Big Data und Sinnrationalität

1) Die Fragestellung:

In seinem Aufsatz „Einfach alles speichern: Big Data als Aufgabe der Informatik“ schildert Klaus Meyer-Wegener die vielen Facetten des Big Data-Problems. Aus dem Untertitel „Einfach alles speichern“ (Bemerkung: weil es wenig kostet) wird aber schon deutlich, dass die Sinnfrage, oder gleichbedeutend die Richtungsfrage nicht gestellt wird. So kommt natürlich sofort die Gegenfrage hoch: Ist Big Data sinn- oder richtungslos? Laufen Big-Data-Leute durch einen Wald und wissen nicht, wo ihr Ziel ist? Ist Big Data eine hype-getriebene, irrationale, weil sinnlose Groß-Veranstaltung? Wir müssen etwas weiter ausholen, um diese Frage zu beantworten.

2) Einige handlungstheoretische Begriffe: Zweck und Mittel, finale und afinale Aufforderung, Maxime und Sinn, Beschreiben und Beurteilen, Interesse

Bevor wir zum eigentlichen Thema „Big Data“ vordringen, haben wir einige wichtige Begriffe der Handlungstheorie zu klären. Wir orientieren uns dabei an dem Werk von Oswald Schwemmer: „Theorie der rationalen Erklärung – Zu den methodischen Grundlagen der Kulturwissenschaften“, CH Beck, 1976.

Man sagt, wenn jemand eine Handlung ausführt, dann tut er dies, um einen Sachverhalt herzustellen. Den herzustellenden Sachverhalt nennt man den Zweck der Handlung, zu der er die Handlung als Mittel benötigt. Der Zweck oder der Sachverhalt kann beschrieben werden. Dazu sind Beschreibungswörter oder Beschreibungsprädikatoren erforderlich. Verfolgt jemand mit seiner Handlung ein Interesse, so benötigt er hingegen Wörter der Beurteilung oder Beurteilungsprädikatoren. Schwemmer stellt auf Seite 138 ein instruktives Beispiel dar. Wenn jemand dazu auffordert, die Organisation einer Gesellschaft so zu planen, dass sie gerecht ist, dann verfolgt er ein Interesse. „Gerecht“ ist ein Beurteilungsprädikator. Sagt jemand aber, er wolle eine Organisation herstellen, in der die Produktionsmittel verstaatlicht sind, dann verfolgt er den Zweck der Verstaatlichung, der beschrieben werden kann, indem man z.B. die Enteignungsprozedur darstellt. Beschreibungsprädikatoren werden durch Beispiel und Gegenbeispiel eingeführt. Bei Beurteilungsprädikatoren werden Vorgänge (wie bei der Gerechtigkeit) auf ihre Regelmäßigkeit beurteilt. Zum Urteil gehört die Regel. Es gibt nun Regeln, die allgemein gelten, und solche die man sich persönlich vorgibt. Regeln dieser Art nennt man auch Maxime. Maxime sind immer „ad hominem“ gedacht. Mehrere Maxime zusammen genommen, nennt man eine Maximenstruktur. Ist die Maximenstruktur M bekannt, so kann die Handlung eines Menschen gedeutet werden unter der Annahme, dass er sinnrational handelt. Man spricht auch von sinnhaften Handeln. Ist eine Maximenstruktur widersprüchlich, wie das bei Menschen, die viel in der Öffentlichkeit auftreten, manchmal hervorsticht, dann spricht man von sinnlosem oder unsinnigem Handeln. Das Wort „willkürlich“ ist dem Wort „sinnlos“ nahe verwandt. Was heute als „gut“ beurteilt wird, ist morgen „schlecht“. Um einer Deutung als sinnlos zu entgehen, müsste ein solcher Mensch uns klar machen, dass er von einer Maximenstruktur M1 zu einer Maximenstruktur M2 übergegangen ist. Maximenstrukturen können also versionieren, was zur Verwirrung führt. Durch häufiges Versionieren wird aber die Sinnrationalität aufgehoben und es wird zu einer Sinn-Irrationalität (Willkür) übergegangen. Maximen-Widersprüchlichkeit und Maximen-Versionieren führt zur Sinnlosigkeit.

Eine Handlung als Ausführung, nicht als Schema, bedarf einer Initialisierung, die handlungstheoretisch Aufforderung genannt wurde. Ein mit der Programmierung Vertrauter weiß, dass man Aufforderungen in imperativen Programmiersprachen Anweisungen (an das System) nennt. ‚x = x + 1‘ ist eine solche Anweisung oder Aufforderung, die besagt: Mache bitte, dass die Variable x um 1 erhöht wird! Wozu das Ganze, der Zweck also wird nicht angegeben. Man nennt handlungstheoretisch Aufforderungen (Anweisungen) dieser Art „afinale Aufforderungen“ (Schwemmer, Seite 120). Beispiel aus dem täglichen Leben: Hole Wasser! In einer finalen Aufforderung hingegen wird auch der Zweck der Handlung mitgeteilt. „Bilde die Mitgliederzahl eines Vereins“ wäre eine solche finale Aufforderung. Programmieraufgaben oder -teilaufgaben werden in der Regel final mitgeteilt. Beispiel aus dem Leben: Hole Wasser, um das Feuer zu löschen!

„Suche in einem Big-Data-Bestand!“ ohne Zweck- oder Zielangabe ist auch eine afinale Aufforderung. Ergibt eine solche Aufforderung (nur mal so herumsuchen) Sinn, ist die Handlung sinnrational? Das ist unser Thema und eine Frage, die im dritten Abschnitt zu klären ist.

Kann der Sachverhalt, der durch Handlung erreicht werden soll, hinreichend genau beschrieben werden, so wird der Sachverhalt Zweck genannt. Handelt ein Mensch nach seinen Zecken, so wird sein Handeln als zweckrational gedeutet. „Sinn- und zweckrational“ sind Deutungstermini. Man deutet eine Handlung nach dem Sinn oder nach dem Zweck. Ob ein Zweck oder Interesse vorliegt, hängt vom Vokabularium ab, also: Beschreibt einer oder urteilt einer, das ist die Frage. Schwemmer führt aus, dass Zweckrationalität ein Sonderfall der Sinnrationalität ist (Seite 133). Denn wenn einer nach seinen Zwecken zweckrational handelt und darüber hinaus auch entsprechend seiner Maximenstruktur vorgeht, so gibt er den Sinngehalt seines Handelns an, dem sich die Zwecke unterordnen. Es kann aber auch sein, dass zweckrationales Handeln als sinnlos gedeutet werden kann, wenn ein Widerspruch zur Maximenstruktur auftritt. Ferner ist es auch möglich, dass etwas als sinnvoll oder sinnrational angesehen wird (z.B. eine gerechte staatliche Organisation), angestrebte Zwecke aber, z.B. eine verstaatliche Industrie genau dies verfehlt. Telefonüberwachung zwecks Terroristenschutz ist technisch durchführbar und als zweckrational deutbar. Ist die Überwachung aber auch als sinnrational deutbar, wenn Terroristen keine Telefone mehr benutzen? Sinn bedeutet immer Richtung. Wenn es keine Richtung mehr gibt, was dann?

Wenn wir der Kantischen Philosophie folgen, dann ist eine Maximenstruktur (ad hominem) kein „offener Parameter“, sondern wird über den kategorischen Imperativ gebunden. Der Imperativ kann als Grundprinzip der Ethik angesehen werden. Eine Maximenstruktur sollte nicht nur ad hominem gelten, sondern sollte auch verallgemeinerbar, universalisierbar sein, d.h. eine Maximenstruktur sollte für jedermann gelten. Das ist typisch ideal-philosophisch gedacht, ist aber eine wichtige Richtschnur und in vielen Formulierungen des täglichen Lebens wiederzufinden (siehe z.B. die Goldene Regel). In der Anwendung des kategorischen Imperativs merkt man beim Deuten der Sinnrationalität sehr schnell, wenn einer aus purem Egoismus handelt und somit täuschen will. Deuten ist natürlich auch eine Frage der Argumentationskultur.

3) Der Anfangsverdacht in der Jurisprudenz

Ist ein Suchen in großen Datenbeständen sinnrational? Zur Beantwortung dieser Frage hilft uns überraschender Weise die Jurisprudenz weiter, die im universalisierten Strafrecht schon lange ein analoges Problem zu lösen hat. Es geht um das Problem des Anfangsverdachts in der Strafverfolgung. Es heißt, ein Suchen seitens der Ermittlungsbehörden ist nur dann gerechtfertigt, wenn es zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gibt. Tatsachen sind wahre Aussagen. Die Anhaltspunkte nennt man auch Sinnkriterien, die erforderlich sind, um eine Sinnrationalität der Ermittlungen zu sichern. Sinnkriterien schützen die Menschen vor unsinnigen Ermittlungen oder unsinnigem Big-Data-Suchen. Beides gibt es. Z.B. auch in der Strafverfolgung eines zurückgetretenen Bundespräsidenten, was dann Gott sei Dank vom Gericht entdeckt wurde und zum Freispruch führte.

Juristen kennen eine Dreistufigkeit und Steigerung in Verdachtsäußerungen: Anfangsverdacht, hinreichender Tatverdacht, dringender Tatverdacht. Das ist natürlich subtil, weil zwischen „zureichend“ (engl. „reasonable“) beim Anfangsverdacht und „hinreichend“ (engl. „sufficient“) bei der ersten Steigerungsform unterschieden wird. Wir deuten „zureichend“ als „es wird schon langen“, und die Person, um die es geht, ist ein Tatverdächtiger, und hinreichend dann als ein „es langt“, die Person, sagt man, ist ein Beschuldigter.

Um eine Big-Data-Suche überhaupt zu beginnen, sollte die Sache wie ein Anfangsverdacht „reasonable“ behandelt werden. „Reasonable“ heißt auch auf Deutsch sinnvoll oder in Deutungssprache „sinnrational“ sein.

4) Wenn Big Data-Suche zweckrational sind, sind sie dann auch sinnrational?

In Sachen „Zweckrationalität – Sinnrationalität“ gewinnen wir den folgenden Überblick:

Zweckrationalität vs. Sinnrationalität

Die homogenen Fälle 1 und 4 sind uninteressant. Es ist klar, wie sie behandelt werden müssen, Fall 3 sagt, der Zweck ist gar nicht erreichbar, auch wenn er Sinn ergibt. Kategorie „wishful thinking“. Also auch uninteressant.

Fall 2 „Zweck- aber keine Sinnrationalität“ ist von Interesse.

Die Zweckrationalität von Big Data kommt ja dadurch zustande, dass die Mittel, das Speichern (fast) nichts mehr kostet, also in ökonomischer Terminologie als freies Gut betrachtet werden kann. Gilt: Wenn der Zweck erreichbar ist, kann der Sinn nachgeliefert werden? „Heiligt der Zweck die Mittel“? Bloß wenn der Zweck sehr weltlich also profan ist, kann er auch nicht nachträglich geheiligt werden. Bei Paul Lorenzen in seinem wunderschönen Aufsatz über „Praktische und theoretische Modalitäten“ (1979) steht der folgende Satz mit einem bei ihm unvermeidbaren Hieb auf Politiker und Kardinäle: „‚Nicht alles, was machbar ist, ist auch wünschenswert“ – in dieser Formulierung wird gegenwärtig von jedem Politiker, der etwas auf sich hält, vor den Technokraten gewarnt (Kardinäle verwenden ‚erlaubt‘ statt‚ wünschenswert‘)“. Lorenzen untersuchte tiefer gehend modallogische Schlüsse, auch den von „erreichbar auf wünschenswert“, für den er ein „non sequitur“ (ein Folgt-nicht) logisch nachweist. Seine Überlegenheit im logischen Denken gegenüber Politikern und Kardinälen wird deutlich herausgestellt, was ihm sichtlich Vergnügen bereitete.

Ist eine Big-Data-Suche auch sinnlos, wenn sie bloß Spaß macht? Staatsanwälte dürfen das natürlich nicht, dienstlich aus purer Freude ermitteln. Das wäre ein nicht unerhebliches Dienstvergehen. Muss Sinn sich nur auf pure Lebensbewältigung beziehen? Ist ein Vergnügen, also ein Zeitvertreib sinnlos? Nach Meyer-Wegener sind Big-Data-Daten Protokolldaten, also Aufzeichnungsdaten aus einem „Recording“, die eine ausgefeilte Analytik (Auswertung) verlangen. Big Data sind so gesehen keine Nutzdaten, keine operationalen Daten, die benötigt werden, um technische oder administrative Vorgänge abzuwickeln. Es geht um „Aufzeichnungen aller Art, Spuren in Netz, auch von immer mehr Sensoren produziert“. Wenn alles so schön billig ist, wer will dem Menschen seine schlichte Neugierde verbieten? Das ist aber kein rationaler, sondern ein emotionaler Sinn. Den klammern wir aus, weil der Rahmen unseres Themas gesprengt wird. Emotionen als Sinn stellen ein gesondertes Thema dar.

2 Kommentare zu „Big Data und Sinnrationalität

  1. Ihre Analyse verrät, dass Sie kein richtiger Kaufmann sind. Der Zweck kaufmännischen Sinnens ist Geld zu schaufeln. Wenn ihm jemand sagt, unter diesem Misthaufen liegt möglicherweise Geld (oder sonst etwas Wertvolles) schaufelt er. Zum Schluss siebt er.

    1. Es gibt eine Reputations-Hierarchie, auch in Deutschland. Ganz unten stehen die Gauner und Ganoven. Dann kommen die von Ihnen geschilderten Kaufleute und Banker. Ganz oben stehen aber immer noch die Ingenieure und Ärzte.

      Den in der Bewertung vorsichtig bilanzierenden Kaufmann, den gab’s früher einmal, der stand auch oben, ziemlich oben. Nun ist der Kaufmann und der Banker unten (und die wissen das auch). Aber: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“

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