vorlesung über mathematische Physik, Bd. I, Leipzig 1876).“ Der Band I ist auch online verfügbar.

Kirchhoffs Jünger (WGIK 99) sprechen heute von Modellbildung und sehen diese als etwas ganz Wesentliches an. Modelle (Beschreibungen, Deskriptionen) sind für die Jünger wie Landkarten in einer unbekannten Landschaft, in der man sich ohne sie nur verirren kann. Die Bevölkerung  kann kein Kartenlesen, und revoltiert manchmal gegen den eigenen Unverstand. Es beginnt dann auch das Lamento über den Bildungsmangel. Man verzweifelt in den Fernsehprogrammen, schon am einfachen Begriff „Reproduktionsfaktor“, obwohl das allgemeine Thema alle angeht.

Wir befassen uns exemplarisch mit dem bekannten SEIR-Modell und nehmen uns vor,  demnächst auch den  Agent-Based Models zu behandeln. Siehe in Sachen Corona  die Arbeiten aus Hohenheim. Das SEIR-Modell ist aber grundlegend in der epidemiologischen Begriffsbildung. Wir verweisen an dieser Stelle schon auf unseren  Erlanger Kollegen  Reinhard German  und seine Arbeit. Er hat mit seinen Kollegen  zu   beiden Modellgattungen  intensiv geforscht. Auf Anfrage hat er mir erlaubt, seine  bisher nur als  Preprint (April 2020) erschienene Arbeit, die im Netz schon verfügbar ist, zitieren zu dürfen.

2) Das SEIR- Modell

Susceptible (anfällig)  S,

Exposed (exponiert)    E,

Infectious (infektiös)    I,

Recovered (erholt)     R.

Bild 1:  Zustände einer Epidemie und ihre Übergänge, aus:  SEIR and SEIRS models

Das SEIR-Modell , sehr schön in Wikipedia beschrieben, lässt sich am besten als Zustands-Übergangsdiagramm (Bild1) darstellen. Zu Anfang eines epidemischen Durchlaufs bin ich im Zustand „anfällig“ oder S Susceptible“. In S  sind wir alle am Beginn einer Epidemie, alle in einer Population N (= 83 Millionen in Deutschland). Die Bevölkerungsgruppe S, die Anfälligen, geht mit einer gewissen Übergangsrate β in den Zustand EExposed“ (ausgesetzt, exponiert) über. Die in Gruppe E sollten möglichst schnell in die Quarantäne geschickt werden. Nach Ablauf einer Latenzzeit (Verzögerungszeit) kommt dann  mit einer Rate σ heraus, ob ich mich angesteckt habe oder nicht. Habe ich mich angesteckt, bin ich im Zustand I Infectious“. Mit einer Rate γ kann ich nach einem Test als geheilt gelten und wandere in den Zustand RRecovered“ (erholt).  Die Wiederansteckbarkeit mit der Rate ξ und die Rückführung auf den Zustand  S ist im Falle der Corona-Epidemie noch in der Diskussion. Ich selbst habe als Kind zweimal Masern gehabt, 1943 und 1947. Die Masern sind also wiederansteckbar, in seltenen Fällen.

Rein in den Schlamassel gerate ich mit der Rate β, heraus komme ich mit der Rate γ.

Das Verhältnis:  R0 = β / γ (oder „Rein“ dividiert durch „Raus“)

ist die bekannte  Basisreproduktionszahl, von der im Fernsehen  als Variable dauernd berichtet wird. In S E I R von Wikipedia wird R0 sehr schön abgeleitet (Seite 3). R0 < 1 bedeutet, dass mehr „Raus“ gehen als „Rein“, ein anzustrebender Zustand. Wehe es geschieht, dass  in einer zweiten Welle  R0 > 1 wird. Dann hat man mehr „Rein“ als „Raus“ und die Epidemie ist nicht mehr im Griff. Das müsste doch eigentlich jeder verstehen, auch mit mäßiger Schulbildung. Demonstrationen sind entbehrlich.

S E I R sind relative Zahlen, relativ in Bezug auf die Gesamtpopulation N, deren Individuen  sich in einem der vier Zustände befinden. Das heißt:

S + E + I + R  = 1  (relativ)   und

NS + NE + NI  + NR  = N  (absolut)

Das sind vier Bevölkerungsgruppen, die epidemiologisch zur Debatte stehen. S=1 ist ein Idealzustand (epidemiefrei), weil  dann E, I, R = 0 sind.

Wichtig ist nun, die zeitlichen Verläufe von S, E, I und R zu kennen. Man bezeichnet die Verläufe mit S (t), E(t), I(t) und R(t) und meint damit das dynamische Geschehen  der Epidemie in der Bevölkerung. Man benötigt  z.B. den Differentialquotienten dS / dt, also Änderungstendenz dS  und Änderungsstrecke dt, was dem Steigmaß (Veränderungsmaß) an der Kurve S(t) entspricht.

Wo man in der Literatur  über SEIR hinschaut, es werden einem  vier Differentialgleichungen (DGL) als System  präsentiert, die wir unten wiedergeben, ohne Kommentar. Denn wir wollen beim Leser keine  Kenntnisse in der höheren Mathematik voraussetzen. Der Leser sei auf die Literatur z.B. SEIR and SEIRS models  verwiesen. Für uns ist es hier nur wichtig herauszustellen, dass Differentialgleichungen (DGL) ein bedeutungsvolles Hilfsmittel in der dynamischen Beschreibung naturwissenschaftlicher,  ökonomischer und biologischer  Zusammenhänge sind. Ob man Mathematik mag oder nicht, ist unerheblich.

In SEIR  wird sogar beispielhaft eine Lösung dieses Gleichungssystem vorgeschlagen, wobei die Daten von COVID -19 2020 für Deutschland zur Grundlage gemacht wurden. Man nimmt bei der Ausbreitung der Epidemie die Basisreproduktionszahl R0 = 2,4 an, was einer Unterlassung wesentlicher Quarantäne-Maßnahmen entspricht.

Die vier Anteile, jeweils abhängig von der Zeit in Tagen.
S in Blau, E in Gelb gestrichelt, I in Magenta, R in Grün gestrichelt.

Bild 2:  Zeitlicher Verlauf der Komponenten, aus SEIR Seite 9

 

Die Kurve für I (Magenta), die Kurve  der  Infizierten,  erreicht nach 60 Tagen eine Kulmination von rund  0,1 oder 10 % der Bevölkerung von 83 Millionen, das sind rund 8 Millionen Patienten. Die Kapazität in deutschen Kliniken für Qurantäne-Patienten wäre vollkommen überfordert.

 

Wir haben uns nur mit dem SEIR als Standard-Modell befasst. Eine wesentliche Erweiterung von SEIR ist in der Arbeit vom Kollegen German zu finden (siehe insbesondere Figure 1). Unser Anliegen war ein exemplarisches Beschreiben im Sinne von Gustav Kirchhoff.

7 Kommentare zu „Beschreibung von Pandemien

  1. Interessante und plausible Erläuterung zum Epedemiegeschehen.
    Ich vermisse als Laie aber im SEIR-Modell einen Abzweig für die Toten (als Differenz zwischen I und R ?) , damit das ganze Gleichungssystem wie in einem Strömungsmodell auch aufgeht.

    1. Eine Erweiterung des SEIR-Modells mit Toten findet man in der zitierten Arbeit von German. Siehe in dieser Arbeit z.B. „Figure1“. Für eine Behandlung eines erweiterten SEIR-Modells ist ein Blog ungeeignet, weil viel zu kompliziert. Das ist die Angelegenheit eines wissenschaftlichen Artikels. Ein Blog ist ja nur so etwas wie eine Zeitung und fordert zur Bescheidenheit auf, weil der Leserkreis keine spezifische Vorbildung haben kann.

      Ihr
      Hartmut Wedekind

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