Widerfahrnis und Handlung

Zur Anthropologie des Wilhelm Kamlah

(Eine Einleitung zum dann folgenden Beitrag von Prof. Fischer zum Thema: „Sind alle Notleidenden unsere Nächsten?“)

1) Zum Begriff „Lebenswelt“

„Lebenswelt“, ein Begriff von Edmund Husserl (1859-1938), bezeichnet eine vorwissenschaftliche Welterfahrung, die auf keine theoretisch vermittelte Welterfahrung sowie Sprach-und Wissenschaftskonstruktion zurückgreift. Für einen „Blogger“ ist das eine herrliche Ausgangsposition, weil er zu einem anonymen Publikum spricht, mit dem er nur ein gemeinsames Erleben teilt, das Erleben von „jedermann“. Zur Lebenswelt gehört alles, was uns täglich umgibt. Jeder hat normalerweise sofort Zugang zu dem, was lebensweltlich beschrieben wird. Für Wissenschaften, wie z.B. eine philosophische Phänomenologie (Husserl) oder eine konstruktive Wissenschaftstheorie, ist „Lebenswelt“ eine Basis, auf die man sich beziehen und auf der man aufbauen kann. Man muss nur einige Wörter des täglichen Sprachgebrauchs geordnet an Beispielen einführen, um für „jedermann“ verständlich zu werden. Zu diesen Wörtern gehören „Widerfahrnis“ und „Handlung“.

2) Widerfahrnis und Handlung in unserer Lebenswelt

Es war der Erlanger Philosoph Wilhelm Kamlah (1905-1976), der das alte Begriffspaar „Widerfahrnis und Handlung“ u.a. in seiner „Philosophischen Anthropologie – Sprachkritische Grundlagen der Ethik (1973)“ neu entdeckt hat. Der erste Teil darin heißt denn auch „Explikation einiger Erfahrungen von Jedermann“. Für Wilhelm Kamlah ist Widerfahrnis eine Unverfügbarkeit (logisch Kontingenz genannt), ein Ereignis, dem der Mensch ausgesetzt ist „ohne etwas dafür tun zu können“. Alltagssprachlich sagt man, dass einem etwas zustößt, was nicht die Folge oder Wirkung seines eigenen Tuns ist, also einen unvorbereitet „trifft“. Widerfahrnisse sind also immer Ereignisse im menschlichen Leben, Geburt und Tod eingeschlossen, wenn wir den Freitod, d.h. also ein Selbst-Hand-an-sich-legen zunächst einmal ausschließen, weil der Freitod, früher auch Selbstmord genannt, eine Handlung und kein Widerfahrnis ist. Freitod ist die vorsätzliche, absichtsvolle Beendigung des eigenen Lebens.
Für Menschen gibt es glückliche und verheerende Widerfahrnisse. Einer Sache, wie z.B. einem Haus oder einem Auto widerfährt oder passiert nichts. Nur dem Eigentümer oder Besitzer widerfahrt etwas, z.B. im Falle eines Unfalls oder eines Brandes. Ein Widerfahrnis ist immer ein Ereignis. Und was ist ein Ereignis? Ein Ereignis ist als Ganzes betrachtet ein Vorgang, wobei man vom Ablauf des Vorganges absieht. Wir feiern die Geburt eines Kindes als ein freudiges Ereignis. „Das Kind ist da“ heißt das Ereignis. Der Geburtsvorgang, der Ablauf, ist gynäkologisch bestimmt und ist die Angelegenheit der Gebärenden und der Geburtshelfer. Das Ereignis wird gefeiert und nicht der Vorgang, der zum Ereignis führte.
Wenn wir einen Vorgang betrachten, der zu einem Ereignis führt, so müssen wir immer unterscheiden, ob dieser Vorgang ein natürlicher ist (blitzen und regnen), oder ob der Mensch als Ausgangspunkt des Vorgangs angesehen werden kann.
Wir sitzen z.B. in einem Saal und ein Mensch vor uns hustet. Ist er erkältet, dann verhält er sich hustend. Das Husten als Ereignis widerfährt ihm. Hustet er aber um seinen Nachbarn etwa darauf aufmerksam zu machen, dass ein Kollege den Saal betritt, dann liegt kein Verhalten (engl. behaviour), sondern eine Handlung (engl. action) vor. Eine Handlung ist immer absichtsvoll. Es ist also, von außen betrachtet, eine Sache der Deutung herauszufinden, ob ein Vorgang eine Handlung oder ein Verhalten ist. Wir erfahren z.B. etwas über die Tötung eines Menschen durch einen anderen. Und sofort kommt die Frage auf, war das absichtlich. Dann nennen wir die Tat „Mord“, wenn verwerfliche Beweggründe vorliegen. Ohne diese Beweggründe ist die Tat ein Totschlag. Wir sind ganz allgemein die Täter unserer Taten, sagt ein Sprichwort. Konnte der Mensch nichts dafür, war er kein Täter, dann war der Vorgang eine reine Tötung und das Ereignis ist für ihn ein Widerfahrnis. Es widerfuhr ihm, einen anderen getötet zu haben. Jetzt entsteht aber sofort die Frage: Hat der Mensch nicht doch fahrlässig (engl. negligent) gehandelt mit Betonung auf dem Wort „handeln“? Anthropologisch gibt uns und Wilhelm Kamlah eine Richtschnur vor. „Es gibt Widerfahrnisse ohne Handeln, aber es gibt kein pures Handeln“ (S.35). Was kann beim Handeln nicht alles passieren? Handeln geschieht in einem Meer von Widerfahrnissen. Deshalb auch immer die Frage nach der Fahrlässigkeit. Hätte z.B. der tötende Mensch nicht doch Vorkehrungen treffen können und müssen, damit das Töten nicht passiert? Nein, so eine Antwort, hätte er nicht. Oder doch? Wie müssten die Vorsichtsmaßnahmen (engl. precautions) dann ausgesehen haben (bitte im Detail). Der Dialog über Handlung oder Widerfahrnisse ist in vollem Gange und kann hier nicht zu Ende geführt werden. Man merkt, es geht beim Deuten nicht um ein Erklären, sondern um ein Verstehen, um ein Handlungsverstehen, das von einem Textverstehen abzugrenzen ist.
Zum Abschluss:
Der Berliner Philosoph Oswald Schwemmer (früher Erlangen) nannte das anthropologische Werk Wilhelm Kamlahs genial einfach in Sprache und Aufbau. Auch so etwas gibt es in der Philosophie. Das ist aber selten.
Zur Geschichte des Wortes „Widerfahrnis“, das im Englischen keine Entsprechung hat. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie lesen wir unter „Widerfahrnis“: „Das Verbum ist im theologischen Sprachgebrauch früh präsent und wird besonders durch die Bibelübersetzung M. Luthers gebräuchlich (Gnade, große Freude, Heil und Barmherzigkeit, aber auch Blindheit und Anfechtung „widerfahren“ dem Menschen). In der zweiten Hälfte des 20. Jh. – nach den beiden Weltkriegen – hat „Widerfahrnis“ häufig verknüpft mit dem Begriff „Unverfügbarkeit“ Konjunktur.“

Ein Kommentar zu „Widerfahrnis und Handlung

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