Das Invariante bleibt: Eine Studie zum Begriff der Nachhaltigkeit

1) Edsger W. Dijkstra und die Nachhaltigkeit in der Lehre.

Der berühmte Informatiker Edsger W. Dijkstra (1930-2002), Turing-Preisträger 1972, „aus dem Lande am Meer“, den Niederlanden, schrieb 1997 in dem viel beachteten Buch „Beyond Calculation, The next fifty years of computing“ (Hrsg.: P. J. Denning, R. M. Metcalfe) einen Beitrag mit der Überschrift „The Tide, not the Waves“ (die Gezeiten, nicht die Wellen). In seiner Urform gibt es den Aufsatz auch im Internet.

Um ins Thema hineinzufinden, soll ein Teil der Einleitung Dijkstras ins Deutsche übersetzt werden. Er schreibt: „Als mir die Idee kam, über die nächsten fünfzig Jahre der Informatik zu schreiben, habe ich den Gedanken erstmal als völlig absurd beiseitegeschoben: Welcher vernünftige Wissenschaftler kann behaupten, in der Lage zu sein, so weit in die Zukunft zu blicken? Aber dann wurde mir klar, dass das in gewisser Weise genau die Aufgabe ist, die von Pädagogen verlangt wird: Wenn wir unsere Lehrveranstaltungen planen, wagen wir es, darüber zu entscheiden, was gelehrt werden soll und was zu ignorieren ist, und wir tun dies zum Wohle der Studenten, von denen viele noch in vierzig oder fünfzig Jahren aktiv im Berufe stehen. Sicherlich, eine Vorschau ins nächste halbe Jahrhundert sagt uns, dass Informatik immer noch im Einsatz ist. Aber die Kristallkugel, in die wir schauen, ist viel zu nebelig, um Einzelheiten zu erkennen.“ Und dann geht der Autor auf das ein, was sich in den letzten 35 Jahren vor 1997 in der Informatik alles ereignet hat. Er gibt zu, von alldem vor 35 Jahren keinen blassen Schlimmer gehabt zu haben. Aber trotzdem: Er beendet die Einleitung mit der Metapher: „When building sand castles on the beach, we can ignore the waves but should watch the tide“ (Wenn wir am Strande Sandburgen bauen, brauchen wir uns um die Wellen nicht zu kümmern, müssen aber sehr wohl die Gezeiten im Auge behalten.

2) Nachhaltigkeit und Invarianz.

Das ist Dijkstras anschauliche Darstellung des Begriffs „Nachhaltigkeit“ (sustainability), aus der Perspektive der Lehre. Der Begriff stammt aus der Forstwirtschaft, die ein tristes Abholzen ohne Wiederaufforsten und damit ein Verwüstung in den Mittelmeerstaaten in den vergangenen Jahrtausenden vor sich sah. Aber in der Lehre ist Nachhaltigkeit ein ganz wesentlicher Aspekt, und wir hoffen, dass unsere Kultusbehörden und Lehrer vor Ort die Worte Dijkstras tief verinnerlicht haben. Stumpfsinniges Vortragen von Lehrinhalten über Jahre nach dem Motto „das war immer schon so“ ist wie Abholzen, das zur Verwüstung führt.

In den exakten Wissenschaften spricht man nicht von Nachhaltigkeit, sondern von Invarianz (Unveränderlichkeit). Invarianz ist seit Frege (1848-1925) die Grundlage einer konstruktiven Abstraktion. Die konstruktive Abstraktionslehre ist nicht ganz einfach zu verstehen. Redet man z.B. mit Juristen, die Abstraktion seit ihrem Savingy (1797-1861) als ein simples Trennen begreifen, so stößt man auf größtes Unverständnis. Erklärt man einem Juristen, dass eine ganze Zahl ein Abstraktum ist und durch Abstraktion aus konkreten Ziffern (z.B. Strichliste, römischen, arabische oder indischen Ziffern) gewonnen wird, schaut er ungläubig in die Welt. Eine Zahl ist invariant (unveränderlich) bezüglich ihrer Darstellung im Konkreten als Ziffer. Ein Zahl ist gerade oder ungerade, prim oder nicht prim, nicht rot oder grün, weil hier die Begriffsbildung der Arithmetik gilt, die keine Farben kennt. Eine Ziffer ist hingegen nicht gerade oder ungerade, weil es auf dem Niveau der Ziffern noch keinen Begriff der Teilbarkeit gibt. Eine Zahl ist nicht rot oder grün, ihre darstellenden Ziffern mögen rot oder grün sein. Eine abstrakte Zahl kann auch nicht an eine Tafel geschrieben werden, nur die sie darstellende Ziffern. Ähnliches gilt für Begriffe, auch für juristische Begriffe, die ebenfalls nicht an eine Tafel geschrieben werden können. Man schreibt konkrete Wörter an die Tafel. Sie entstehen über gleichbedeutende (synonyme), konkrete Wörter, z.B. „Vertrag“ und „contract“. Begriffe bleiben aber in ihrer Bedeutung invariant (unveränderlich) bezüglich der konkreten Darstellungen in welchen Sprachen auch immer. Man meint ja nicht das Wort „Vertrag“, das sieben Buchstaben hat, man meint den juristischen Begriff „Vertrag“. Das Wort Vertrag ist konkret, der Begriff „Vertrag“ ist abstrakt. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Der Jurist soll Begriffe erlernen und keine Wörter. Er soll abstrakt denken und sich nicht in konkreter Wortakrobatik ergehen. Das kann er den Politikern überlassen.

 „Das Invariante bleibt“, der Satz im Titel ist schon analytisch war, d.h. im Wort „Invarianz“ ist das „Bleiben“ schon angelegt. Das gilt auch für den Satz „das Nachhaltige bleibt“. Klassisch bezüglich analytischer Wahrheiten ist bei Kant der Satz „Junggesellen sind unverheiratet“; denn im Begriff „Junggesellen“ ist das „Unverheiratet-sein“ schon vorhanden.

Spannend ist nun die Frage, was den Begriff „Invarianz“ der exakten Wissenschaften vom Begriff „Nachhaltigkeit“, der auch in der Politik mittlerweile hochwillkommen ist, aus der Forstwirtschaft unterscheidet. Der Unterschied kommt klar in der Wortverwendung zum Ausdruck. (Frei nach Wittgenstein: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“.)

Wer den Begriff „Nachhaltigkeit“ benutzt, denkt wie Dijkstra oder die Förster in langfristigen Zeithorizonten. Das müssen wir auch, weil wir in unserem Leben verhaftet sind. Wir zeugen Kinder u.a. in der Hoffnung, dass wir in ihnen in Gedanken weiterleben. Wir erarbeiten uns Existenzen, auch um sie weiter zu vererben. Das ganze Erbrecht ist auf Nachhaltigkeit angelegt: Man will erhalten, es soll nicht vergehen. Das gilt auch für wissenschaftliches Arbeiten. Eintagsfliegen und simple Moden sind im nachhaltigen Denken nicht gefragt. Man fordert ja auch den weitsichtigen Staatsmann und nicht den Politiker, der bis zur nächsten Wahl nur denken kann. Nachhaltig bedeutet auch: „Beyond our times, über unser Leben hinaus“.

Schlicht betrachtet hat „Invarianz“ mit einem Zeithorizont und unserem endlichen Leben nichts zu tun. Abstrakte Zahlen, Platonische Körper, Begriffsbildung, Software-Architekturen, Fertigungs-Hierarchien und vieles mehr werden zeithorizont-frei invariant gegenüber Konkretem konzipiert. Abstraktion, invariantes Denken, ist ein bedeutendes Hilfsmittel zur Komplexitätsreduktion. Technische Konstrukte werden dann und wann angepasst, sie versionieren von einer Gültigkeit zur nächsten. Mathematische und logische Wahrheiten bleiben auf ewig, hier wird nicht versioniert, nur verbessert, aber das Wort „Aktualität“ spielt eine große Rolle.

3) Unser eigenes Leben als Zeithorizont.

Zwischen keinem Zeithorizont der Invarianz und einem beschränktem Zeithorizont der Nachhaltigkeit, der auch in Äonen (in aller Ewigkeit sagt man auch) liegen kann, gibt es den Zeithorizont des eigenen Lebens, der für den einzelnen Menschen als Individuum höchstbedeutsam und absehbar ist. Was soll bleiben, wenn das eigene Leben vorbei ist? Das ist u.a. eine philosophische Frage. Paul Lorenzen (1915-1994) meint dazu: „Das Philosophieren lässt sich nicht lehren, weil es nicht zu erzwingen ist, dass der Lernende das Gelernte auf sein eigenes Leben anwendet – ja, dass er überhaupt bemerkt, dass es um sein eigenes Leben geht (in: „Methodisches Denken“, 1965). Versuchen wir in Betroffenheit das eigene Leben spontan auch ohne philosophische Belehrung zu verstehen, so kann es sich doch nur um das handeln, was man den Sinn des Lebens nennt. Der Sinn des Lebens soll bleiben. Wenn das Leben sinnlos sein soll, dann nennt man das auch Nihilismus. Statt Sinn des Lebens kann man auch griffiger Richtung des Lebens sagen. Wir Menschen sind unterschiedlich konstituiert. Da gibt es die Emotionsorientierten, die Philanthropen, die Religiösen, die Rationalen; alle versuchen, ihrem Leben einen Sinn zu geben. In einer freiheitlichen Ordnung können und sollen sie das auch. Die Frage entsteht, wie kann man den Sinn eines Lebens sprachlich fassen. Es gibt zwei bekannte Möglichkeiten, die Autobiografie und die Biografie. Wegen der vermutlich höheren Objektivität sind Biografien vorzuziehen. Wenn man z.B. die Biografie über Goethe von Rüdiger Safranski liest, der das Schreiben von Biografien zu einer Kunstform entwickelt hat, dann erkennt man unmittelbar den Sinn, den ein Goethe seinem Leben gegeben hat. Und dieser Sinn war und ist noch sehr nachhaltig. Gleiches gilt auch für die vielen Biografien über Immanuel Kant, die den Sinn seines Lebens sehr einprägsam mitteilen. Was für die Großen gilt, gilt auch für die Kleinen, für die kein großer biografischer Aufwand getrieben wird. Selbstreflektion über sein eigenes Leben macht einem den Sinn seines Lebens deutlich, auch ohne gelehrte Philosophie. So gesehen ist jeder ein Philosoph, wenn er in der Lage ist, auch unliebsame Wahrheiten zu ertragen.

Vaclav Havel (1936-2011), der ehemalige Präsident der Tschechischen Republik, hat den Zusammenhang sehr schön dargestellt, wenn er sagt: „Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“

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