Vorbemerkung: Wir stellen unserem Beitrag einen Aphorismus vom berühmten Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) voran. Er war der erste Experimentalphysiker. Er sagte uns „Wenn man die Menschen lehrt, wie sie denken sollen und nicht ewighin, was sie denken sollen: so wird auch dem Missverständnis vorgebeugt. Es ist eine Art von Einweihung in die Mysterien der Menschheit.“
Lichtenberg sagt uns: Das Methodische, das Wie, ist das Wichtige. Nicht der Gegenstand des Lernens, das Was, sollte im Mittelpunkt stehen. Wer das Methodische beherrscht, kann sich auch vergessene Gegenstände wieder heranholen, das Umgekehrte gelingt kaum. Methodische Menschen haben Strukturen im Kopf und nicht bloß Punkte. Selbst Goethe war von Lichtenberg stark beeindruckt „Wo Lichtenberg einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen“, sagte Goethe, sein Hörer in Göttingen 1783, bewundernd über den Professor Lichtenberg aus Ober-Ramstadt. Goethes großes naturwissenschaftliches Interesse wurde später von humanistischen Ideologen einfach hinweg eskamotiert.
1. „Lernen 4.0“ und die Pädagogik
Es ist eine große Freude, das gerade erschienen Buch vom Augsburger Pädagogik-Professor Klaus Zierer zu lesen. Es trägt den Titel: „ Lernen 4.0 – Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich“ (2017). Der Titel „Lernen 4.0“ soll natürlich eine Attraktion sein, deshalb die Anführungsstriche in unserem Beitragsthema.
Wir Deutschen, u.a. seit Wilhelm von Humboldt idealphilosophisch angehaucht, nehmen das Wort „Bildung“ gerne in den Mund, wenn wir „Ausbildung“ (engl. schlicht „education“) meinen. „Sich bilden“ ist ein selbsttätig werden, „ich bilde mich“; dagegen heißt es „Ich werde ausgebildet“. Ausbildung ist, so gesehen, ein Weg hin zur Bildung. Bildung ist ein Selbstläufer. Eine Ausbildung hingegen bedarf fremder Antriebskräfte und sollte stark methodisch orientiert sein. „Lernen 4.0“ ist ein Lernen in der Ausbildung zur Bildung 4.0 hin.
Von Klaus Zierer (Augsburg) wie auch von Adrian Wilke von der Uni Paderborn wird eine Methodologie vorgetragen, die auf den Amerikaner Ruben R. Puentedura zurückzuführen ist. Sie ist vierstufig aufgebaut, trägt den Namen SAMR-Modell (Substitution, Augmentation, Modification, Redefinition) und wird im Bild unten gezeigt. Adrian Wilke beschreibt die vier Stufen in aller Kürze.
Bild zur SAMR-Methodologie
Das Bild muss von unten nach oben gelesen werden. Am Anfang steht die Substitution, also das Ersetzen des Analogen durchs Digitale. Es folgen Verbesserungen in der Form von Erweiterungen (Augmentation) und Änderungen (Modification). Das Ziel der Methodologie bildet die Neubelegung (Redefinition). In der konstruktiven Wissenschaften nennt man das Rekonstruktion, weil das Wort „Definition“ schon anderweitig Verwendung findet.
2. Kritik an „Lernen 4.0“
Wir tragen die Kritik an einem Beispiel vor und nehmen an, für alle Klassen einer Schule sollen Stundenpläne erstellt werden. Ein wöchentlicher Stundenplan für einen Schüler wird im Allgemeinen auf Papier in Matrixform gerastert dargestellt: Wochentage (Spalten), Tagesstunden (Zeilen). Eine Zelle kann nun erweitert (augmented) werden z.B. um die Namen des vorgesehen Fachlehrers. Und eine mögliche Veränderung kann eingetragen werden, indem Vertretungslehrer erwähnt werden.
In der Phase einer Substitution wird der Stundenplan auf Papier durch eine Darstellung mit Hilfe von „spreadsheet“ (Tabellenkalkulation) ersetzt. Es ist erfreulich, dass Tabellenkalkulation-Software heute im Unterricht schon sehr früh zum Einsatz kommt. Der für die Informatik bedeutende Karl Steinbuch (1917-2005) sprach humorvoll von einem „karierten Denkschema“.
Substitution und Verbesserungen sind solange gut und schön, bis keine Kollisionen auftreten. Kollisionen sind logische Widersprüche. Keine zwei Klassen können z.B. zur gleichen Zeit am gleichen Ort unterrichtet werden. Wer kollisionsfrei planen will, muss sich in der Phase der Rekonstruktion (Redefinition) ein Planungselement schaffen, mit dem er operieren kann (eintragen, verschieben, verändern, löschen). Jetzt kommt Logik und ihre Propädeutik ins Spiel. Das Planungselement muss festgelegt werden. In dem Artikel“ Informatik als Grundbildung, Namensgebung und Kennzeichnung“ (Autoren: Wedekind, Ortner, Inhetveen) von 2004 wird gezeigt, wie durch Kennzeichnung ein Planungselement gewonnen wird. Kennzeichnung (definite description) ist ein Verfahren der modernen Logik, Gegenstände eines Gegenstandsbereichs, z.B. an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, eindeutig festzulegen. Unser Gegenstand heißt Planungselement. Wir geben die folgenden, eindeutig charakterisierenden Eigenschaften für ein Planungselement an:
Die Tageszeit wird in Blöcke eingeteilt und durch eine laufende Nummer wiedergegeben. Tage im Jahr werden wie bei Fabrikkalendern auch durchnummeriert. Eine triviale Kollision liegt dann vor, wenn ein Raum am gleichen Tage zur gleichen Blockzeit zweimal belegt wurde. Komplizierte Kollisionen treten in der Lehrerzuordnung auf. Es gibt hier eine große Schar von Nebenbedingungen (Regeln), die beim Planen eingehalten werden müssen. Eine Regel ist ein logisches Konstrukt der Form „A ⇒ B“, gesprochen „wenn A dann B“.
Unsere Eigenschaften zusammengenommen sollen eine eindeutige Kennzeichnung bilden. Wie stellt man das dar? In relationalen Datenbanksysteme wählt man wie oben die durchgehende Unterstreichung. In der Logik schreibt man eine Kennzeichnung formal hin. Für unseren Fall könnte die folgende Notation gewählt werden. Dabei wird angenommen, dass ein ‚u‘ wie die Belegungs-Nr. (Beleg.-Nr.) eine eindeutiger Eigenname (proper name) ist, der viel kürzer ist als eine Kennzeichnung und mit dem sich somit besser arbeiten lässt. Denn was wir wollen ist ja, Planungselemente über eine Belegungs-Nr. aufrufen, um dann mit einer Kennzeichnung zu operieren (verschieben, löschen, verändern einfügen, etc.)
u =def ι x ( x ε RNR ∧ x ε L ∧ x ε T ∧ x ε BZ ∧ x ε KL ∧ x ε F )
ιx ist der Kennzeichnungsoperator (Jota-Operator) in der Bedeutung: Dieses x da oder dieses Planungselement x wird eindeutig durch seine sechs Eigenschaften gebunden und bestimmt. ‚ε‘ ist die Kopula, die ein Subjekt mit einem Prädikat(or) (Eigenschaft) verbindet, um einen ganzen Satz bilden zu können, der wahr sein muss, um eine Operation mit u überhaupt zu ermöglichen.
Mit einer Operation „einfügen (u)“ z.B., die später einmal während unseres Studiums, wenn wir reifer geworden sind, von uns auch programmiert werden kann, würde dann ein neues Planungselement in den Stundenplan eingebracht werden.
Eine Ermahnung an alle Pädagogen und Politiker: Programmieren ist ein Schwergeschäft. Es steht ja nicht bloß ein simples „boilerplate programming“ zur Debatte. Algorithmen, die im öffentlichen Raum heute beschworen werden, werden durchweg durch Rekonstruktion erstellt. Substitutiv ist da nicht viel zu machen.
Es dürfte nicht schwer sein einzusehen, dass wir über die Kennzeichnung einer logischen Propädeutik jetzt in den Bereich einer rekonstruktiven digitalen Bildung (Ausbildung) geraten sind. Substitution hingegen ist eine untere, vorbereitende Schicht, die wir sehr unglücklich mit „Bildung digital“ apostrophiert haben. Man sollte immer glasklar unterscheiden, wenn substitutiv (analog→digital) und wenn rekonstruktiv gedacht wird. Im politischen Digitalisierungspalaver unserer Zeit geht diese feine Unterscheidung naturgemäß völlig unter. Diese Unterscheidung lehrt uns aber auch die SAMR-Methodologie der Pädagogen, Didaktiker müsste man eigentlich sagen, denn die vertreten die Methodenlehre.
P.S.: Ich habe mir gerade einen Rasenroboter angeschafft, der mich und meine Arbeit substituiert. Das ist evident. Die Mähstrategie (Algorithmus) des Roboters aber ist universell, für alle Rasen, rekonstruktiv, zufallsorientiert, und hat mit meiner Strategie nichts mehr zu tun. Die wird nicht substituiert. Was ich mache, kann der gar nicht. Und was der macht, kann ich nicht. Der Roboter geht ganz anders vor. Substitutionen liegen an der Oberfläche und sind meist sichtbar, Rekonstruktionen gehen ins Innere.
Manchmal glaube ich, dass Sie auch der Ansicht sind, dass wir zuviel Geld für Bildung ausgeben, die ja an sich ein Selbstläufer ist, wie Sie hier schreiben. Zu sagen, dass es bei der Ausbildung nur ums Methodische geht, ist auch gefährlich. Ich musste immer gegen Leute ankämpfen, die stets nach besseren Methoden suchten, anstatt sich mal die Finger schmutzig zu machen.