1) Der Vertrag von Maastricht (1992).
Von einem Prinzip spricht man, wenn nicht von einem schlichten Begriff die Rede ist, sondern auch Begriffe gemeint sind, die erst in der Zukunft eingeführt werden. Auch für diese soll das Prinzip gelten. „Ein Prinzip ist das, aus dem ein anderes seinen Ursprung hat“ (Wikipedia). Diese Eigenschaft haben normale Begriffe nicht. Ein Prinzip ist also etwas, was aus der normalen Begriffsbildung herausragt.
Ein großer Teil unseres politisch-sozialen Lebens ist subsidiär zu verstehen (vom Lateinischen „subsidium“ = Beistand, Unterstützung). Man fordert z.B. alte Menschen auf, so lange wie eben möglich ohne fremde Hilfe die eigenen Geschäfte zu betreiben; erst wenn das nicht mehr geht, sollte subsidiär gehandelt werden, d.h. man sollte bei-stehen, auch bildlich gesprochen. Schon seit der Reformationszeit hat man sich um die Formulierung des Prinzips bemüht. Erst eine Serie von päpstlichen Enzykliken hat das Prinzip auch politisch populär gemacht. Zu nennen sind: „Rerum Novarum“ (1891) von Leo XIII., „Quadragesimo anno“ (1931) von Pius XI. und „Pacem in terris“ (1963) von Johannes XXIII.
Das Prinzip ist dann im Zuge der Schaffung einer Europäischen Union ins Grundgesetz übernommen worden, Art.23 (Europa-Artikel, 1992). Es heißt da: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Im Maastricht-Vertrag (1992) steht in Art 3b: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht kommenden Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“. (Bemerkung: Das schlechte Deutsch lässt Unterbezahlung der Übersetzer vermuten).
Das Subsidiaritätsprinzip nach Art. 3b wird durch die berühmte Nicht-Beistands-Klausel (No- Bailout-Klausel) nach Art. 104b des Maastricht-Vertrages gesetzestechnisch ergänzt. Es heißt hier: „Die Gemeinschaft haftet nicht für Verbindlichkeiten der Zentralregierungen.“ Es bleibt also in Sachen Verbindlichkeiten bei der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten. Es gibt keinen Länderfinanzausgleich wie unter deutschen Bundesländern. Als Idealvorstellung wollen Europäer als Symbionten zu gegenseitigem Nutzen leben. Parasitäres Verhalten, das dem Symbionten biologisch entgegensteht, wird abgelehnt. Eine Transferunion ist auszuschließen. Subsidiarität fordert zur Selbstorganisation auf. In der Enzyklopädie von Mittelstraß heißt es: „Insoweit das Subsidiaritätsprinzip nicht nur auf Grund von Selbstbestimmungsidealen, sondern auch unter Effizienzgesichtspunkten gerechtfertigt werden kann, bildet es einen Spezialfall der im Entstehen begriffenen allgemeinen Komplexitätstheorie, die in vielfältigen Bereichen (von der Computerarchitektur über die Evolutionstheorie bis zur Wirtschaftspolitik) die Vorzüge von „Bottom-up-Ansätzen“ gegenüber „Top-down-Ansätzen“ nachzuweisen sucht (Selbstorganisation).“ Wichtig ist die Feststellung, dass Subsidiarität nicht isoliert nur im Hinblick auf staatliche Institutionen gesehen werden sollte. „Bottom-up“ und „Top-down“ sind zwei herausragende Denkansätze im Systementwurf und in der Systembeschreibung.
2) Erreichbarkeit als zentrales Problem
Art 3b schildert eine Situation, einen Sachverhalt, der für die Gemeinschafts- und Mitgliedstaaten zutreffen muss, um wirksamen zu werden. Natürliche Sprachen verfügen über Mittel, etwas über die Modalität, die Art und Weise von Situationen auszudrücken. Insbesondere kann dargestellt werden, ob etwas notwendig oder möglich ist, z.B. „der Sachverhalt A ist notwendig“. Die darauf aufbauende Logik nennt man „Ontische Modallogik“. Auch ein Verbot oder ein Erlaubtsein sind klassische Modi. Die entsprechende Logik heißt „Deontische Modallogik“. Diesen theoretischen Modallogiken steht eine Praktische Modallogik gegenüber, die sich auf dem Modus „erreichbar“ gründet. Wenn einer sagt: „Ich kann die Situation A erreichen“, dann kann man das mit „Err A“ abkürzen. Wenn ein Mitgliedstaat im Sinne von Art. 3b „Err A“ behauptet, dann ist angezeigt, dass er kein „subsidium“, keinen Beistand in Anspruch nehmen kann.
Unerreichbarkeit (Unerr A)? Das ist die große europäische Frage.
Bei einem „Unerr A“ wegen „Umfang und Wirkung“ darf nach Art 3b ein Mitgliedstaat einen Beistand erwarten, wenn eine Gemeinschaftsaufgabe, die alle betrifft, zur Debatte steht. Evidente Gemeinschaftsaufgaben sind z.B. Grenzsicherungen, Handelsverträge mit Staaten außerhalb der EU, Erreichen gemeinsamer Klimaziele u.a. Als national unerreichbar müssen nach dem Prinzip der Subsidiarität alle Maßnahmen gelten, die durch den Europäischen Strukturfond abgedeckt sind. Es gibt 12 Einzelfonds, von dem Fonds zur regionalen Entwicklung über den Kohäsionsfonds, den Garantiefonds für die Landwirtschaft bis zum Fonds zur Förderung von Kleinstkreditinstituten in Europa. Die bereitgestellten Mittel umfassen mehr als ein Drittel des Gesamthaushaltes der EU. Wir haben das natürlich unter dem Aspekt der Subsidiarität zur Kenntnis zu nehmen. Denn die Subsidiarität steht ganz am Anfang, ist also die Grundlage der Strukturfonds. Für Strukturfonds heißt subsidiär: „Anders nicht erreichbar“. Denn es wäre ja ungesetzlich, wenn Mitgliedstaaten einzeln oder auch untereinander bilateral das erreichen könnten, was in den Strukturfonds beschrieben wird. Anders gefragt: Sind Strukturfonds „Bottom-up“ oder „Top-down“ entworfen worden?
Die Unerreichbarkeit ist auch ein wesentlicher Bestandteil der praktischen Modallogik. Die praktische Modallogik stellt die folgenden praktischen Schlüsse bereit (siehe P. Lorenzen: „Über Praktische und Theoretische Modalitäten“), „Aus Notwendig A, folgt Err A“ und ebenfalls „aus einem Geboten A, folgt Err A“. Oder: „Du sollst, denn du kannst“ heißt es bei Kant. Als Umkehrung (Kontraposition) folgt dann der berühmte römische Richterspruch „Wenn Unerr A, dann folgt ein Nicht-Geboten A“, oder „Ultra posse nemo obligatur“. Oder anders: „Ich darf ausscheren, wenn ich nicht kann, es sei denn, die EU hilft mir, so dass ich kann.“
Das Erreichbare kann leicht sozial-psychologisch verdünnt werden. Wir benutzen in leichter Abwandlung im Folgenden ein Bild von Lorenzen. Ein Sportlehrer steht mit seinen 27 Schülern in einem Schwimmbad auf dem 10m-Turm. Jeder Schüler kommt aus einer anderen EU-Nation. Es wird keinerlei Kunstsprung verlangt, sondern nur ein bloßes Springen – egal wie – das kann eigentlich jeder, aber viele tun es trotzdem nicht. Schließen wir Lernen durch Gewalt aus, so „können“ es erfahrungsgemäß viele nicht. In psychologischer Differenzierung sagt man dann, dass sie nicht springen „mögen“ oder nicht springen „wollen“.
Da haben wir das Problem der Erreichbarkeit im Schwimmbad auf dem 10m-Turm. Später im Leben wird es für die Schüler nicht anders aussehen. Die Schüler auf dem 10m-Turm repräsentieren die EU Mitgliedstaaten. Das Springen bedeutet z.B. „von der EU möglicherweise kontingentiertes Aufnehmen von Flüchtlingen, insbesondere Muslime“. Psychologisierend „mag“ man nicht, und darüber hinaus will man auch nicht. Die alten Regeln der kritischen Vernunft werden außer Kraft gesetzt. Wer behauptet, er könne springen, der springe (hic salta!). So steht’s bei Paul Lorenzen.
Der modallogische Sachverhalt „A ist erreichbar“ (Err A), hat zwei wichtige Voraussetzungen. Einmal müssen die Mittel inkl. Planung und Organisation bereitstehen, zum anderen aber auch der Wille, und die Tatkraft, um das auch zu tun, was man erreichen will. Bloßes Reden zählt nicht. „Hic Rhodos, hic salta“. Man ist weit davon entfernt, über den kategorischen Imperativ, der eine Universalisierung des Willens verlangt, in der Europapolitik ernsthaft zu reden.
3) Was ist aus Maastricht geworden: Wirtschaftliches Gefälle abbauen
Das Hauptkredo der Strukturfonds heißt „Wirtschaftliches Gefälle abbauen“. Gefälle bedeutet, was für einige Mitgliedstaaten erreichbar ist, ist für anderer unerreichbar. Oder man setzt abstrakte Ziele, die für alle Mitgliedstaaten unerreichbar sind. Dann besteht das Gefälle hin zur Abstraktion. Alles geschieht unter der Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips, d.h., wenn ein Mitgliedstaat sagt „ich kann A erreichen“ (ErrA), darf Brüssel nicht Unerr (A) behaupten. Das ist eigentlich trivial. Und doch geschieht es. Wenn z.B. Deutschland behauptet, mit Hilfe einer Ausländer-Maut für PKWs eine deutliche Erleichterung bei der Finanzierung der gigantischen Ausbaukosten der viel von Ausländer befahrenen Verkehrswege erreichen zu können, dann darf Brüssel nicht von Unerreichbarkeit sprechen und eine ungleiche Behandlung der Partner ins Feld führen, nur weil Deutsche die Maut mit der Kfz-Steuer verrechnen dürfen. Wie die Deutschen das machen, ist eine reine deutsche Angelegenheit. Wenn Brüssel will, dass die Bevölkerungen, wie die Engländer, zornig werden, dann muss es nur so weiter machen. Man sollte von Brüssel und von den Mitgliedstaaten strikte Einhaltung auch des Maastricht-Vertrages verlangen. Das gilt natürlich auch für die Defizit- und Verschuldungsregeln im Vertrag, die reihenweise gebrochen wurden, was leicht erreichbar, aber nicht erlaubt ist.
Wenn das Gefälle (Err-Unerr) zu einer Machtdemonstration der Brüsseler Behörden führt, ist die EU am Ende. Sie vegetiert dann nur noch als ein hohler Körper dahin. In der Politologie nennt man das eine Verflechtungsfalle. Man erkennt, einen Fehler gemacht zu haben, kann ihn aber nicht mehr korrigieren, weil zu viel politische Akteure beteiligt sind. Eine Reform der EU erscheint unter diesem Aspekt aussichtslos, was die Engländer mit ihrem Brexit offensichtlich auch erkannt haben. Im Europaparlament sitzen ost-europäische Abgeordnete, die vor Fernsehkameras zugeben, nur Parlamentarier zu sein, um vom „Top“ möglichst viel an finanziellen Mitteln für sein „Bottom“ heraus zu holen. Das ruiniert die Gemeinschaft, falls sie noch nicht ruiniert ist. Europäische Strukturpolitik ist heute eine Top-Down-Politik und arbeitet von oben nach unten, um das Unerreichbare unten von oben erreichbar zu machen. Nur Geld löst keine Probleme nachhaltig. Die Strukturpolitik müsste aber „Bottom-Up“ vorgehen, von unten das Unerreichbare konstruktiv beseitigen (u.a. auch mit Geld), schrittweise, zirkelfrei und alles explizit machen. Es geht ja im Kern auch nicht um finanzielle Mittel. Es geht um Know-how, das nicht vorhanden ist, auch im IT-Bereich. Straßen, die im Niemandsland (terra nullius) enden (wie in Spanien), kann es dann nicht mehr geben, weil es eine konstruktive Verkehrsplanung gibt. Das Subsidiaritätsprinzip ist methodisch zunächst „Bottom-up“ zu verstehen, was auch, wie oben dargestellt, in der Mittelstraßschen Enzyklopädie gefordert wird. „Komplexitätsüberwindung durch Konstruktion“ heißt ein weiteres Thema, dem wir uns noch zuwenden müssen.