Älterwerden

1) Handlung und Widerfahrnis

„Das Leben“ steht begrifflich im Zentrum des Älterwerdens. Das Leben hat einen Anfang und ein Ende. Den Anfang nennen wir Geburt und das Ende nennen wir Tod. Beide, Geburt und Tod, nennen wir Ereignisse, die wir als Widerfahrnisse auffassen. Das Verrinnen des Lebens nennen wir Älterwerden.  Der bekannte Prediger Romano Guardini (1885-1968) sprach von Los-Lösung. Was uns umgibt, nennen wir Lebenswelt, in die wir hineinwachsen und  dann wieder ausscheiden.

Widerfahrnisse sind Unverfügbarkeiten. Sie stehen den Handlungen, den angenommenen Verfügbarkeiten, gegenüber. Eine Handlung geschieht absichtlich und ist ein Vorgang. Verläuft dieser Vorgang absichtsfrei nennen wir ihn Verhalten. Ob ein Vorgang eine Handlung oder bloß ein Verhalten ist, ist eine Frage der Deutung. Hustet jemand, weil er erkältet ist, dann ist das ein Verhalten. Hustet jemand, um mir anzuzeigen, dass ein Freund den Saal betritt, dann ist das eine Handlung. „Handlung und Widerfahrnis“, 2016  im Blog behandelt,  ist ein großes Thema, das vor allem vom Erlanger Philosophen Wilhelm Kamlah (1905-1976) bearbeitet wurde. Widerfahrnisse sind also immer Ereignisse im menschlichen Leben, Geburt und Tod eingeschlossen, wenn wir den Freitod, d.h. also ein Selbst-Hand-an-sich-legen zunächst einmal ausschließen, weil der Freitod, früher auch Selbstmord genannt, eine Handlung und kein Widerfahrnis ist. Freitod ist die vorsätzliche, absichtsvolle Beendigung des eigenen Lebens.

Es gibt „Widerfahrnisse ohne Handeln, aber es gibt kein pures Handeln“, sagt Wilhelm Kamlah. Handeln verläuft in einem Meer von Widerfahrnisse. Wenn wir handeln, werden wir praktisch überschüttet mit Widerfahrnissen, die für uns gut oder schlecht sein können. „Gut“, das sind dann „happy events“; „schlecht“, dann sprechen wir von Unglück, Misere, Unfall oder einfach   Schicksal. Nur Menschen widerfährt etwas.  Wenn mein Haus abbrennt widerfährt mir etwas, mein  Haus, der Gegenstand, weiß nichts davon und brennt schlicht ab. „Handlung und Widerfahrnis“ sind  tief humane Begriffe des menschlichen Lebens.

 

2) Die Sinnfrage:   Was soll das Ganze,  zwischen Geburt und Tod?

Wir leben in unserer Lebenswelt nicht alleine und haben ein Verhältnis zu unseren Mitmenschen aufzubauen. Ein Teil der Sinnfrage kann über dieses Verhältnis geklärt werden. Es gibt eine defensive uns eine offensive Antwort. Defensiv bedeutet, ich darf meinen Mitmenschen keinen Schaden zufügen. Man kann auch sagen, ich darf nicht parasitär sein und auf Kosten anderer mein Leben zu fristen trachten. Ein Parasit tut das aber. Offensiv heißt, ich muss meinen Mitmenschen helfen, wenn sie der Hilfe bedürfen. Statt Parasit wird in offensiver Sicht  ein Symbiont verlangt. Symbiose, das ist das Zusammenleben ungleicher Lebewesen zu gegenseitigem Nutzen. „Hilfst Du mir, dann helfe ich Dir“, ist der Wahlspruch der Symbionten. Man muss bei der Sinnfrage aber auch an sich selber denken. Man soll mit seinen Fähigkeiten redlich umgehen und nicht  an Trivialitäten verschwenden.

Die Sinnfrage, so wie sie hier formuliert wurde, verlangt eine Transsubjektivität, d.h. man sollte über sein eigenes Subjekt, sein Ego;  hinauswachsen, was natürlich eine hohe Kunst ist. Denn die eigene Subjektivität wird zur Disposition gestellt. Das ist schwer und will gelernt sein. Der Begriff „Transsubjektivität“ stammt von Paul Lorenzen (1915-1994) und hat einen philosophischen Tiefgang.

 

3) Altern will gelernt sein

Die Überschrift dieses Abschnitts stammt aus dem Buch des Tübinger Philosophen Otfried Höffe.  Sein Buch trägt den Titel „Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des  guten Lebens“. Der Ausdruck „Gutes Leben“ geht auf Aristoteles zurück. Danach strebt der Mensch in seinem Handeln, um das Ziel eines  guten Lebens zu erreichen. Man sagt auch „Eudämonia“, aus dem Griechischen, und bedeutet eine gelungene Lebensführung, die anzustreben sei. Definiert wir,  das  Gute Leben leider nicht. Man muss sich etwas genauer mit dem befassen, was wir Leben nennen. Dann kann die Vielschichtigkeit  des Lebens  und  die Veränderungen bei Altern erkennen.

Aristoteles hat uns auch eine Schichtenlehre des Lebens vermittelt

Bild :  Schichtenlehre des  Aristoteles

„Hyle“ ist das griechische Wort für die physikalische, leblose Masse. „Ding“ ist der Gegenstand. Schicht 1 und 2 befassen sich also mit leblosen Gegenständen und sind im Erkenntnisbereich der Physik.  Bei Schicht 1 un2 spricht man im Wissenschaftsjargon auch von Somatologie als die Lehre von den leblosen Körpern. Physik ist also eine somatologische Wissenschaft.

Auf Schicht 3, die Biosphäre der Biologie, kommt Leben in uns. Es findet in unserem Körper ein Stoffwechsel (auch Metabolismus genannt) statt, den Tiere auch haben. Das typisch Menschliche kommt aber erst  auf Schicht 4 und 5.  Die  Seele, die Psyche wird einem nach klassischem Vorbild eingehaucht. Der Körper wird beseelt  Die Griechen sprachen vom Pneuma (lat. spiritus).  Über der Psychosphäre steht aber noch das Geistige, das Noumen, das von Tieren nicht mehr geteilt werden kann. Das Noumen ist der Sitz  der Vernunft, die sich den Verstand nach Immanuel Kant  als einen Angestellten hält.

Mit dem Tod verschwinden die Schichten des Aristoteles. Die Pyramide kollabiert und es bleibt nur die unterste  somatologische Schicht  mit einem toten Körper übrig. Mit der Geburt beginnt der Aufbau der Pyramide, mit dem Tode folgt der Abbau, langsam oder plötzlich.

Älterwerden heißt Reduktion in fast allen Belangen. Auf allen Ebenen wird es weniger. Und wie damit umgehen, das beschreibt Otfried Höffe in seinem Buch. Wir können hier nur einige Aspekte dieses Buches wiedergeben.

Aspekte des Älterwerdens: Wie kann man  körperlichen und geistigen Funktionsabbau mildern und erträglich gestalten. Es gibt eine Wissenschaft des Älterwerdens. Sie heißt Gerontologie. Sie untersucht „Alterungsvorgänge unter biologischen, medizinischen, psychologischen und sozialen Aspekten, und betrachtet die mit der Alterung verbundenen Phänomene, Probleme und Ressourcen“.

Der Begriff „ Versorgung“ (engl. Povision)  steht im Mittelpunk. Versorgen heißt, jemandem, was er dringend braucht (englh need), zukommen zu lassen. Von besonderer Bedeutung sind drei Versorgungsarten:

Die medizinische Versorgung

Die Versorgung mit Pflege

Die Versorgung mit Finanzmitteln (Rente, Altersruhehalt)

Die zentrale Frage für den alternden Menschen ist die Planbarkeit seiner Versorgung im Alter.  Eine Lebensplanung schützt, aber garantiert nicht  vor desaströsem Altwerden in einer totalen, wenn die Funktionsfähigkeit langsam oder rapide abnimmt. Die hohe Kunst des Alterns ist seine Planung,