Digitalisierung aus anthropologischer Sicht

1) Anthropologie

Das Generalthema  unseres Blogs lautet: Unsere Zeit in Gedanken fassen (Hegel). Bei der Übergewichtigkeit des Themas “Digitalisierung“  in unserer Zeit bleibt die Konsequenz nicht aus,  dass das Thema wiederholt, wieder und wieder zur Sprache kommt. Das mag langweilen. Sollte es auch, wenn es sich um einen Hype handeln würde. Sind ähnliche Worte wie „Rationalisierung“ oder „Automatisierung“ in der Nachkriegszeit etwa auch Hypes gewesen? Offensichtlich nicht. Sie waren dauerhaft. Und das vermuten wir auch für den Begriff „Digitalisierung“. Diesmal geben wir dem Begriff einen philosophischen Touch, weil wir das Phänomen anthropologisch  betrachten wollen.  Anthropologie , die Wissenschaft vom Menschen, wurde in der Philosophie in aufklärerischer Absicht  erst wieder  thematisiert, seit Immanuel Kant (1724-1804)  die Frage stellte: Was ist der Mensch?. Das ist Kants berühmte vierte Frage. Wir meinen also  hier nicht irgendeine Anthropologie, sondern eine Philosophische Anthropologie.

2)  Ein anthropologischer Höhepunkt in der Moderne:

Ernst Cassirer  (1874-1945) und seine Philosophie der symbolischen Formen.

Der Kaufmannssohn Ernst Cassirer aus Breslau  erlebte nach einer beachtlichen akademischen Philosophen-Karriere ein typisch jüdisches Schicksal nach 1933. Er musste fliehen, um sein Leben zu retten,  und landete  schließlich über Schweden in den USA, wo er an der Yale University eine Professur annahm, um dann kurz vor seinem Tode an die Columbia University in New York zu wechseln.  Cassirer verstarb an einen Herzanfall. Er soll in einer  New Yorker Hotelhalle als 71-Jähriger  wie ein Baum umgefallen sein. Von Philosophen wird Cassirer als Neu-Kantianer eingestuft.

Sein großes, dreiteiliges Werk, das ihn bekannt gemacht hat, entstand in der Weimarer Zeit zwischen 1923 und 1929. Es ist die ungeheuer reichhaltige      „ Philosophie der symbolischen Formen“. Ein Glück für philosophische  Laien ist, dass es auch eine  prägnante Zusammenfassung gibt. Es ist das Buch      „ An Essay on Man“ (Ein Versuch über den Menschen) von 1944, das er als Yale-Professor  auf Englisch im Exil geschrieben hat. Man liest das Werk am besten auf Englisch. Die deutschen Übersetzungen lassen an Qualität zu wünschen übrig, so dass man sich besser auf das englische Original bezieht. Cassirer’s letztes Werk „The Myth of the State“ erschien 1946 posthum. Es ist ein Versuch, die intellektuellen Grundlagen von Nazi- Deutschland zu verstehen.

Das Eingangskapitel in „ An Essay on Man“  lautet: „A  Clue to the Nature of Man: the Symbol“ (Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen: Das Symbol). Und am Ende dieses Kapitels steht dann die  berühmte Formel vom Menschen als „animal symbolicum“ als eine wichtige Ergänzung zu den anderen Definitionen vom Menschen (animal rationale, homo ludens, zoon politicon, etc.). Es war unser früherer Erlanger  Kollege Oswald Schwemmer, der den Begriff der Dimensionalität im Denken Cassirers eingeführt hat.  Er unterscheidet die Dimensionen „Sprache“, „Kunst“, „Religion“, „Mythos“ und „Wissenschaft“, wobei „Sprache“ wohl als die wichtigste Dimension angesehen werden kann. Der „ Sprache“ widmet Cassirer seinen ganzen ersten Band (1923). Im „ An Essay on Man“ (1944) steht der Satz (Seite 25)  „Instead of dealing with the things  themselves  man is in a sense constantly conversing with himself” (Der Mensch unterhält sich ständig mit sich selbst). Wenn das so ist, ja dann setzt das klassische „animal rationale“   ein   „animal symbolicum“ voraus. Symbole sind Zeichen, die Sinn machen, und der Mensch ist ein zeichenerzeugendes und ein zeichenverwendendes Lebewesen. Der Mensch dialogisiert permanente mit sich selbst, meint Kuno Lorenz in seiner „Einführung in der philosophischen Anthropologie (1990)“ auf Seite 18 in Anlehnung an Ernst Cassirer, und man darf in seinem Sinne den dialogischen Grundtatbestand unseres Lebens  nicht unterschlagen, was aber häufig geschieht. Sehr prägnant schreibt Cassirer dann auf Seite 68 in  seinem “ An Essay on Man”:

„Man’s outstanding characteristic, his distinguishing mark, is not his metaphysical or physical nature, but his work. It is this work, it is the system of human activities, which defines and determines the circle of ‘humanities’. Language, myth, religion, art, science, history, are the constituents, the various sectors of this circle.”

In einer Übersetzung ins Deutsche (2007)  von Reinhard Kaiser (Felix Meiner Verlag) wird an dieser Stelle statt von einem „symbolic system“ im Original  vorausseilend schon  von einem „Symbolnetz“ gesprochen. Ob Kaiser  an das Internet dachte, was tatsächlich ein Symbolnetz ist?Bild 1. Aus Wikipedia :  „Symbolische Formen. Veranschaulichung in Form einer Rosette. Cassirer selbst hat keinen festen Kanon symbolischer Formen festgelegt, seine Aufzählungen schwanken, so nimmt er an einigen Stellen zum Beispiel auch Geschichte und Ethik hinzu.“

Ich bin mir ziemlich sicher: Würde  Cassirer heute im Zeitalter der Digitalisierung  noch leben – manchmal spricht man auch von  einer Zeit der  symbolischen Künstlichen Intelligenz -, ja dann müsste die Rosette in Bild 1 um ein Blatt erweitert werden.  Das Blatt trägt dann die Beschriftung              „A u t o m a t“, den der Mensch mit symbolischen Mitteln schafft.

3) Der „Automat“  als Dimension in einer erweiterten Anthropologie Ernst Cassirers

Bild 2: „Automat“ als Realisation eines  symbolischen Schemas

Der Mensch verfügt über eine symbolische Intelligenz, d.h., er kann seinen Verstand und seine Vernunft  beim Erzeugen und Verwenden von Symbolen gebrauchen. Der Mensch verfügt ferner in einem Teilbereich  über eine schematisierende symbolische Intelligenz, d.h., er kann verallgemeinernd, generisch denken. Denken ist auch ein Handeln. Nach Kuno Lorenz kann eine menschliche Handlung als etwas Einzelnes (Singulares; single act) erzeugt werden (to perform). Der Mensch kann  eine Handlung aber auch als etwas Allgemeines (Universales, generic action), als Schema erkennen (to recognize), so steht es in seiner „philosophischen Anthropologie“ (1990) auf Seite 113. Der  Mensch kann auf dem Wege zum Automaten ein symbolisches Schema verselbstständigen, was der griechischen Wurzel des Wortes „Automat“ entspricht. Er bildet ein „symbolisches Schema“, das er in einem Gerät realisiert. Ein Automat ist so gesehen ein schematisch arbeitendes, selbstständiges Gerät.

Das Wort „schematisch“ hat im täglichen Leben eine vielschichtige Bedeutung erlangt, pejorativ (abwertend) wie auch  positiv. Der Mensch in seiner Widersprüchlichkeit verachtet den Automaten und die Digitalisierung  und  er bewundert sie  gleichzeitig. Das  Verb  „schematisieren“ hingegen hat im täglichen Leben durchweg eine positive Bedeutung. Das sind  aber  empirische Sprachverwendungen, die sich von heute auf morgen ändern können.

„Digitalisierung“ als Begriff ist von philosophischem Rang, ein Rang der deutlich über dem politischen steht. Das sollte mal im heutigen „Digitalgetöse“, in dem wir leben, gesagt werden. Getöse nennt man heutzutage auch „Hype“.