1) Der Wahrspruch von Edward Deming
„Elster-Chaos“ ist ein Begriff, der angesichts der Einführung einer neuen Grundsteuer durch die Presse wandert. Eine neue Grundsteuer wird vom Bundesverfassungsgericht (BVG) aus Gründen einer höheren Gerechtigkeit verlangt und tangiert also unmittelbar den Fiskus, das ist der Staat als Wirtschaftssubjekt. Vom 01. Juli 2022 bis zum 31. Oktober 2022 können Bürger mit Immobilieneigentum eine Erklärung zu ihrer Grundsteuer abgeben, damit sie dann anschließend zur Grundsteuer veranlagt werden können. Elster als Akronym für „Elektronische Steuererklärung“ ist ein Softwaresystem des Fiskus zur Abwicklung von Steuererklärungen und Steueranmeldungen im Internet.
Unsere Frage ist: Wie konnte es zu dem in der Presse beklagten Chaos kommen? Unsere Antwort ist ganz einfach: Man kann beim Fiskus im digitalen Zeitalter nicht in Prozessen denken, wie dieses Denken z. B. in unserem Blog mit dem prozessgesteuerter Ansatz (PDA, process driven approach) von Volker Stiehl beschrieben wird.
Und es gilt der Wahrspruch:
„If you can’t describe what you are doing as a process, you don’t know what you are doing“,
oder schlicht auf Deutsch: “ Wenn du, was du tust, nicht als Prozess beschreiben kannst, dann weißt du nicht, was du tust”. Das klingt hart und deutlich. Der Satz stammt vom sehr bekannten Amerikanischen Wissenschaftler Edwards Deming (1900- 1993). Er war ein Pionier auf dem Gebiete der Statistischen Qualitätskontrolle nebst Prozessführung und ein herausragender Forscher in Sachen „Verbesserung einer Arbeitsproduktivität“. Deming studierte auch beim berühmten englischer Statistiker Ronald Fisher (1890-1962) in Cambridge, dessen F-Test heute in jedem Statistik-Unterricht vorkommen sollte. Es gab eine herausragende englisch-amerikanische Statistik-Tradition, von der wir in Deutschland durch den 2. Weltkrieg völlig abgehängt wurden. Wir mussten in Sachen Statistik und Prozesskontrolle nach dem Kriege mächtig aufholen. Und manchmal hat man den Eindruck, das ist uns bis heute noch nicht gelungen.
2) Skizze eines Prozesses „Einführung einer Grundsteuer“
Die Einführung einer neuen Grundsteuer ist ein Prozess, der vordruck-zentrisch angelegt ist. Es handelt sich um einen Massenprozess (bulk process) als eine Länderangelegenheit. Laut Ifo Institut werden in Deutschland rund 35 Millionen Erklärungen fällig. Vordrucke stehen im Mittelpunkt. Ein Vordruck ist ein Formular und somit ein Schema, das nach Ausprägungen (instances) verlangt. Statt Ausprägung sagt man auch Ausfüllung, weil die Lücken im Formular geschlossen werden sollen. 35 Millionen „instances“, das ist nicht gerade wenig und berührt jeden Prozessentwerfer zutiefst. Ungestaffelt (untiered) oder ungestuft geht so etwas sowieso nicht. Das ist trivial.
Wir können drei Phasen im Prozess feststellen:
- Vordruckentwurf
- Vordruckausfüllen
- Vordruck speichern
a) Der Vordruckentwurf ist ein Schwergeschäft, muss man doch eine Formularbeschreibung unserer Immobilienwelt abliefern. Das ist ein Modell unserer Immobilienwelt. Orientieren kann man sich dabei an den Lehren des klassischen Formularentwurfs. Der geht top-down vor sich. Man beginnt mit einem Rahmen als Obersegment und verfeinert diesen durch ineinander Schachteln weiterer Untersegmente Das nennt man ein „stepwise refinement“. Das Ende der Fahnenstange ist erreicht, wenn über einzelnen Felder als Vordruck-Zelle geredet werden kann. Über Form und Farbe und auch über Datentypen muss auch entschieden werden.
Dem hessischen Bürger, der zum Ausfüllen eines Vordrucks ab dem 1. Juli 2022 verpflichtet ist, stehen keine Vordrucke zur Verfügung. Das ist chaotisch, hat aber mit Elster nichts zu tun, das ist Chaos beim prozessfeindlichen Fiskus.
b) Das Vordruckausfüllen obliegt dem Steuerbürger. Grundvoraussetzung ist, dass die Grundgesamtheit von 35 Millionen Einheiten aufgegliedert wird, so dass handhabbare Größenordnungen entstehen. Ein Überlastungschaos des Netzes kann so vermieden werden.
c) Das Abspeichern der Vordrucke ist auch in Massen ein klassisches Geschäft. Es stehen hochmoderne Datenbanksysteme zur Verfügung, die am Ende des Prozesses aufzusuchen sind.
Lieber Prof. Wedekind,
wieder ein wunderbarer Blog-Beitrag, in dem Sie den Finger zu Recht einmal mehr in die Wunde legen. Egal ob Flüchtlingswelle oder Corona – wir bekommen es prozesstechnisch offensichtlich nicht mehr gebacken. Wie traurig, obwohl die Lösung so naheliegt. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir machen weiter!
Herzliche Grüße,
Ihr Volker Stiehl
Das „Elster-Chaos“ ist nicht nur auf den Mangel an Prozessverständnis zurückzuführen. Sicherlich ist dies eine Ursache. Das Chaos ist jedoch vielschichtiger.
Im engeren Sinne sollte hier eine relativ einfache Aufgabe vorliegen, das Ziel „Grundsteuerreform“ und der Lösungsweg „Bemessung der Grundstückswerte“ ist bekannt. Das ist aber leider nur oberflächlich betrachtet.
Wie bereits festgestellt, ist das Prozessverständnis, „Bemessung der Grundstückswerte“ mangelhaft durchdrungen, ganz zu schweigen von einer dilettantischen Implementierung in Form des „Elster-Prozesses“. Ist der jedoch der Prozess unklar liegt ein machbares und überschaubares Lösungsproblem vor. Mit etwas Verstand und technischen Know-how ist dies lösbar.
Leider liegt aber auch ein Klärungsproblem vor, denn auch das Ziel der Reform ist noch im „Nebel“. Welches Ziel soll erreicht werden, es geht um eine „gerechtere“ Bewertung der Grundstücke, aus der sich dann die zukünftige Besteuerung ableiten soll. Diese ist jedoch bis jetzt intransparent gehalten. Es ist nicht geklärt, wie und welche Parameter in eine Bewertung einfließen. Die Dynamik, dass sich auch Grundstückswerte über die Zeit verändern, findet sowieso keine Berücksichtigung.
Wenn jedoch der Lösungsweg und das Ziel nicht klar sind, dann liegt eine „Krise“ vor. Dies ist bei dem „Elster-Chaos“ gegeben. Hier ist bereits das Ziel verschwommen. Aus meiner Sicht liegt damit die Ursache für das Elster-Chaos noch tiefer. Der Mangel im Prozess ist symptomatisch für das Herumirren in der Zielfindung.
Dass eine Systemüberlastung durch eine zu hohe Benutzerfrequenz eintritt, zeigt nur dass selbst die Betriebsgrundlagen von IT-gesteuerten Prozessen von den Projektverantwortlichen nicht beherrscht werden.
Der öffentlichen Verwaltung sind alle Grundstücksdaten bekannt, wenn auch vielleicht in ihren IT-Systemen verstreut. Weshalb kann dann nicht die Umstellung auf eine neue Bewertung der Grundstücke zentral erfolgen? Die Unfähigkeit der Bürokratie ihre eigenen Prozesse im Sinne einer Lösungsorientierung zu ordnen, legt die „Digitalisierungs-Krise“ der öffentlichen Verwaltung radikal offen. Es wird eine an sich triviale (Teil-)Aufgabe „Erfassung der Grundstücke“ in Form eines inadäquaten „Elster-Prozess“ an die Bürger delegiert. IT-technisch befindet sich die öffentliche Verwaltung in den 80iger Jahren, des letzten Jahrhunderts.
Lieber Herr Steinbauer,
Sie haben ja so recht. Sie zeigen den trostlisen Zustand unsere Finanzverwaltung auf. Und das oberste Gericht verlangt etwas, was der Apparat gar nicht leisten kann. „Ultra posse nemo obligatur“ heißt der bekannte Juristenspruch, oder „Über seine Fähigkeiten hinaus darf niemand beansprucht werden“. Und schon sieht auch das Verfassungsgericht alt aus.
Ihr
H.Wedekind
Man müsste das Ausfüllen als Prozess-gesteuerte Anwendung auffassen und den Ausfüllprozess mit BPMN 2.0 modellieren und dann ausführen – das Ausfüllen steuern.