Vorwort: Dass insbesondere nach dem Brexit eine substanzielle Reform der EU an Haupt und Gliedern stattfinden sollte, findet sicher in Europa eine große Mehrheit. Prof Ortner (TU Darmstadt) sucht eine IT-technische Basis. Mir ist mehr danach zumute, über das die EU determinierende „Subsidiaritätsprinzip“ nachzudenken. Das Prinzip besagt, dass innerhalb der EU über eine geeignete Handlungsebene befunden werden muss. Wenn nun die Engländer mit ihrem Brexit entscheiden, über die Migranten aus dem EU-Raum selber zu befinden, dann muss man das akzeptieren. Das gilt natürlich so dann für alle. Das Subsidiaritätsprinzip scheiterte ja auch ab ovo schon bei dem Versuch, in Brüssel Flüchtlingskontingente festzulegen. Das muss man auch akzeptieren, auch Frau Merkel. Was nicht geht, das geht eben nicht. Moralisieren trennt dann nur und verbindet nicht. Die EU soll von ihrem Grundverständnis her verbinden. Mit den Worten von Frau Merkel darf es keine Rosinenpickerei geben. Jedes EU-Mitglied nimmt so viele Flüchtlinge auf, wie es glaubt, verkraften zu können. Das ist auch Subsidiarität. Es gilt auch hier der römische Rechtsspruch „ultra posse nemo obligatur“ oder über seine Fähigkeiten hinaus darf niemand gefordert werden.
Man stelle sich aber mal vor, das zahlungskräftigste Land Deutschland brächte die Schutzschirm- bzw. Bürgschaftspolitik in Anbetracht der griechischen Pleiten in Folge vor das Volk, so ähnlich wie das die Engländer in Sachen Migranten-Zustrom taten? Auch das müsste das Subsidiaritätsprinzip decken. Was dem Subsidiaritätsprinzip aber diametral entgegensteht, ist die faktisch gebildete Transferunion, die mit Maastricht nicht zu vereinbaren ist. Das ist Rechtsbruch. Rechtsbrüche muss man Unterlassen, die kann man nicht reformieren.
Es wird also noch mehrere Beiträge zum Thema „Reform der EU“ geben. Fangen wir mit dem folgenden Beitrag von Erich Ortner an. Das Thema passt zu unserem Generalthema „Unsere Zeit in Gedanken fassen“, das philosophischen Ursprungs ist, aber nicht nur Philosophisches behandeln sollte, obwohl das Subsidiaritätsprinzip aus der Philosophie und Theologie (Papst Leo XIII., ‚Rerum Novarum‘) stammt.
Eine E-Demokratie (s. Abb. 1) als IT-Produkt ist in einigen Ländern, so z. B. in der Schweiz oder in Finnland bereits in Betrieb. Der Buchstabe „E“ repräsentiert dabei etwas antiquiert den Ausdruck „elektronisch“ und leitet sich von EDV bzw. „elektronische Datenverarbeitung“ ab. Genauer wäre hier eigentlich von Informationstechnologie(IT)-unterstützten Demokratie Systemen zu sprechen. Der ebenfalls gebräuchliche Ausdruck „digitale Demokratie“ (vgl. Jusletter IT vom 25. Mai 2016 Schwerpunktausgabe: Digitale Demokratie) führt hingegen zu sehr von den Bürgern in solchen „sozialen Gebilden“ und ihrer Art zu denken, zu reden und zu handeln weg.
Abb. 1: E-Regierung und E-Administration als Teile von E-Demokratie1
Harold James, der zu den renommiertesten Wirtschaftshistorikern der Gegenwart zählt, argumentierte jüngst in der Neuen Züricher Zeitung2 wie folgt:
„Die Bürger fühlen sich heute abgehängt – mit guten Gründen. Was es braucht, ist ein neues politisches System mit höherer Partizipation der Bürger. Eine solche Partizipation ist dank neuer Informationstechnologien auch problemlos umsetzbar. Schwieriger gestaltet sich ein Umdenken der politischen Eliten. Ihr Einfluss wird schwinden.“
Man wird heute quasi mit dem Smartphone in der Hand geboren, so dass für die jungen Menschen längst ein altbekanntes Bonmot wie folgt modifiziert werden könnte: „Von der Wiege bis zur Bahre: das Digitale, Digitale!“. E-Demokratie und E-Partizipation sind heute bei einer fachmännischen Einführung eigentlich problemlos umsetzbar, sagt auch Harold James. Dem kann man beipflichten, wenn zu den Fachleuten alle gebildeten Bürger(innen) und Politiker(innen) eines Landes gezählt werden. Die Einführung und der Betrieb einer E-Demokratie sind eine gesellschaftliche Aufgabe, bei der von der wissenschaftlichen Seite interdisziplinär, von der politischen Seite bürgernah sowie von der technisch-wirtschaftlichen Seite ethisch gerechtfertigt vorzugehen ist.
Eine E-Demokratie und E-Partizipation gilt es – bei den einfachsten Prozessen und der IT-Unterstützung der Bürger beginnend – gemeinsam aufzubauen. Im Hinblick auf ein neues politisches System wie eine E-Demokratie und E-Partizipation sind solche „einfachsten Bürgerprozesse“ beispielsweise
- die Beantragung eines Personalausweises,
- ein Antrag auf Baugenehmigung einer Garage,
- die Anmeldung der Geburt eines Kindes,
- das Absolvieren einer Ausbildung,
- die Mitarbeit in einem Betrieb,
- die Steuererklärung am Ende eines Geschäftsjahres,
- die ambulante und stationäre Behandlung der Bürger durch Ärzte
- und vieles mehr.
Unser komplettes Leben ist heute IT-unterstützt organisiert und (zum Glück) nicht „total automatisiert“. Dass wir daher den Umgang mit der IT von frühester Jugend an erlernen und die Unterstützung durch diese Technologie auch „vom Kopfe her“ (intellektuell) richtig verstehen sollten, müsste zumindest für die jüngeren Menschen heute weltweit eine Selbstverständlichkeit sein.
Nehmen wir als Beispiel so manch groteske Situationen wie die, dass beispielsweise der Krümmungsgrad einer Gurke auf Ebene der „demokratischen EU“ reguliert wird, die Steuergesetzte hingegen auf Ebene der einzelnen Staaten. Eine Struktur, quasi eine Konsensarchitektur (Abb. 2), die uns hier von der Informatik vorgegeben wird, stellt die EU und die einzelnen Staaten in folgendem Verhältnis dar: Die EU veranlasst die Einhaltung gemeinsam vereinbarter Regelungen in die einzelnen Mitgliedsstaaten hinein. Und zur gleichen Zeit wird deren Befolgung von der EU aus überwacht. Diese „Konsensarchitektur“ (Abb. 2) kann von Informatik-Systemen, sogenannten Basissystemen wie Argumentations-Unterstützungs-Systemen (z. B. Repository- oder Metainformations-Systeme), Koordinations-Unterstützungs-Systemen (z. B. Prozess-Management-Systeme) und Integrations-Unterstützungs-Systemen (z. B. Datenbank-Management-Systeme) ein Stück weit gestützt und hinsichtlich ihrer Funktionen „Argumentationsunterstützung“, „Koordinationsunterstützung“ und „Integrationsunterstützung“ technisch umgesetzt werden. Für die sogenannten „Inhalte“ oder die Anwendungsbereiche (z. B. Rechtsprechung, Wirtschaft und Verwaltung) bleibt der Mensch bzw. die Gesellschaft zuständig und verantwortlich.
Abb. 2: Eine Architektur des Konsenses
Dazu bedarf es somit als Voraussetzung eines zwischen der EU und den einzelnen Mitgliedsstaaten ausgehandelten, ausbalancierten dynamischen Regelwerks aus Subsidiaritäts- und Souveränitätsnormen, das ein friedliches, gerechtes und gleichwertiges Zusammenleben der Bürger in allen Staaten auf demokratische Weise möglich macht.
Zu automatisieren gibt es da im Hinblick auf den Gegenstand dieses Regelwerks, das normativ geordnete Zusammenleben der Menschen und den Inhalt und Zweck der Normen betreffend, nichts. Wohl aber können die Konsistenz, der koordinierte Ablauf sowie die Berücksichtigung aller Umstände (Integration) beim Aufbau und bei der Befolgung dieses Regelwerks von der IT unterstützt werden. Wenn wir also einmal das soziale Netzwerk „Facebook“ als Basissoftware für den Betrieb einer E-Demokratie prototypisch hernehmen, so kann man sich leicht vorstellen, welche Verbesserungen im Hinblick auf Argumentation, Koordination und Integration da (von der Basissoftware her) noch eingebaut werden könnten. Es würde sich hier – ebenso wie in Google Wave – lohnen, neu zu investieren.
So berichtet beispielsweise Michael Furger in einem Hintergrundbericht der NZZ am Sonntag vom 10.07.2016, „Widerspruch ist ganz erfrischend“, von Filterblasen und Echoräumen in sozialen Netzwerken wie Facebook, die einen Austausch von Argumenten zwischen Andersdenkenden geradezu verhindern:
„Filterblasen Entstehen, weil Websites wie Facebook oder Google nach einem Algorithmus funktionieren, der uns stets das liefert, von dem er denkt, dass es uns interessiert und gefällt. Die Website filtert die einströmenden Informationen gemäß unserem Profil und setzt uns in eine flauschige Blase aus Zustimmung und Wohlgefallen. […] In einer Demokratie ist das eine ziemlich bedenkliche Sachlage. Öffentlichkeit entsteht aus dem gesellschaftlichen Diskurs, aus dem Austausch von Informationen und Meinungen. Das Internet, das einst für den grenzenlosen, freien Austausch gerühmt wurde, stellt diese Öffentlichkeit offensichtlich nicht mehr her, zumindest nicht, wenn man sein Wissen über die Welt via Facebook [gefiltert] bezieht.“
Facebook ist vom heutigen Standpunkt aus gesehen keine Demokratie-Anwendung (Democracy Application, Abb. 1) des Internet, kein demokratisches Medium mehr. Es ist geradezu undemokratisch. Doch in der EU sei nicht das Geringste zu ändern, wird der gegenwärtige Ratspräsident Donald Tusk in einer Pressekonferenz am Freitag, den 08.07.2016 in Warschau zitiert.
Von der EU-Organisation aus sollten die stärkere Einbindung des EU-Parlaments und dessen Kompetenzerweiterung – weg von der Kommission und hin zum gewählten Parlament – ebenfalls neugestaltet werden. Die EU ist IT-unterstützt zu reformieren. Jedoch sind die Voraussetzungen dafür, die IT-Unterstützung der Bürger-, Administrations-, Politik- und Geschäftsprozesse zu beschleunigen, laut einer McKinsey-Global-Institute-Studie3 auch noch die folgenden (leicht modifizierten) Faktoren:
- Unternehmen sollten kontinuierlich im Blick haben, welche IT-Unterstützungsmöglichkeiten es für ihre Geschäftsmodelle gibt, gezielt priorisieren und Prozesse anpassen. Gleichzeitig sollten Firmen IT-Werkzeuge nutzen, um ihre internen Prozesse und ihre Kommunikation mit den Kunden zu verbessern.
- Behörden und Regierungen können den Übergang zur IT-unterstützten Ökonomie befördern, indem sie den entsprechenden regulatorischen Rahmen schaffen (z. B. den IT-unterstützten Binnenmarkt für Europa), die Möglichkeiten des E-Government stärker nutzen sowie Bildungsinitiativen für IT-Kompetenzen4 auflegen – über alle Schul- und Ausbildungswege hinweg.
- Bürger und Arbeitnehmer sollten sich auf eine neue, technologiebasierte Arbeitswelt einstellen, sich durch entsprechende Weiterbildungen qualifizieren und die Möglichkeiten zu flexiblerer und selbständiger Arbeit nutzen. Auch als Konsumenten sollten sie alle Vorteile des Internets zur Information, Vernetzung und zum Austausch gezielter nutzen.
„Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es.“ (Erich Kästner) oder mit Kant gesprochen „und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu tun, ist vergebens.“ (in Vorwort zur Kritik der praktischen Vernunft).
Also, packen wir’s an!
1 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/E-Government, Abruf am 10.07.2016
2 Interview in der NZZ vom 02.07.2016 „Churchill hätte sich zur EU bekannt, S. 37ff
3 vgl. https://www.xing.com/news/insiders/articles/digital-deutschland-verschenkt-eur-500-milliarden-potenzial-337246?xing_share=news, Abruf am 10.07.2016
4 Vgl. Wedekind/Ortner/Inhetveen: Informatik als Grundbildung, 6 Folgen in: Informatik-Spektrum, beginnend mit Band 27, Heft 2, 2004.