Wenn ich die Debatten über KI (Künstliche Intelligenz) verfolge, komme ich mir vor wie ein Fan, der bei der zurzeit laufenden Fußball Europameisterschaft (EM) in einem Fanblock sitzt und singt, und randaliert, und begeistert schreit, wenn meine Mannschaft ein Tor schießt. Wer das kritisiert, bekommt entgegen gehalten, Fußball sei Abbild unseres Lebens, und unkontrolliert liefe das Spiel ja schließlich auch nicht ab. Da sei ja auch die wichtige Instanz eines Schiedsrichters, dessen Fähigkeiten nunmehr durch einen VAR (Video Assistant Referee) beachtlich erweitert worden seien. Die oftmals schwierig zu entscheidende Abseitsregel und auch ein mögliches Handspiel im Elfmeterraum seien jetzt einer Objektivierung sehr nahe. Man muss natürlich etwas vom Fußball verstehen, um das Eingreifen eines VAR zu verstehen. Die Emotionalität geht natürlich weiter, das darf nicht anders sein. Emotionalität ist ein Geschäft. KI ist aber auch ein Geschäft, ein Geschäft der Unterhaltungsindustrie. Wenn „Fußball unser Leben ist“, wie es in einem Schlager heißt, ja dann müssen wir in einem KI – Fanblock auch über einen VAR reden dürfen. Und das tun wir jetzt.
Wo kommt der Ausdruck „Orthosemantik“ her? Das Wort „ortho“ stammt aus dem Griechischen und heißt laut Duden so viel wie „richtig“, „aufrecht“, „gerade“. Das Gegenteil ist „schief“, „schräg“, „quer“. Bei „Orthosemantik“ war es natürlich der Erfinder des Begriffs „Orthosprache“, und das ist Paul Lorenzen (1915- 1994), der auch manchmal provozierende Schriften verfassen konnte, die so manchen verärgert hat. Lorenzen schreibt in seinem Artikel „Rationale Grammatik“ in: C.F. Gethmann „Theorie des wissenschaftlichen Argumentierens“ (1980) auf Seite 84:
„Welche Instanz normiert den Gebrauch der Wörter über die Syntax hinaus? Syntax wird in allen Schulen gelehrt, wie die Orthographie, warum gibt es keine staatliche Orthosemantik?“
Das ist ironisch gemeint, d.h. Lorenzen verstellt sich. Eine staatlich verordnete Orthosemantik wäre etwas Furchtbares, ein autoritärer Eingriff in unser liberales Leben. Das klingt nach George Orwell mit seinem Roman „1984“und einem totalitären Überwachungsstaat. Lorenzen will nur sagen, dass unsere Orthographie als Syntax im Duden einer privaten Wissenschaftlichen Gesellschaft mit Sitz in Mannheim, Zürich und Wien eine anerkannte orthographische Instanz ist, der leider nur ein semantischer Überbau fehlt. Da ist also eine Lücke, die mit wissenschaftlichen, nicht mit staatlich-politischen Mitteln geschlossen werden sollte. Das ist der Punkt.
Wir können einen KI – erzeugten Text an uns vorbeirauschen lassen wie ein Fußballspiel mit VAR – Kontolle. Wir nehmen uns dabei vor, nur einzugreifen, wenn etwas schief läuft, also aus unserer Sicht aus dem Ortho gerät. Und das ist unser Punkt: Für einen Schiedsrichter zu merken, dass etwas nicht in Ordnung ist. Die Entwicklung eines Ortho-Sprach-VAR scheint aber ebenso aufwendig zu sein wie der Fußball-VAR. Im Fußball steckt aber Geld, das wir leider nicht haben.
Nehmen wir an, in einem erzeugten Text fällt der Satz in einer Personalabteilung:
„Wir stellen den A oder den B ein“.
Was ist mit diesem ODER gemeint? Können auch beide eingestellt werden? Ist das ODER einschließend (inklusiv) oder ausschließend (exklusiv) gemeint. Bei einem inklusiven ODER können auch beide eingestellt werden. Bei einem exklusiven ODER geht das nicht, weil nur eine Stelle vorhanden ist.
Kommt ein simples ODER in einem Text vor, muss der Ortho-Sprach-VAR eine Stopp-Karte ziehen, um eine Klärung herbeizuführen.
Es wird jetzt schon von der orthosemantischen Kontrolle allerhand gefordert. Streng genommen wird die Kenntnis der klassischen Junktorenlogik verlangt. Denn ODER ist ein Junktor mit zwei Lesarten. Auch die Junktoren UND , WENN..DANN und NICHT müssen beherrscht werden. Bei Benutzung eines Junktors im erzeugten Text sollte der VAR auf den Plan gerufen werden.
In einem weiteren Fall bei uns soll in einem politischen Text der Satz vorkommen:
„Die Präsidentin der Vereinigten Staaten eröffnete die Nato-Sitzung“
Da ist ein Fehler drin, da ist etwas nicht im Ortho. Es gibt nur einen Präsidenten und keine Präsidentin.
Unser Ortho - VAR muss erkennen, dass „ die Präsidentin der Vereinigten Staaten“ eine Kennzeichnung (singular description) sein soll, die einen Eigennamen (proper name) im Satz vertritt. Die Kennzeichnung „Die Präsidentin der Vereinigten Staaten“ ist leer oder nur eine Pseudokennzeichnung, weil es die gar nicht gibt. Unser VAR muss auf der Jagd sein, um leere Kennzeichnungen herauszufinden und anzuzeigen. Eine beachtliche Fähigkeit.
Was auch häufig passiert ist, dass eine metasprachliche Aussage in einem Text nicht von einer objektsprachlichen Aussage unterschieden wird. Wenn in Sprache über (meta) Sprache geredet wird, ist das eine heikle Angelegenheit, die aber alltäglich ist.
In einem Text
„Konstanz liegt am Lago Maggiore ist falsch“
fehlen die Anführungszeichen (quotation marks), durch die der objektsprachliche Teil herausgestellt wird. Es muss geschrieben werden:
„Konstanz liegt am Lago Maggiore“ ist falsch
Unser VAR schaut genau hin, wenn Metasprache zur Debatte steht, wenn über Sprache gesprochen wird, und sagt uns, wo die Anführungszeichen hingehören.
Wie beim Fußball hat der abgesetzte VAR nicht nur bei KI-erzeugten Texten viel zu tun. Der Bau eines orthosprachlichen VAR ist wie beim Fußball eine gewaltige, aber wichtige Angelegenheit.
Da geht noch mehr! Und wir sollten den VAR umbenennen in einen Language Assistant Referee (LAR). Und wie er gebaut wird, ist auch klar – nämlich prozesszentrisch, wie eine Workflow Management System Applikation.
Ihr
EO
Sehr geehrter Herr Wedekind,
ich verstehe nicht viel vom Fußball, kann allerdings mit der Analogie eines Fußballspiels im Hinblick auf einen Diskurs, der rational (= regelbasiert) verläuft, etwas anfangen.
Wie Sie ja treffend durch die Metapher der VAR beschreiben, müssen die Spieler (Proponent und Opponent) durch einen Schiedsrichter (Mediator) begleitet werden, der auf das Ortho verweist. Wie kann aber den Zuschauerinnen und Zuschauern (Auditorium) das Ortho zugänglich gemacht werden?
Man könnte die Frage auch anders stellen: Kann die Orthosemantik dadurch gerechtfertigt werden, dass das Auditorium durch Kenntnis derselben dem Verlauf des Spiels (Dialog zwischen P und O) angemessen folgen kann, um es als Exempel (hier im Kantschen Sinne) für das eigene Handeln zu nehmen?
Mit besten Grüßen aus Kiel
Stefan Jelonnek
Zum Wahlkampf zwischen den Demokraten und Republikanern im Wahljahr 2024 in den USA:
Man sieht den Splitter im Auge des Feindes, aber den Balken im eigenen Auge sieht man nicht.
Ist das die Orthosemantik eines rationalen Dialogs?
Und wie antwortet darauf heute ChatGPT, die alte, kostenfreie Version (gekürzt):
Orthosemantik, ein Begriff aus der Philosophie, insbesondere der Sprachphilosophie und der Logik, bezieht sich auf die korrekte Bedeutung und Interpretation von Ausdrücken und Aussage.[…] In Bezug auf rationale Dialoge bedeutet Orthosemantik, dass die Beteiligten im Dialog die Bedeutung der Worte und Sätze, die sie verwenden, korrekt verstehen und anwenden.
Wenn man die Analogie des Sprichworts in diesem Kontext betrachtet, könnte man sagen, dass es die Notwendigkeit einer Selbstreflexion und Selbstkritik im rationalen Dialog hervorhebt. Es erinnert daran, dass man nicht nur die Argumente und Fehler der anderen kritisch betrachtet, sondern auch die eigenen Annahmen und Argumente hinterfragen sollte.
„Den Spitter im fremden Auge, aber den Balken im eigenen Auge nicht sehen“ ist eine Redewendung aus der Bibel und als solche im Duden 11 lexikographisch mit ihrer Bedeutung erfasst. Feste Wortverbindungen gehören in das Gebiet der Phraseologie und sind Bestandteil einer Orthosemantik. Unsere Sprache ist voller fester Redewendungen. Der Duden 11 zählt ohne Anspruch auf Vollständigkeit 18 000 feste Redewendungen im Deutschen auf.
H.Wedekind
Generative KI zu seinem Vorteil vernünftig nutzen können, setzt die Erziehung aller Beteiligten zu einem disziplinierten Gebrauch von Sprache voraus – wie diese übrigens in Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Logische Propädeutik – Vorschule des vernünftigen Redens, 3. Auflage 1996, thematisch hervorragend erläutert wird.
Erich Ortner
Sorry, die Vorschau paßt nicht ganz zum Text, deshalb eine Änderung:
Das Bild wird noch komplexer. Es kommt heutzutage noch die kognitive Linguistik hinzu, bei der Semantik (a) um Sinn und Bedeutung innerhalb einer community of practice (b) anhand von deren Anliegen erweitert wird.
Zur politischen Semantik gibt es ja genug schon im blog. KI ist sowieso nur Algorithmik ergänzt um mitunter halbwegs geordnete Daten, meinetwegen auch second-order algorithmics (verkauft als Lernen).
(a) (auch wenn man die Spielwiese bei der Festlegung von Semantik jenseit der rigiden Prädikatenlogik (der ersten Stufe) auslebt; siehe LNCS 4925 oder 6834)
(b) (wie auch immer man diese beschreibt und begrenzt)
Sorry, soll man deshalb beispielsweise auf das Dreiplattenverfahren (hier im Vergleich zur neuen generativen KI-Technologie), was auch nur ein praktischer bzw. praktikabler Weg ist zur Herstellung annähernd geometrisch ebener Oberflächen auf Körpern, verzichten? Vor allem dann, wenn auch noch aufgezeigt wird, wie die vermeintlichen Schwächen dieser Praxis orthosprachlich auf beiden Seiten, auf der Seite der Technik und auf der Seite der Menschen, behoben werden können?