– Ein Brief an meinen syrischen Freund Achmed –
Lieber Achmed,
Es ist bald zwei Jahre her, dass wir uns kennen gelernt haben. Du bist 2014 schon vor dem großen Strom auf abenteuerlichem Wege zu uns gekommen. Dein Bruder kam dann im großen Strom nach und wohnt jetzt bei Dir. Deine Schwester wohnt in Belgien. Du bist im Deutschen in einem C2-Kurs mittlerweile so gut, dass Du diesen Brief mit Leichtigkeit verstehst. Du kannst ja schon komplizierte Zusammenhänge frei formulieren. Wie Du mir kürzlich in unserem arabischen Restaurant beim Abendessen die Geschichte der Kalifen vorgetragen hast, hat mich in Erstaunen versetzt. Die Kalifen sind die Nachfolger Mohammeds und somit die religiös-politischen Führer des Islams. Sogar der letzte osmanische Kalif in Istanbul, Abdülmecit II. (bis 1924), wurde von Dir erwähnt. Wie ein richtiger Gelehrter aus dem Morgenland! Und das mit 27 Jahren! Unsere Nachbarn im Restaurant hörten alle aufmerksam zu und waren beeindruckt. Kalifen, das waren bei uns früher die Kaiser und Könige im Gottesgnadentum, heute völlig verstaubt, unredlich und überhöht. Sich z.B. per Erbfolge die Gnade Gottes anzumaßen, das war schon ein starkes Stück an Dreistigkeit und ein ungerechtfertigter Machtanspruch unfähiger Potentaten. Dem wurde aber dann „Gott sei Dank“ ein Ende gesetzt. Das Gottesgnadentum in Europa ist vollständig in der Versenkung verschwunden. In England auch? Die Königin von England ist (immer noch) Oberhaupt der englischen Kirche, ein Relikt aus der Vergangenheit. England ist eben antiquiert. „But the British, they like it”, und die Regenbogenpresse auch. „Britain is not Europe”. Die Queen ist eine liebe Showeinlage, mehr nicht. Kein Gottesgnadentum umweht ihr Haupt mehr. Politisch hat die Queen nichts mehr zu sagen. Sie wird nur noch höflich respektiert.
Der letzte osmanische Kalif (bis 1924) war Abdülmecit II. War es wirklich der letzte? Da schwingt sich gerade ein Recep Tayyip Erdogan auf, sein Nachfolger zu werden. Er ist noch kein Kalif in der islamischen Welt, aber die Allüren eines Kalifen hat er schon. Ich habe mit Dir im Restaurant das Thema „Was ist eine Islamische Identität?“ diskutiert. Deine verblüffend einfache Antwort war: Die islamische Identität bestimmt der Kalif.
Der „Neu-Kalif“ Erdogan hat vor seinen türkischen Landsleuten vor Jahren in Köln auf einer politischen Versammlung wörtlich behauptet: „Assimilation ist ein Verbrechen“. Wir in der westlichen Lebenswelt nennen das, was der Neu-Kalif ein Verbrechen nennt, vornehm logisch einen Widerspruch, oder wie die Engländer eine Kontradiktion. Integration, als Eingliederung verstanden, ist eine Vorform einer Assimilation. Frage: Bist Du als ein Weit-assimilierter ein Verbrecher? Ich sehe das nicht. Du bist ein menschenzugewandter, wissbegieriger junger Mann. Verbrecher sehen anders aus als Du und verhalten sich auch anders. Aber auch ich bin in den Augen des Neu-Kalifen ein Ungläubiger, eine suspekte Erscheinung, die nicht zur Umma der Muslime, zur Glaubensgemeinschaft gehört. Ich bin darüber froh und glücklich. Das ist in eines Kalifen Augen schlimm, ganz schlimm. Weit vom Verbrechen bin ich nicht entfernt. Na gut, ich muss das ertragen.
Die zentrale Frage „Sind Islamische Identität und westliche Lebenswelt kompatibel (vereinbar, verträglich miteinander) oder sind sie es nicht? Stehen beide kontradiktorisch, widersprüchlich zu einander? „Kontradiktorisch“ (sich widersprechend) ist ein sehr präziser logischer Begriff und beinhaltet folgendes: Wenn die „Islamische Identität“ wahr ist, dann ist die „westliche Lebenswelt“ falsch. Man kann das auch umgekehrt ausdrücken: „Wenn ‚westliche Welt‘ falsch ist, dann ist ‚Islamische Identität‘ wahr“. Es ist offensichtlich: So kontradiktorisch denkt der Neu-Kalif in Ankara. D.h.: Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen der Islamischen Identität und der westlichen Lebenswelt. Wir werden aber den Begriff „Islamische Identität“ noch genauer zu klären haben. Eine mögliche Gemeinsamkeit ist „leer“, wie man auch statt „falsch“ sagt. Und jetzt kommt es dick. Aus einer Kontradiktion oder aus einem Widerspruch folgt logisch Beliebiges (lateinisch: ex contradictione sequitur quodlibet). Und das beschreibt haargenau die Situation, in der wir uns befinden. Statt „beliebig“ sagt man auch im Deutschen „arbiträr“ nach dem Englischen „arbitrary“.
Nur durch konstruktives Handeln, schrittweise und zielgerichtet mit starkem Willen und Tatkraft kommen wir aus dieser misslichen, arbiträren Situation heraus. Und zu diesem Handeln sagt die Logik leider nichts, das muss uns schon selber einfallen. Aber so kommen wir von einem Kalifen zu unseren Handlungsnotwendigkeiten. Denn stünde die islamische Welt alleine im Raum, völlig separiert von der westlichen Lebenswelt, ja dann gäbe es auch keinen Widerspruch. Aber das ist illusorisch.
Man kann den Zusammenhang zwischen Islamischer Identität und westlicher Lebenswelt auch an einem Venn-Diagramm darstellen, das sogar in den Schulen gelehrt wird, auch in der arabischen Welt. „Grün ist die Farbe des Propheten“. Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Wir müssen aber noch den Begriff „Islamische Identität“ auch kalifen-unabhängig definieren (festzulegen versuchen). Aber das kommt gleich. Das Bild wird sich nicht ändern. Wir sind erstmal „neu-kalifen-hörig“, um dann genauer zu werden.
Dein großer arabischer Vorfahre Averroes (1126-1198) aus Cordoba wusste um den Begriff der Kontradiktion und den Wert der Logik. Ich lese bei Wikipedia:
„Averroes sah in der Logik die einzige Möglichkeit des Menschen, glücklich zu werden. Die Logik (nach Aristoteles) lieferte für ihn die Möglichkeit, aus den Daten der Sinne zur Erkenntnis der Wahrheit zu kommen. Die Logik war für ihn das Gesetz des Denkens und der Wahrheit.“
Der arme Averroes geriet mit der Islamischen Identität, die von Logik offensichtlich nichts hielt, auch in Widerspruch, in die Kontradiktion. Der Satz lautete: „Wenn die Islamische Identität wahr ist, dann sind Averroes und seine Lehren falsch“ und umgekehrt: „Wenn die Lehren des Averroes falsch sind, dann ist die Islamische Identität wahr“.
Die Konsequenz: Averroes wurde 1195 aus Cordoba nach Marrakesch verbannt, wo er auch starb. Seit 1195, so genau weiß man das, ging es mit der islamischen Wissenschaft bergab. Die Wissenschaft des Averroes wanderte zu uns, aus dem Arabischen übersetzt, zum Thomas von Aquin ins Zentraleuropäische. Nach Aristoteles mit dem berühmten griechischen Dreigestirn (Sokrates, Platon, Aristoteles), das Averroes entflammte, und vor Immanuel Kant (1724-1804) ist Thomas von Aquin einer der bedeutendsten Philosophen und Logiker aller Zeiten. Ich bin ein Anhänger des Averroes und bemühe mich wie er, Wissenschaftler mit Leib und Seele zu sein.
Wenn Du mehr über Eure „Goldene Zeit“ lesen willst, musst du in meinem Blog nachschauen. Warum nur findet ihr nicht in die „Goldene Zeit“ zurück? Warum muss der muslimische Physik-Nobelpreisträger Abdul Salam (1926-1996) Recht behalten, wenn er sagt: „In allen Zivilisationen auf dem Planeten ist die Wissenschaft in den Staaten des Islams am schlechtesten. Die Gefahr dieser Schwäche kann man nicht deutlich genug betonen, denn das ehrenvolle Überleben einer Gesellschaft hängt unter den Umständen in der gegenwärtigen Zeit unmittelbar von ihrer Wissenschaft und Technologie ab“. Und die Human Arab Development Reports der UN sagen das auch.
Ihr braucht einen Kalifen, der Euch so etwas sagt wie Abdul Salam. Achmed, Du hast einen Traum, und ich habe einen Traum. Ich träume, ein Nobelpreisträger wird der nächste Kalif. Ob das im Sinne des Propheten ist? Natürlich könnt ihr technologisch aufholen, wenn ihr nur wollt (siehe China). Ohne Willen geschieht aber nichts. Ich glaube, diese Weisheit kann man auch im Koran nachlesen. Aber das weißt Du besser als ich. Ich bin in Sachen Koran inkompetent. Also: Auf geht’s, schau nach!
Zurück zum Thema: „Islamische Identität“. Denn neben Deiner „Kalifen-Theorie“ mag es ja auch noch andere Ansätze geben. Ich habe im Internet viel gesucht aber wenig gefunden. Die Islamwissenschaft an der Universität in Erlangen, die ich um Hilfe bat, hat mich im Stich gelassen. Aufgefallen sind mir eine Schrift vom Institut für Human- und Islamwissenschaften IHIW in Hamburg mit dem Thema: „Die Notwendigkeit der Rückkehr zu einer islamischen Identität“, und eine sehr ausführliche Schrift des Hizb-ut-Tahrir-Europa (Partei der Befreiung, der mittlerweile Beschäftigungsverbot erteilt worden ist). Die „Partei der Befreiung“ spricht im pdf-Format zum Thema „Islamische Identität“.
Ich lese aber alles, auch Verbotenes, und in Deutschland gilt das Sprichwort „In der Not frisst der Teufel auch Fliegen“. Ehrlich gesagt, nach der Lektüre weiß ich nicht, weshalb die Hizb-ut-Tahrir-Europa verboten wurde. Sie ist nur ausführlicher als die Schrift vom IHIW. Aber Verbote dieser Art kennen wir im Christentum, naiv gesprochen, auch. Mir wurde als junger Mann von der katholischen Kirche in Rom verboten, die Lutherbibel zu lesen. Die stand auf einem Index verbotener Schriften. Im nächsten Jahr ist Martin Luther der gefeierte Mann, weil er seine Protest-Thesen gegen die Kirche in Rom vor 500 Jahren an die Schlosskirche in Wittenberg schlug. Du siehst: Mit Luther beginnend, kam die Aufklärung zu uns. Die Engländer nennen „Aufklärung“ treffender „enlightment“, was unserem Wort „Erhellung“ entspricht. „Aufgeklärt“ sein bedeutet, es geht jemandem ein Licht auf, es wird hell um ihn. Das ist gemeint. Um dieses Licht als Erkenntnis wird in Europa immer noch gekämpft. Manchmal verdunkelt dieses Licht sich ganz fürchterlich. Zurzeit leuchtet es nur ganz matt. Leider hat es eine Aufklärung im Islam nie gegeben. Aber, was nicht ist, kann ja noch werden, sagt man im Deutschen. Und Deine Weisheit, die Du mir mitgeteilt hast, lautet: „Wer lebt, wird sehen“. Hast Du diese Weisheit aus Frankreich mitgebracht? Hier heißt es: „Qui vivra, verra“.
Nach der oben erwähnten Lektüre über Islamische Identität starte ich einen Versuch, den Begriff „Islamische Identität“ zu definieren. Man muss natürlich wissen, dass der Begriff „Islamische Identität“ ein Unterbegriff des wesentlich allgemeineren Begriffs „personale Identität“ ist. Denn alle Muslime sind wie wir alle auch Personen. Über „personale Identität“ gibt es in Philosophischen Lexika sehr umfangreiche Darstellungen, die die Komplexität des Begriffs erahnen lassen. Am meisten gelernt habe ich noch aus der Mittelstraßschen Enzyklopädie. Danach erkläre ich mir eine personale und damit auch islamische Identität wie folgt:
Personale Identität ist die bleibende Identität des handelnden und wahrnehmenden Ichs auch bei ständig wechselnden Lebensumständen. Weiß Gott, wir können auch Allah sagen, die haben bei Dir stattgefunden. Es wird bei der personalen Identität gegenüber der logischen Identität nicht eine vollständige Übereinstimmung aller Merkmale verlangt. Also dürfen wir beginnen, die Merkmale einer Islamischen Identität aufzuzählen. Dabei halten wir fest, ob diese Merkmale als zwingend (obligatorisch, engl. mandatory) angesehen werden oder zur Wahl stehen (optional).
Islamische Identität:
- Der UMMA angehörend, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: obligatorisch - Frauen sind sekundär, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: ? - Frauen müssen züchtig bekleidet sein, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: ? - Man muss den Koran arabisch lesen können, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort:? - Alkoholverbot, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: ? - Schweinefleischverbot, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: ? - Zinsverbot, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: ? - Akzeptieren des Islamischen Rechts, obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: ? - Akzeptieren der Gebote (z.B. fünfmal Beten), obligatorisch (ob) oder optional (op)?
Antwort: ? - Und so weiter.
Du kannst die Fragen beantworten, ich nicht. Nur die erste, die Frage nach der UMMA, die ist mit „obligatorisch“ zu beantworten, das weiß ich.
Ich bin ein alter Maschinenbauer. Wenn ich die Liste so betrachte, dann kommt mir das so vor, wie eine Zusammenbauanweisung z.B. für einen VW Golf. Je nach Beantwortung der Fragen gibt es, wie beim VW Golf, eine Unmenge von Islam-Varianten. Beim VW Golf darf man 1020 Varianten schätzen. Auf die Varianten aber kommt es gar nicht an, es bleibt ein und dasselbe Produkt: VW Golf. Beim Islam ist das die Islamische Identität, um die es in diesem Brief geht. Ganz zum Schluss komm ich doch noch zu Potte, sagt man in Deutschland. Du sprichst ja Englisch auch sehr gut, seit deiner Schulzeit. „Zu Potte kommen“ ist deutscher Slang (Idiomatik), den Du auch noch lernen solltest. Gemeint ist englisch: Finally I came around“.
Aber: Ingenieure können halt auch komplizierte Fragen einfach beantworten. Man bricht die Komplexität herunter und rekonstruiert. Genau das tat ich. Könnten die Ingenieure das nicht, würden wir im wirtschaftlichen und sozialen Elend umkommen.
Blaise Pascal (1623-1662), ein berühmter französischer Philosoph und Erbauer einer Rechenmaschine sagte einmal: „Ich schrieb Dir einen langen Brief, weil ich keine Zeit habe, einen kurzen zu schreiben.“ Mir ging es wie Blaise Pascal. Das nächste Mal diskutieren wir im arabischen Restaurant mit Deinem Einverständnis den Beitrag: „Carl Schmitt angewandt: Der Westen und der Islam“. Das wird spannend. Logisch! Heute spricht alles bis in höchsten Regierungskreisen von der Digitalisierung. Oh diese Leichtgläubigen, wenn sie glauben, dass eine Digitalisierung ohne das Grundlagenfach „Logik“ lehr- und lernbar ist. Digitalisierung ist geronnene Logik, auch mit Widersprüchen (contradictions), die auch technisch behandelt werden müssen.
Es grüßt Dich und bleibe gesund
Dein Freund Hartmut Wedekind
Upate vom 30. November 2016:
Anhang zu meinem Brief an meinen Freund Achmed
Lieber Achmed,
Wenn ich Dich sehe, dann bin ich immer hoffnungsvoll und denke, dass alle Flüchtlinge sich so entwickeln wie Du. Das ist natürlich ein „wishful thinking“, weil die Frage entsteht, ob diese Aufgabe überhaupt lösbar ist. Was ich in diesem Anhang darstellen will, ist, was eigentlich der Erdoganschen Logik entspricht. Also: Nicht „wishful thinking“, sondern Erdogan-Logik als Venn-Diagramme der Mengenlehre.
Das Bild zum „wishful thinking“ liest sich ja so, als würde die westliche Lebenswelt von der Islamischen Identität einfach abgezogen (Differenzbildung) und als Ergebnis bleibt der grüne Halbmond. Die Zuwanderer aus Islam assimilieren sich. Nun haben wir es bei Erdogan aber nicht mit einer Differenz, sondern mit einem Widerspruch oder einer Kontradiktion zu tun. Und jetzt sieht das Venn-Diagramm nach Erdogan aus wie in Bild 2:
Unsere islamischen Zuwanderer stellen die schraffierte Schnittmenge dar. Der Begriff „Schnittmenge“ ist sogar unseren Politikern geläufig. Sie suchen Schnittmengen unter sich, wenn eine Koalition, eine Gemeinsamkeit eingegangen werden soll. Nach Herrn Erdogan ist die schraffierte Schnittmenge aber keine Gemeinsamkeit, sondern ein Widerspruch, ein Verbrechen. Nach Herrn Erdogan hat die schraffierte Schnittmenge leer zu sein. D.h.: Es gibt Verbrechen dieser Art nicht. Statt „leer“ in der Mengenlehre sagt man logisch „falsch“. Gemeint ist aber dasselbe. „leer“ der Mengenlehre und „falsch“ der Logik sind synonym (gleichbedeutend). Das ist wie mit den Begriffen „Morgenstern“ und „Abendstern“. Beide meinen den Planeten „Venus“, der einmal am Morgenhimmel und dann wieder am Abendhimmel steht.
Achmed: Was ziehen wir beide vor: Bild 1 oder Bild 2?
Das ist eine weltpolitische Frage, nebenbei bemerkt. Ich votiere für Bild 1, das „wishful thinking“ und nicht für Bild 2, das Erdogan-Bild mit leerer Schnittmenge. Deshalb steht es auch in meinem Brief, eben leider nur als „wishful thinking“.
Viele Grüße
Dein Hartmut Wedekind