1) Problemstellung
Seit ich im Jahre 2000 emeritiert wurde, habe ich über dieses Thema nachgedacht. Mit den Wackersteinen, die über uns in Form von zig-tausend Unterschriften unter eine Petition (Bittschrift) der Schüler geschüttet wurden, ist mir nach der schriftlichen Abitur-Prüfung 2019 klar geworden, dass die Frage, ob Mathematik in den Schulen ein Horrorfach sei, immer noch unbeantwortet bleibt. Andererseits haben deutsche Schüler entsprechend den TIMSS-Studien qualitativ wenig zu bieten. Von einer Industrienation erwartet man eine Stellung unter den Top-Ten, nicht Position 24.
Es gärt also weiter. Im Laufe der Zeit habe ich das Thema „Horrorfach“ mit Pädagogen und Nicht-Pädagogen diskutiert und musste feststellen, dass es sich um ein vielschichtiges Thema handelt. Ich bin aber zu einem Ergebnis gekommen, das ich mitteilen möchte. Man kann sagen, das Ergebnis sei bloß ein Verdacht. Gemach. Das werden wir ja sehen. Wenigstens wird diese brennend Frage beantwortet und kann somit diskutiert werden. Wir lassen die Frage wie üblich nicht unbeantwortet mit einem bloßen Klagen im Raume stehen. Biologie, Englisch, Französisch oder gar Deutsch sind keine Horrorfächer, manchmal sogar Lieblingsfächer. Wie kommt das? Was ist da los?
2) Die Mathematik als ein herausgestelltes Fach
Um die Menschenmassen auf der Erde überhaupt menschengerecht versorgen zu können, mussten die Mathematischen Naturwissenschaften zu technischen Wissenschaften weiterentwickelt werden. Denn es muss die Frage beantwortet werden, mit welchen Mitteln (gr. téchne) die Bedürfnisse der Menschenmassen befriedigt werden können. Mathematik im Zentrum der MINT – Fächer (Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik, Technik) bildete sich zu einem Angelpunkt heraus, der im Verbund aller Bildungsfächer ohne Zweifel eine bedeutende Rolle spielt. Die Herausstellung der Mathematik, die für jedermann einsehbar ist, darf natürlich in den Bildungseinrichtungen nicht zu einem „Kulturkampf“ entarten. Dieser Kampf ist nicht neu und wurde von C.P. Snow in seinem Aufsatz „Die zwei Kulturen“ (1959) ausgiebig analysiert. „Hier die Mathe und Naturwissenschaften (Fortschritt) und dort die Geistes- und Sprachwissenschaften (Rückschritt)“ hilft nicht weiter, weil beide aufeinander angewiesen sind. „Ein Kulturkampf“ muss natürlich vermieden werden. Nicht dass der Kulturkampf die Schüler trifft und die „böse Mathe“ in diesem Kampf zu einem Horrorfach abgestempelt wird, was sehr bequem wäre. Eine Bequemlichkeit ist es aber, wenn z.B. Ältere bekennen:„ Ja, wissen Sie, ich war ja auch immer schon ein schlechter Rechner“. Das färbt ab. „Wenn die Älteren geschwiegen hätten, wäre sie Weise geblieben.“ Eine Aversion gegen Mathe zu demonstrieren, ist nicht sehr hilfreich und sollte tunlichst unterbleiben. Gleiches gilt natürlich für die, wie berichtet, zur Schau getragene Arroganz der „Exakten“ im Lehrerkollegium. Aber: Sozialpsychologie hilft bei der Frage, ob Mathe eine Horrorfach sei, nicht weiter
3) Verstehen durch eine Vorschule der Mathematik
Es geht uns um das Verstehen der Mathematik, und dazu bedarf es diverser Vorbereitungen, die man Vorschule oder Propädeutik, oder aber auch „Philosophie der Mathematik“ nennen kann. Wir wollen reflektieren, und das ist eine typisch philosophische Tätigkeit. „Philosophy of Mathematics“ sagen die Amerikaner noch altertümlich, während wir den Begriff „Philosophie“ abstreifen und schlicht von Wissenschaftstheorie sprechen.
Zwei Philosophen helfen uns in unseren Bemühungen weiter:
a) Hans-Georg Gadamer (1900-2002) mit seinem berühmten Buch „ Wahrheit und Methode“.
b) Paul Lorenzen (1915-1994) mit seinen vielen Arbeiten zum Thema „Philosophie und Mathematik“, z.B. seinen Aufsatz, den ich nochmals las, „Wie ist Philosophie der Mathematik möglich?“
Von Gadamer haben wir den Begriff der Vor-Meinung, den Lorenzen benutzt, um eine Philosophie der Mathematik aufzubauen. Gadamer nun in „Wahrheit und Methode“ auf Seite 252:
„Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. Die Ausarbeitung der rechten, sach-angemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ‚an den Sachen‘ erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens“. (fett von mir)
Und: Mit dem Verstehen kommt der Spaß auf, und jeglicher Horror verschwindet. Noch Unverstandenes, das immer bleibt, sollte auf einem Fundus neugierig machen und nicht ängstigen. Ängste zu nehmen, war und ist auch immer eine Angelegenheit der Aufklärung (Enlightment).
4) Die Vor-Meinungen
Nach Lorenzen in seiner Schrift „Wie ist Philosophie der Mathematik möglich?“ gibt es in der Mathematik diverse Vor-Meinungen im Gadermerschen Sinne, die einer Bearbeitung bedürfen, um zu einem Verstehen zu gelangen.
Z.B.:
- Das „tertium non datur“, oder eine Aussage ist wahr oder falsch, ein Drittes gibt es nicht (tertium non datur). Man schreibt halbformal: A ∨¬ A ist immer wahr.
- Die Verwendung von Axiomen-Systemen, deren Widerspruchsfreiheit nicht bewiesen wurde.
(Bemerkung: Ein Axiom ist eine evidente wahre Aussage, die an den Anfang gestellt wird. Berühmt sind die Axiome des Euklids für die Geometrie, die kommen auch schon in der Schule vor, wenn man konstruktive Geometrie betreibt.)
Zu 1.) Das „ tertium non datur“
Vieles in der Welt ist nicht so, wie die „tertium non datur“- Leute es glauben. Die Römer sprachen stattdessen schon von ‚sic‘, ‚non‘, und ‚non liquet‘. Es gab also noch ein Drittes, das „non liquet“.
‚Non liquet‘ heißt ‚es fließt noch nicht‘, es ergibt sich erst später, es ist noch nicht klar. Ob z.B. ein Kind ein Mädchen oder Junge wird, weiß ich noch nicht (‚non liquet‘), das ergibt sich erst später. Nach Gadamer muss die Vor-Meinung des „tertium non datur“, die sich nicht an den Sachen selbst bewährt, bearbeitet werden. Wir brauchen „die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ‚an den Sachen‘ erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens“. So lasen wir es bei Gadamer.
Also kommen wir zum Verstehen.
Die Vor-Meinung „tertium non datur“ wird in den Schulen unkritisch übersprungen. Das rächt sich nach Gadamer im Unverständnis und heute u.U. in einer Revolte vernetzter Schüler.
Zu 2.) Axiomen-Systeme
Das Rechnen mit Grundzahlen 1,2,3,… ist der Ausgangspunkt der Mathematik. Diese Zahlen hat nach dem berühmten Mathematiker Leopold Kronecker‚ der liebe Gott gemacht. Alles andere ist dann Menschenwerk‘. Das war und ist auch eine gängige Vor-Meinung in der Mathematik. Herrlich, wenn so etwas von atheistischen Mathe-Lehrern vertreten wird. Heute glaubt man weiter zu sein und führt die Grundzahlen über ein Axiomen-System ein. Man nennt sie Peano-Axiome nach dem italienischen Mathematiker Giuseppe Peano. Es wird mit Peano nach Lorenzen eine Vor-Meinung, die naiv ist, durch eine andere, raffiniertere, ersetzt.
Warum, so fragt Lorenzen, nicht die Sätze, die Axiome der Vor-Meinung durch Konstruktion ersetzen? Denn das Herstellen, das Konstruieren ist etwas Tief-Menschliches und führt nach Gadamer als sachangemessener Entwurf zum Verstehen. Schon die Urmenschen, die Troglodyten zählten Wildbret mit Strichlisten an der Höhlenwand: ||| oder *** als Ziffern. Dann später kam das Abstrakte, die Zahl. Zwei gleichlange konkrete Strichlisten, wie oben, stellen dieselbe abstrakte Zahl 3 dar, mit der man leicht rechnen kann, z.B. 3+4 = 7. Wissenschaft, die abstrakt sein muss, ist hochstilisierte Lebenswelt. Vergesst das nie in den Schulen! Lebenswelt ist ein zentraler Begriff der Philosophie.
Allgemein werden Zahlen nach Lorenzen über ein Strichkalkül dargestellt oder konstruiert(n⇒n|). Oder: n Striche beim Zählen werden konstruktiv überführt (⇒) in eine verlängerte Strichliste n|.
Im Abitur 2019 im Abschnitt A wird uns in der 1. Aufgabe sofort der Begriff „Funktion“ abverlangt. Was ist eine Funktion? Konstruktiv ganz einfach, wenn man weiß, was ein Term ist. Ein Term ist ein Ausdruck, der mit einer Konstanten z.B. ‚1‘ und einer Variablen (Veränderbaren) z.B. ‚x‘ durch eine Operation z.B. ‚+‘ gebildet (konstruiert) wird. ‚1+ x‘ ist ein Term, das Umdrehen ‚x+1‘ ‚ aber auch. Die Terme, x+1‘ und ‚ 1+x‘ sind aber gleich. Denn jede Zahl eingesetzt für x, ergibt für ‚x+1‘ wie für ‚1+x‘ denselben Wert (Zahl). Wir abstrahieren nun wie bei den Strichlisten ||| und ***: Zwei gleiche Terme ‚1+x‘ und ‚x+1‘ stellen dieselbe Funktion dar. Wie eine Zahl erzeugt wird, so erzeugt man konstruktiv eine Funktion, eben durch Abstraktion. Hat man die Abstraktion kapiert, flutscht vieles so durch.
Was ich sagen will: Mathe ist kein okkultes Fach. Mathe ist lebensweltlich wichtig und emporstilisiert. Das ist der Punkt, den ich machen will. Man muss es nur konstruktiv, herstellend machen und das Lebensweltliche immer sehen. Und die Schüler wissen doch, dass sie ihr Leben selber meistern müssen. Oder wissen die das nicht mehr? Wir wussten das nach dem Kriege (1939- 1945). Ich bin Jahrgang 1935. Man hat mich noch kurz vor Tores Schluss zum Jungvolk gebracht. Die Front war geräuschvoll schon bei Hammelburg 20 km entfernt. Das war der Nazi-Wahn, den ich leiblich erlebt habe. Hatten Nazis eine Vormeinung? Antwort: Ja, sicherlich, in Form einer Gesinnung (englisch „attitude“).
Lorenzen: „Die Philosophie hat keine Vor-Meinungen zu vertreten, sondern sie hat die Vor-Meinungen als ihren Gegenstand“.
Deshalb ist Philosophie so wichtig. Den Spott der vormeinenden Exakten und Politiker ertragen Philosophen gelassen. Die Anderen wissen ja selber nicht, was zu tun. Die schauen auf die Revolte in den Petitionen, wie auch auf die Revolte durch „Friday for Future“ wegen einer Vor-Meinung, man dürfe beliebig viel CO2 in die Atmosphäre pusten. Das ist aber nicht so, auch philosophisch-naturwissenschaftlich gesehen.
Man muss in der Philosophie begreifen, dass es um das eigene Leben geht. Und die Philosophie der Mathematik lehrt uns eine Abfolge von Konstruktion und Abstraktion, um überhaupt verstehen zu können, d.h.: Konstruktion, dann Abstraktion, dann wieder Konstruktion und wieder Abstraktion usw. Z.B: Eine Konstruktion über Strichlisten mit einer folgenden Abstraktion führt zu den Grundzahlen, dann eine Konstruktion auf dieser Basis mit einer dann folgenden Abstraktion führt uns zu den negativen Zahlen, dann wieder auf dieser Basis eine Konstruktion mit einer folgenden Abstraktion zu den rationalen Zahlen hin, dann wieder eine Konstruktion mit einer Folge von rationalen Zahlen und eine Abstraktion führt zu den reellen Zahlen, dann weiter über Konstruktion und Abstraktion zu den komplexen Zahlen hin. Nach heutigen Erkenntnissen ist dieser Aufriss das das Ende der Fahnenstange.
Mathematik ein Horrorfach? Muss das sein?
Nein, das muss nicht sein! Mathe is fun, even for girls.
Vor langer, langer Zeit habe ich mal, wie das so üblich ist, in einer mathe-leidgeprüften Gesellschaft in meiner Nachbarschaft Mathe-Nachhilfe gegeben. Und patsch, auf einmal saß ich da und wusste mit konstruktiven Mitteln nicht weiter. Es ging um das sehr problematische
„Warum ist minus mal minus gleich plus“,
über das die Lehrbücher hinweghuschten. Das war halt so und ich saß da mit meinen Schülern und wusste auch nicht weiter. Hoffentlich habe ich als fachfremder Emeritierter keinen Autoritätsverlust erlitten.
Was tat ich? Ich ging mit meinem Mathematiker-Kollegen Rüdiger Inhetveen zum Griechen essen und in Rede und Gegenrede kam das heraus, was ich nun anfüge. Lauter Konstruktion und Abstraktion bis zum Schluss, da stand es dann: (-1) mal (-1) = +1.
Das wird im Allgemeinen mit einem Springende Pferd der Mathematik übersprungen. Man braucht je nach Stand mehrere Tage mit Wiederholungen, um das schülergerecht zu präsentieren. An kritischen Punkten viel Zeit zu haben, ist wichtig in der Mathematik.
„Warum ist minus mal minus gleich plus?“
Darauf kann man verschieden antworten, unter anderem so:
- stur (axiomatisch): Das ist eben so!
- kindgemäß (didaktisch): minus bedeutet spiegeln.
- konstruktiv (methodisch): Das ergibt sich aus der Einführung der ganzen Zahlen via Konstruktion und Abstraktion.
Nur zum letzten Punkt soll hier eine Skizze folgen.
Vorausgesetzt werden die natürlichen Zahlen, aus Bequemlichkeit einschließlich der 0. Dann folgen 4 Schritte:
- Konstruktion eines neuen Bereichs: Zahlenpaare
- Definition einer Äquivalenzrelation und dann Abstraktion
- Definition einer neuen Addition und Multiplikation für die Abstrakta
- und zuletzt der ganz kurze Beweis für (−1) • (−1) = +1.
Zu 1: Wähle a, b, c, d, . . . aus N beliebig und schreibe geordnete Paare (in Klammern) hin:
(a, b), (a, c), (b, a), (c, d), . . .
Zu 2: Folgende Relation zwischen geordneten Paaren natürlicher Zahlen wird eingeführt:
(a, b) ≃ (c, d) ⇌ a + d = b + c
Hier bedeutet „+“ die Addition in N . Daß dies eine Äquivalenzrelation ist, kann jeder selber prüfen. Wir sprechen nun invariant bezüglich ≃ und nennen die Abstrakta ganze Zahlen. Den Sinn des Ganzen begreift man im nächsten Schritt.
Zu 3: Wir definieren für unsere Paare eine neue Addition ⊕ und Multiplikation ⊗ unter Benutzung der „alten“ Addition (+) und Multiplikation (•) in N:
(a, b) ⊕ (c, d) ⇌ (a + c, b + d)
(a, b) ⊗ (c, d) ⇌ (a • c + b • d, b • c + a • d)
Zu 4: Wir können uns wegen der Relation ≃ auf Repräsentanten beschränken, für die eine der beiden Zahlen in (a, b) die 0 ist. Dann repräsentiert (1, 0) die 1 und (0, 1) die −1. Jetzt rechnet man nur noch nach:
(0, 1) ⊗ (0, 1) = (1, 0)
That’s it!
Ist Mathematik nicht auch eine Sprache? Und würde die Präzision aus der Mathematik in den (natürlichen) Sprachgebrauch überführt, nicht zu einer Annäherung zwischen den zwei Kulturen, hier die Mathe und Naturwissenschaften und dort die Geistes- und Sozialwissenschaften, führen können?
Jeder sieht sofort ein, dass man von frühester Jugend an eindeutig und genau rechnen lernen muss. Warum wird diese Einsicht nicht mit der Frage: Warum nicht von frühester Jugend an eindeutig und genau sprechen lernen zwischen den beiden Kulturen in Einklang gebracht?
Auch Geistes- und Sozialwissenschaften könnten sprachbasierte als exakte Wissenschaften betrieben werden.
Ganz sicher ist Mathematik auch eine Sprache, nicht nur ein Kalkül.
Man sieht es in den Schulen an den Textaufgaben, die gefürchtet sind. Wir sagten früher „eingekleidete Aufgaben“. Es geht bei diesen Aufgaben darum, Begriffe in einer natürlichen Sprache in mathematische Begiffe zu übertragen. Im Speziellen sind häufig natürlich-sprachliche Begriffe aus der Physik, Geometrie, Ökonomie, Arbeitslehre, Gesellschaftslehre, Statistik, etc. gegeben. Allgemein spricht man auch von Modellbildung oder speziell von mathematischen Modellen, die entstehen.
H. Wedekind