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Ausgangslage
Wer über die Flüchtlingskrise historisch und systematisch kompetent reden will, muss tief in die Vergangenheit schauen und insbesondere die wissenschaftliche und technologische Rückständigkeit der islamischen Länder, metaphysisch begründet, in den letzten 500 Jahren betrachten. Mit Metaphysik gewinnt man keine Physik. Physik gewinnt man durch Aufklärung, das wissen wir seit Isaak Newton (1642-1727). Er war einer der ersten Aufklärer. Die Aufklärung (enlightment) kam aus England, dann über Frankreich (hier wurde 1789 eine Revolution entfacht, die Köpfe rollen ließ), und floss dann, Unruhe stiftend, mit voller Wucht zu uns nach Deutschland, Gott sei es gedankt. Im Sinne der Ausbreitung der Aufklärung war auch der Export in dieses großartige Amerika mit seiner ersten demokratischen, aufklärerischen Verfassung (1787). Die USA sind heute unbestritten wissenschaftlich und technologisch führend in der Welt.
Man kann die Aufklärung, die Abkehr von einer metaphysischen Dogmenlehre in anthropozentrischer Absicht, d.h. in Kantischen Worten, die Ablegung einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, mit einer Loslösung von einer Theozentrik (fokussierte Gottesschau), als ein langes paradigmatisch ablaufendes Wachstum betrachten, mit vielen berühmten Paradigmenwechslern als Personen. Die Geschichte unserer Aufklärung, unserer Erhellung nach dem englischen „enlightment“, ist die Geschichte einer Entwicklung unserer Werte und die Geschichte dessen, was wir seit Bassam Tibi (1996) unsere Leitkultur nennen. Der Begriff Leitkultur wurde von Innenminister Lothar De Maizière (2017) kürzlich in einem 10 Punkte-Programm wieder aufgefrischt und wird mittlerweile als Gegensatz zu einer Multikultur gesehen. Die Begriffe „Heimat“ und „und eigene Kulturleistung“ feiern Auferstehung. Wie kommt das?
Auch Boris Palmer, der bekannte Tübinger Oberbürgermeister der Grünen, schließt sich nach langen, sehr langen Überlegungen dem Begriff „Leitkultur“ an. In seinem neuen Buch „Wir können nicht allen helfen“ (2017) schreibt er auf Seite 133:
„ Wenn eine sehr große Zahl von Menschen zu uns kommt, deren Haltungen zwar vom Grundgesetz gedeckt sind, aber in unserem Land gänzlich unbekannt und im Allgemeinen nicht akzeptiert sind, dann verändert das unser Land in einer Weise , die wir nicht wollen können.
Daher braucht es über das Grundgesetz hinaus noch eine Orientierung für uns und für die Neuankömmlinge. Als diese Debatte in Deutschland unter dem Begriff “Leitkultur“ im Jahre 2000 erstmals im Rahmen der Diskussion über Zuwanderung intensiv geführt wurde, habe ich sie nicht verstanden und als lächerlich angesehen. Leitkultur, damit schien mir das bayrische Bierzelt gemeint. Heute sehe ich das etwas anders. Ich habe nachgelesen, dass Bassam Tibi den Begriff 1996 in die Debatte eingeführt hat, und finde, dass er damit etwas beschrieben hat, das wir in Deutschland tatsächlich brauchen, um zu einer erfolgreichen Einwanderungsgesellschaft zu werden.“
Wir werden im Abschnitt 3) „ Trägerkultur und Verfügungswissen“ herausarbeiten, dass Boris Palmer ein zweites Mal umdenken sollte. Denn das Riesendefizit bei den Neuankömmlingen liegt darin begründet, dass sie in eine Gesellschaft hinein sozialisiert wurden, der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen, die uns tragen, im Sinne der Aufklärung fremd sind. Es geht in einem ganz fundamentalen Teil bei der Einwanderung um ein Tragen, und wer getragen wird, der kann auch geleitet werden. Wer nicht getragen wird, der fällt in ein Loch des Prekariats.
2. Leitkultur und Orientierungswissen
Philosophisch gehört der Terminus „Leitkultur“ (dominant culture) in die Kategorie „Orientierungswissen“. „Sich orientieren“ (von „ex oriente lux“) heißt, einen Leitstern am Himmel suchen, um eine Himmelsrichtung zu bestimmen, in die man dann fortschreitet. Orientierungswissen wird seit Jürgen Mittelstraß abgegrenzt vom Verfügungswissen. Der Kartenleser im Wald bemüht sich um Orientierungswissen, der Wandernde bemüht sein Verfügungswissen, um voran zu kommen. Es heißt bei Wikipedia „Mittelstraß führte die Unterscheidung von Orientierungs- und Verfügungswissen ein und hebt die weltbildgenerierende Kraft der Wissenschaften hervor.[4] Der Ansatz von Mittelstraß hat methodische und zugleich normative Ambitionen.“
Als Kontrastprogramm zu unserer Entwicklung verlief die Geschichte der Islamischen Welt. Sie landete in einem tiefen wissenschaftlichen, technologischen und damit auch kulturellen Loch eines bevölkerungsexplodierenden Elends, das sich zu einer Weltkrise mit Volksbewegungen ersten Ranges hin in die Länder der Aufklärung entwickelt hat. Über eine Bewegung, ein Wohlstandsgefälle hinauf, braucht man sich nicht zu wundern. Das ist fast schon animalisch. Hunger hat das Tier auch.
Das „Elendsloch“, und wie es historisch zustande kam, wurde im Blog in dem Beitrag „ Aufstieg und Niedergang der arabischen Welt“ ausgiebig behandelt. Das Loch wird in der Graphik in Bild 1 im Jahr 2000 dargestellt.
Bild 1: Kulturdifferenz: Morgenland- Abendland: Ein „Elendsloch“ in der Neuzeit ohne ein ehrenvolles, menschliches Überleben (Abdul Salam)
3. Trägerkultur und Verfügungswissen
Der Begriff „Trägerkultur“ (culture as a carrier) wurde mir in einem Vortrag von einem evangelischen Pastor vermittelt. „Eine Leitkultur, die nur leitet und nicht trägt, taugt nichts“, sagte der Pastor in Leipzig so um 2000, als der Begriff „Leitkultur“ nach Friedrich Merz als Hype grassierte. Friedrich Merz verschwand von der politischen Bühne und der Pastor ist auf der Bühne nie erschienen. Leider!
„ Eine Kultur sollte tragen, und wenn sie das nicht tut, gehen wir zugrunde.“ Man schaue auf die arabische Welt (Bild 1) nach ihrem Goldenen Zeitalter von 700 bis 1500 n.Chr. Die Zeit war hochwissenschaftlich und technologisch eine Pionierzeit, was wir heute bewundernd zur Kenntnis nehmen. Es gab eine islamische Trägerkultur ersten Ranges, die dann gegenüber dem Westen verschwand, was im Blog eingehend beschrieben wird. Als bei uns Aufklärung und Industrialisierung dominant wurden, riss das Loch auf. Der pakistanische Nobelpreisträger der Physik Abdus Salam hat die Misere trefflich beschrieben (siehe Bild 1), wenn er „von einem ehrenvollen Überleben einer Gesellschaft“ auf einer wissenschaftlich- technologischen Basis spricht.
Wie kann man die islamische Welt aus dem „Elendsloch“ heraustragen? Eine Antwort ist das „Froschspringen“ (leapfrogging) nach chinesischem Vorbild. Ganze Entwicklungsperioden müssen in den Ländern der islamischen Welt übersprungen werden, um auf ein Niveau der Neuzeit zu gelangen. Für unsere Neuankömmling hier bei uns bedeutet „leapfroggimg“ eine moderne Berufsausbildung. Denn die Plattform, auf die der Frosch springen sollte, muss verstanden werden. Auch für viele Deutsche hat das „leapfrogging“ heute eine große Bedeutung. „Digitalisierung“ heißt die Plattform, auf die viele von uns werden springen müssen, weil sie vorher passiv geblieben sind. Nehmen wir doch dann die arabische Welt gleich mit. Sie kann es doch. Kommt sie doch aus einer mathematisch-logischen Hochkultur, die eine Digitalisierung begründet.
Versprechen Sie da nicht etwas viel? Meinen Sie wirklich, dass Europäer und Araber durch Digitalisierung eine neue gemeinsame Kulturstufe erreichen können?
Lieber Herr Endres,
Nein, das war Ironie (= Verstellung)
Ihr
H.Wedekind