1) Geschichtsschreibung und Astronomie
Geschichtsschreiber sind in ihrer Berufsausübung sehr verwandt mit den Astronomen, die noch weiträumiger ins Weltall schauen und nicht nur unsere Erden-Welt in ihrem Zeitablauf beschreiben. Das sieht auch der bekannte Historiker Christopher Clark so, der sein neuestes Buch „Von Zeit und Macht“ (2018) mit der Analogie beginnt „ Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit“. Eine Kraft, deren Wirkungsweise überall zu sehen ist, ist die Schwerkraft (Gravitation), besonders deutlich natürlich, wenn man in den Weltraum hinausschaut. Die Physiker haben über Newton hinaus mit Einstein sogar eine Theorie der Schwerkraft entwickelt, die sie Allgemeine Relativitätstheorie (ART) nennen und die als ein Paradigmawechsel in die Geschichte der Physik eingegangen ist. Die ART gilt, weil sie trotz vieler Anläufe noch nicht widerlegt (falsifiziert) wurde. Schaue ich in den Weltraum, so sehe ich, wie Gestirne als Riesenmassen Schwerkraftfelder bilden, um die sich kleinere Gestirne drehen, so der Mond um die Erde. Das ist auch so bei den Machtzentren dieser Welt, um die sich vieles dreht und die der Geschichtsschreiber beobachtet. Schwerkraft zieht sogar laut ART Lichtstrahlen an und krümmt sie. Lichtstrahlen versinnbildlichen in der Welt des Geistes Erkenntnisse, die in Machtzentren gekrümmt werden, was der Historiker weiß, sonst ist er kein Historiker. Er braucht eben auch eine ART, sonst sieht er falsch. Große Ansammlungen, die eine riesige Schwerkraft erzeugen, nennt man in der Astronomie Schwarze Löcher, mit denen sich Stephen Hawking intensiv beschäftigt hat. Schwarze Löcher für Geschichtsschreiber, die gibt es auch.
2) Heilsgeschichte als gedeutete Realgeschichte
Heilsgeschichte ist die Geschichte der Menschheit in Anbetracht des zu erwartenden Heils, das durch göttliche Handlungen zustande kommt und dem Menschen offenbart wird, meint Wikipedia, sinngemäß wiedergegeben. Die Weihnachtszeit, die wir gerade durchleben, ist ein wichtiger Teil der christlichen Heilsgeschichte. Heilsgeschichte wird durchweg aus einer Realgeschichte der Geschichtsschreiber, die politisch aufzufassen ist, gedeutet. Wieder auf Wikipedia zurückgreifend, heißt es dort „ Deutung bezeichnet den Prozess des Erkennens oder Konstruierens einer Bedeutung“. Wesentliche Teile der christlichen Heilsgeschichte sind jüdischen Ursprungs. Die Juden sind geradezu „Deutungsmeister“ ihrer Realgeschichte, was insbesondere auch von Michael Wolffsohn in seinem Aufsatz in der Welt vom 20.12.2018 „Das Gute am Antisemitismus“ herausgestellt wird. Mephisto in Goethes Faust leitet Wolffsohn bei seiner eindrucksvollen Deutung des jüdischen Denkens. „Judenfeindschaft ist eine Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, sagt er. Wolffsohn, in Tel Aviv geboren und Professor in München, deutet das jüdische Deuten. Das kann man ein Meta-Deuten nennen. Man muss vorausschicken, dass Wolffsohn zwischen einem diskriminierenden Antisemitismus und einem mörderischen, liquidierenden Antisemitismus wohl unterscheidet. Der diskriminierende Antisemitismus ist nicht so schlimm. An den haben sich die Juden gewöhnt, meint Wolffsohn, weil er nicht lebensgefährlich ist.
Die Deutungsregel, die Wolffsohn in der gesamten jüdischen Heilsgeschichte erkennt, lautet: „Wenn das Volk Israel gegen Gott sündigt (das Schlimme), wird es bestraft und nach einiger Zeit erlöst“. Der 400 –jähriger Frondienst der sündigen Juden in Ägypten waren eine solche Strafe, aus der Moses sie durch Gott geführt erlöste. Dann kamen die Assyrer um 720 v. Chr., zerstörten den Tempel und führten die Sünder in der Babylonische Gefangenschaft. Die Perser befreiten sie daraus, als Gottes Erlösung gedeutet. Und dann, um 70. n. Chr. kamen die Römer mit dem Heerführer Titus, zerstörten ihren wiederaufgebauten Tempel und vertrieben die Juden nach Europa. Klar ist, dass die Gründung des Staates Israel 1948 durch die UNO als Erlösung empfunden wurde. „Judenfeindschaft ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ sagt Wolffsohn.
Ich war einmal in Rom und beobachtete eine Gruppe geführter israelischer Touristen, die sich weigerten, auf dem Forum Romanum den Titusbogen zu durchschreiten, was mir überhaupt keine Pein bereitete. Der Titusbogen wurde nach dem erfolgreichen Feldzug errichtet. Im Titusbogen ist der siebenarmige Leuchter als Trophäe der Römer abgebildet.
Wolffsohn schreibt: „Bei orthodoxen Juden wirkt die Denk-und Glaubensfigur bis zum Holocaust und darüber hinaus. Dass in Auschwitz, der höllischsten Hölle des liquidierenden Antisemitismus, orthodoxe Juden, vor der Gaskammer stehend, ihre bevorstehende Ermordung ‚Gottes gerechte Strafe‘ für die eigenen Sünden sowie ‚der Kinder Israels‘ nannten, ist mehrfach und glaubwürdig überliefert.“ Das muss man sich einmal vorstellen: die bösen Pharaonen, die schlimmen Assyrer und Römer bilden mit dem fürchterlichen Vernichtungs-Faschismus eines Adolf Hitler wesentliche Elemente der jüdischen Heilsgeschichte. Und das alles geschieht durch Deuten, ein magisches Wort, das untersucht werden sollet.
3) Deuten, Deutungsfreiheit, Deutungsmacht, Deutungshoheit.
Zum Deuten bedarf es erstmal einer Regel. Das kann eine allgemein akzeptierte Norm sein, oder aber auch eine Lebensregel; man sagt auch Maxime dazu. Wir haben uns an logische Schreibweisen gewöhnt, also schreiben wir als Norm: Für alle x in A(x) → B(x). In Prosa: Für alle x, die gegen Gott sündigen A (x), folgt (→), dass sie bestraft werden B(x). x0, das sind gedeutet die Sünder, also A(x0), so darf man zu B(x0), zum Bestrafen übergehen.
In Kurzform:
Für alle x in A(x) → B(x) und A(x0) gilt auch B(x0)
Theologen nenne das, was in der Kurzform steht, eine Deutung. Juristen sprechen von Subsumption. Schön, dass man auf der Basis der Logik zur Interdisziplinarität beitragen kann.
Zur Deutung bedarf es der Freiheit, verlangt wird eine Deutungsfreiheit. Abzulehnen sind im aufklärerischen Sinne Deutungshoheiten oder gar eine Deutungsmacht. Seit Leopold von Ranke (1795-1886) kennt die Geschichtsschreibung die historische kritische Methode mit Quellenangabe und Quellenanalyse, d.h. ein Deuten darf nicht willkürlich sein, wenn man sich der Aufklärung verpflichtet fühlt. Willkür ist wegen ihrer Beliebigkeit abstoßend und ist eine Schwester der Macht mit ihrer ungeheuren Anziehungskraft.
Deuten (sprachkritische Wende) ist nur eine Hälfte der Arbeit. Nach dem Deuten (Erkennen) des Vergangenen, kommt das Handeln (praktizistische Wende).
Eigentlich sollte auch das Deuten von dem ihm zugrunde liegenden, vergangenen Handeln ausgehen. Denken und Handeln sind bei den Menschen voneinander nicht zu trennen. Auf die sie nutzenden Informationstechnologien bezogen, lässt sich diese Wechselwirkung auf die Daten- (für das Deuten) und Prozesstechnologien (für das Handeln) übertragen.