Die Würde des Menschen

– Ein Kommentar zum TV-Film „Terror“ (ARD 17.10.16) von F. v. Schirach –

1) Zur Philosophie Immanuel Kants zum Thema Menschenwürde und der Art. 1 des Grundgesetzes.

Art. 1 Grundgesetz Absatz 1:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Wer diese beiden großartigen Sätze verstehen will, ist auf die Philosophie Immanuel Kants (1724-1804) angewiesen. Denn es kann kein Zweifel bestehen, dass unsere Verfassungsväter beim Original „Immanuel Kant“ die Gedanken ausgeborgt haben, die in diesen Sätzen stecken. Art. 1 GG Abs. 1 ist ein Kind der Aufklärung. Die voraufklärerischen Kirchen kannten den Begriff „Würde des Menschen“ nicht.

Das Thema „Würde des Menschen“ ist in Kants Werken verstreut vorzufinden. Hervorzuheben sind aber Kants ethische Schriften zum Generalthema „Was soll ich tun?“, als da sind in chronologischer Folge: „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (GMS, von 1785), „Kritik der praktischen Vernunft“ (KpV, von 1788) und „Metaphysik der Sitten“ (MS, von 1797).

In seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ führt Kant den Begriff „Reich der Zwecke“ (S.70 der Reclam-Ausgabe) ein. Er schreibt. „Ich verstehe unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“. Gesetze bestimmen nach Kant „die Zwecke nach ihrer allgemeinen Gültigkeit“. Es gibt „ein Ganzes aller Zwecke in systematischer Verknüpfung, das ist das Reich der Zwecke“. Und jetzt kommt Kant zum Selbstzweck oder zum Zweck an sich selbst bei Menschen, der die Würde des Menschen begründet. „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“ Das wiederholt Kant mit Nachdruck in seinen anderen ethischen Schriften.

Und jetzt auf Seite 72 in GMS kommt es ganz deutlich heraus: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preisen erhaben ist, mithin kein Äquivalent gestattet, das ist Würde.“

Man kann sich Kants „Reich der Zwecke“ als einen gerichteten Mittel/Zweck-Graph vorstellen.

Bild 1: Kants Reich der Zwecke
Bild 1: Kants Reich der Zwecke

Knoten mit römischen Ziffern stellen Mittel dar. Die Pfeile bedeuten „wird benutzt als“. Die Knoten mit Buchstaben sind Menschen, was man am Selbstbezug (Reflexivität) der Pfeile erkennt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden Durchgangszwecke vermieden, also Zwecke, die beides sowohl Zweck als auch Mittel sind. Wegen seiner Würde sollte ein Selbstbezug einem Menschen nicht genommen werden

2) Die Rechtslage im Luftverkehr im Terrorfall.

Das Luftsicherungsgesetz „ist ein deutsches  Bundesgesetz, das Flugzeugentführungen, terroristische Anschläge auf den Luftverkehr und Sabotageakte gegen ihn verhindern und dadurch die Luftsicherheit erhöhen soll. In § 14 wurde die Abschussbefugnis geregelt. Diese „Abschussbefugnis“ bestand auch dann, wenn sich an Bord des Flugzeugs unbeteiligte Personen, beispielsweise entführte Passagiere, befinden. Das Leben der Unbeteiligten an Bord sollte zu Gunsten des Lebens anderer Menschen am Boden geopfert werden.

Das Gesetz entstand unter dem Eindruck der Ereignisse im September 2001 in New York. § 14 wurde am 15.02.2006 für nichtig erklärt. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes heißt es:

„Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Absatz 3 greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.

Unter der Geltung des Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten.“

3) Ferdinand von Schirach und sein Bühnenstück in der ARD.

Die geschilderte Rechtslage veranlasste den Autor Ferdinand von Schirach dazu, das Bühnenstück „Terror“ zu schreiben. Seine Verfilmung wurde am 17.10.2016 ausgestrahlt und veranlasste mich zu diesem Blogeintrag. Es war eine faszinierende Vorstellung, mit hervorragenden Schauspielern, glänzend inszeniert. Ein Novum war, dass die Zuschauer in die Rolle von Schöffen bei Strafprozessen versetzt wurden. Sie durften am Ende über Schuld oder Nicht-Schuld des wegen Mordes angeklagten Bundeswehrpiloten befinden.

Vielen Zuschauern und mir war von Anfang an klar, dass hier die geltende Rechtslage vor Gericht steht. Um die geht es letzten Endes auch heute noch nach dem Nichtigkeitsentscheid des Bundesverfassungsgerichtes von 2006.

Der wegen Mordes, nicht wegen Totschlags, angeklagte Bundeswehrpilot schildert im Stück eindringlich die Zwangslage in der er sich befand, als er die von Terroristen gekaperte Lufthansamaschine mehrfach zum Abdrehen aufforderte. Als die Maschine mit 164 Menschen an Bord sich dann im Sinkflug auf die mit 70 000 Menschen vollbesetze Bayern-Arena in München befand, erfolgte der Abschuss ohne die Einwilligung der verfassungsmäßig handelnden Verteidigungsministerin.

Journalistisch wurde der Film u.a. von Jürgen Kaube in der FAZ bearbeitet.

Das Abstimmungsergebnis der „Schöffen“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz lautet: Über 80% plädierten für unschuldig. Das war eine Riesenüberraschung; eigentlich ein Schlag gegen das demokratische Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

4) Steht die Logik über dem Gesetz?.

Von Juristen wird diese Frage bejaht, denn es heißt: Logische Fehler stellen für eine höhere Instanz einen erstklassigen Revisionsgrund dar. Der Umkehrschluss oder Kontraposition, juristisch als argumentum e contrario ist ein gültiger Rechtsschluss, der auch auf Art. 1 GG angesetzt werden darf. Formal gilt auch juristisch: Von „Wenn A dann auch B“ darf übergegangen werden zu „Wenn nicht B dann auch nicht A“.

Der Art. 1 GG kann als Implikation (→) logisch rekonstruiert werden:

Aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ wird logisch rekonstruiert zu: „Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist (A), dann gibt es auch eine Schutzpflicht des Staates (B)“.

Das „argumentum e contrario“ lautet: „Wenn es die Schutzpflicht des Staates mit all seiner staatlichen Gewalt nicht gibt, dann gibt es auch keine Würde des Menschen, die unantastbar ist.“

Peter Bieri, ein Schweizer Philosoph, hat ein beachtenswertes Buch mit dem Titel „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde“, (3. Aufl. 2015) geschrieben. „Demütigung durch demonstrierte Ohnmacht“ führt nach Bieri zum Verlust der Menschenwürde. Und das genau ist in der gekaperten Maschine geschehen. Durch die Terroristen haben die beklagenswerten, dem Tode geweihten ohnmächtigen Menschen ihre Würde verloren, und der Staat hat das oder konnte das nicht verhindern. Das „argumentum e contrario“ sticht also.

Was ist tun? Der zweite Satz im Art. 1 „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ ist ersatzlos zu streichen. Auch für den Staat gilt der alte römische Richterspruch: „Ultra posse nemo obligatur“ oder: „Über seine Fähigkeiten hinaus darf niemand verpflichtet werden“.

Das Urteil:

Der Pilot ist freizusprechen. Für seine erlittene Untersuchungshaft ist eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Die Anklage ist zweifelhaft gestellt. Ob es sich um Mord und nicht doch um Totschlag als Anklage handelt, bleibt zu prüfen.

Würde Immanuel Kant dem zustimmen? Kant war ein Logiker (nicht nur Rigorist), der die Logik, wie sie bis zu seiner Zeit entwickelt war, beherrschte und auch akademisch vortrug. Die Kontraposition war ihm bekannt und auch gültig für ethische Zusammenhänge. Kant wäre auf unserer Seite. Das deutsche Staatsrecht hat im Anblick des Terrorismus Nachholbedarf.

 

2 Kommentare zu „Die Würde des Menschen

  1. Das kleinere Übel?

    Die Frage ist doch, ob ein Staat eine Aufgabe an sich ziehen soll (darf), die er nicht in allen Fällen (also allgemein) erfüllen kann. Durch „Pflichtverletzung“ des Staates ist somit die prekäre Lage entstanden.

    Der Pilot hat nur versucht, den Schaden in Grenzen zu halten, was nicht strafbar sein kann, sondern als Bürgerpflicht zu werten ist.

    EO, Konstanz

Kommentare sind geschlossen.