E U R O P A – eine Begriffsbestimmung

Vorwort: In Anbetracht des ausgehöhlten Patienten „Europa“, der selbst ein Flüchtling vor sich selbst ist, ist es ein Jammer, dass meine Rede „Europa – eine Begriffsbestimmung“ von 2003 hochaktuell geworden ist, und das im Sinne meines Blogs „seine Zeit in Gedanken fassen“: Nur Durchwinken klappt, sonst nichts. Und die große Klappe da oben, die klappt auch. Man bestätigte mir in Bertals Blog, dass diese Rede gerade heute brandaktuell sei: Über den kranken Mann „Europa“ zu reden, ist wichtig.

Hier nun der Vortrag, der auch 2003 in französischer Fassung in Paris gehalten wurde:

E U R O P A – eine Begriffsbestimmung

(Vor einem möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union)

08. April 2003

1) Europa und die Idee der Wissenschaft

Die bevorstehenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollten für Europäer ein Anlass sein, sich den Begriff „Europa“ präzise zu vergegenwärtigen. Nur wenn wir wissen, wer wir sind, können wir die Unterschiede erkennen, die uns von anderen trennen, um dann auch Gemeinsamkeiten mit den anderen herauszuarbeiten. Bertrand Russell (1872-1970), der bedeutende englische Philosoph und Logiker, hat mit Prägnanz zur Begriffsbestimmung Europas beigetragen. In einem Rundfunkvortrag stellte er sich einmal die Frage, was der wesentliche Beitrag Europas zur geistigen Entwicklung der Menschheit sei. Sir Bertrand, wie manche ihn heute noch anerkennend nennen, der Mann mit dem trutzigen Kopf, beantwortet die selbst gestellte Frage wie folgt:

„Religion gibt es überall, nicht nur in Europa, Kunst und Kultur gibt es überall, nicht nur in Europa. Es ist die Idee der Wissenschaft, die Europa der Welt gebracht hat. Platon und Aristoteles sind es gewesen, die die Idee der Wissenschaft als Wissenschaft entwickelt haben, und es ist ohne Zweifel Sokrates gewesen, der mit seinen bis dahin unerhörten Fragen nach dem: was ist dies? und mit seinem bis dahin unerhörten Forschen nach der logischen Begründung jeder Aussage diesen Weg eröffnet hat.“

Wir hoffen, dass der vom ehemaligen französischen Präsidenten Giscard d‘ Estaing geleitete Konvent zur Festlegung einer europäischen Verfassung sich der tiefen Bedeutung dieser Begriffsbestimmung bewusst ist.

Wenn die Entwicklung der Idee der Wissenschaft das Einzigartige an Europa in der Welt ist, dann sollte man auch erlauben, im Fortgang der Darstellung auch hier und da einmal „wissenschaftlich“, d.h. genau zu reden. Europa wird nicht einfach als Eigenname für ein Flächenstück auf der Erde eingeführt, wie z.B. Grönland. Europa ist wegen seiner Einzigartigkeit in wissenschaftlicher Angelegenheit ein allgemeiner Begriff. „Europa“ ist eindeutig gekennzeichnet durch die Worte „Entwickler der Idee der Wissenschaft in der Welt“. Würden wir stattdessen die Kennzeichnung „Entwickler der Religion des Christentums“ für „Europa“ einführen, so läge mit Europa nur ein eingeschränkter Begriff vor. Denn Christentum ist wie Buddhismus und Islam nur ein Spezialbegriff zum allgemeinen Begriff „Religion“. Und „Religion“ zeichnet Europa im Gegensatz zu „Wissenschaft“ nicht aus, weil sich auch außerhalb Europas Religionen entwickelt haben. Das ist genau das, was Bertrand Russell sagte, wenn er Europa auf Wissenschaft zurückführt. Die Wissenschaft hat Weltgeltung, das Christentum nicht. Das bestimmt unsere Argumentation in den vorauszusehenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sehr präzise, eben vom allgemeinen Begriff „Europa“ her. Um diesen Begriff muss man sich bemühen, wenn man kompetent über Europa reden will. Man muss – wie Hegel es zutreffend sagte, die Anstrengung des Begriffs auf sich nehmen.

Unser Problem ist nun, mit einfachen Mitteln darzustellen, was Wissenschaft ist. Eine Antwort auf diese Fragestellung hat Bertrand Russell auch schon im Wesentlichen angedeutet. Eine Wissenschaft besteht aus Aussagen. Im Gegensatz zum täglichen Leben ist man in den Wissenschaften verpflichtet, eine Aussage zu begründen. Das hört sich einfach an, ist aber häufig sehr, sehr schwierig, manchmal auch unmöglich, weshalb man dann auch von einer Vermutung und nicht von einer Aussage spricht. Eine Begründung kann ganz einfach sein. Häufig ist eine Begründung in den Wissenschaften aber nur mit einigem mentalen und materiellen Aufwand zu erreichen. Einer Erstbegründung, die unter Umständen verworfen werden muss, folgt eine zweite, dritte und so fort, bis Stabilität im Sinne einer verbindlichen Geltung erzielt wird. Nach Jahren mag sich dann eine stabile Begründung als Irrtum erweisen, womit dann der Begründungsprozess erneut beginnt. Begründen ist in der Regel ein dorniger, aber sehr interessanter Weg. Das griechische Wort für Weg „odos“ steckt in unserem viel benutzten Wort Methode.

Jeder, der eine Wissenschaft erlernt, muss diesen Weg mehrmals zurücklegen. Es ist zu beachten, dass Wissenschaft nicht akademisch zu sein hat. Auch Schreinerei z.B. ist Wissenschaft und nicht nur Handwerk. Was ein Schreiner an konstruktiver Euklidischer Geometrie und an Analytischer Geometrie beherrschen muss, um begründen zu können, ist enorm. Kommt auch noch ein computergestützter Entwurf (CAD) hinzu, um z.B. einen Spiraltreppe durch einen Raum zu bauen, sind auch die Abstraktionsanforderungen beachtlich. Wer das unterschätzt, sollte sich mal in der Schreinerei versuchen, um eines Besseren belehrt zu werden.

Es ist wichtig herauszustellen, dass vieles, was wir heute unter Technik verstehen, bis ins 19. Jahrhundert als Kunst oder Kunstfertigkeit ohne wissenschaftliche Abstützung galt. Es war z.B. der Franzose Louis Navier (1785-1836), der zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Baukunst ein wissenschaftliches Fundament gab. Wir nennen das heute Statik, wenn wir Bauwerke wissenschaftlich dimensionieren. Die Kunst, die Ästhetik ist dabei ein ganz anderes Kapitel. Die prachtvollen Kathedralen Frankreichs und die faszinierenden Moscheen der Türkei sind ohne wissenschaftliche Beistand aufgrund elementarer Erfahrung entstanden.

Beim wissenschaftlichen Begründen gibt es gewisse Gebote, die einzuhalten sind. Wir beginnen mit dem ersten, dem berühmtesten Gebot der Zirkelfreiheit: „Du darfst den Sachverhalt der zu begründenden Aussage nicht als Begründung für diese Aussage heranziehen“. Wer sagt. „Es ist kalt, weil es kalt ist“, argumentiert zirkulär. Das zweite Gebot ist das Gebot des schrittweisen Vorgehens. „Du sollst deine Begründung nicht zusammengefasst, sondern schrittweise vortragen, damit du verstanden wirst“. Denn: Begründen ist nicht nur ein privates Vergnügen, sondern auch ein sozialer Prozess. Das dritte Gebot des Alles-explizit-machens lautet: „Eben auch aus den Gründen des Verstandenwerdens soll alles ausdrücklich niedergelegt werden“. Schreibe – wenn erforderlich – die Begründung ausführlich für alle sichtbar an eine Tafel. Implizite Begründungen, die versteckt werden, sind für andere nur schwer nachzuvollziehen.

Wissenschaft ist diskursiv, ganz auf den Dialog mit anderen abgestellt, aber auch intuitiv, auf Anschauung basierend. Gegenüber Begründungen im täglichen Leben muss eine wissenschaftliche Begründung noch ein weiteres, viertes Gebot erfüllen, das Gebot der Genauigkeit: „Du sollst in deinen Begründungen so genau wie eben möglich sein“.

Kurz gefasst sollte eine Begründung folgende Eigenschaften haben:

  • zirkelfrei
  • schrittweise
  • explizit
  • genau

Im alltäglichen Leben wird in der Regel das Gebot der Genauigkeit durch ein Gebot der
Verständlichkeit ersetzt. Der Bürger will verstehen und keine genaue wissenschaftliche Terminologie vorgetragen bekommen.

In der Mathematik wurde für „begründen“ das Wort „beweisen“ eingeführt. Der berühmte Satz des Pythagoras aus der Dreiecks-Geometrie war den Babyloniern lange vor den Griechen als eine Aussage der Erfahrung bekannt. Für die Babylonier war das halt so, basta! Die Griechen erst empfanden ein Bedürfnis, den Satz des Pythagoras auch zu beweisen. Damit setzte ein damals noch nicht absehbarer Fortschritt ein, in dessen Glanz sich heute alle gerne sonnen. Dazu eine kleine Geschichte:

Vor Jahren machte der Autor eine Studienreise nach Istanbul. Wir hatten einen türkischen Führer, der in Hannover Germanistik studiert hatte, ein gebildeter Mann. Wir bewunderten in der Hagia Sophia die Mosaik-Fußböden. Bei seinen Erläuterung der Sonne-, Mond-, und Erde-Figuren auf dem Boden, kam er auf die wissenschaftliche Grundlagen der Darstellung zu sprechen und betonte, dass Thales von Milet, ein türkischer Astronom, der Schöpfer dieser Himmels-Einsichten gewesen sei. Der Einwand, dass Thales von Milet ein griechischer Philosoph und Astronom gewesen sei, der 1200 Jahre vor dem Erscheinen der Turk-Völker im klein-asiatischen Milet gelebt habe, gab er wenig Beachtung. „Milet liegt in der Türkei“ sagte er. Dass das eine wahre Aussage ist, ist unbestritten. Eine Begründung dafür, dass Thales von Milet ein Türke gewesen sein soll, ist das nicht. Pythagoras, der in Süditalien lebte, war schließlich auch kein Italiener.

Die Griechen waren ein argumentations-freudiges Volk. Auf der Agora, den Marktplätzen, fanden regelrechte Wettstreite im logischen Argumentieren statt. Aus dieser Lebensform – wen darf es wundern – entstand der einzigartige Gedanke der Demokratie. Denn auch über Öffentliche Angelegenheiten wurde diskutiert. Es ist ein Jammer, dass das Begründungsvermögen unserer Parlamentarier in Europa offenbar drastisch nachgelassen hat. Der Beruf des Parlamentariers ist eben voraussetzungslos. Von den vier Geboten des Begründens ist wenig zu sehen. Besteht Hoffnung, dass ein wirkliches Europäisches Parlament unter einer Europäischen Verfassung besser wird?

2) Das Erbe der Griechen

Wir Europäer sprechen heute umfassend vom hellenistischen-christlichen-römischen Erbe. Wenn wir mit der Türkei in Beitrittsverhandlungen eintreten, kommt es nicht so sehr darauf an, unserer christliche Tradition und unsere christlichen Werte, die für uns wichtig sind, herauszustellen. Eine Debatte darüber, ob unser christlich-jüdischer Gott oder Allah der wahre Gott ist, führt zu nichts. Das ist Metaphysik. Man wird uns darüber hinaus entgegenhalten, dass wir faktisch schon längst in einem multi-religiösen Europa mit einem beachtlichen Islam-Anteil leben. Auch unser römisches Erbe ist sehr schnell auf unser griechisches Erbe reduziert. Die Griechen waren die Lehrer der Römer, sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Viele Römer von Stand und Ansehen hielten sich griechische Hauslehrer als Sklaven. Die Römer waren gute Soldaten, gute Juristen, gute Bauingenieure und beherrschten halt alles, was man zum Erobern und Verwalten braucht. Das wird uns von unseren türkischen Gesprächspartnern gerne zugestanden werden, um dann aber sofort auf ihre eigenen Leistungen in dieser Hinsicht zu verweisen. Nein, wir müssen mit den Türken auf gut griechische Art in einen Diskurs eintreten und damit beginnen zu fragen, was wir und die islamischen Völker aus dem einzigartigen Erbe gemacht haben. Diese historische Debatte wird spannend werden. Die Türken werden in ihrer islamischen Tradition darauf hinweisen, dass bedeutende islamische Mathematiker wie al-Chwarismi in Persien Großes im Sinne des Griechen Euklids geleistet haben. Der Begriff „Algorithmus“, der in der modernen Informatik eine zentrale Rolle spielt, ist vom Namen al-Chwarismi abgeleitet. Auch das mathematische Wort „Algebra“ ist arabisch-sprachlicher Provenienz und deutet auf besondere mathematische Leistungen hin. Des Weiteren werden unsere türkischen Disputanten darauf hinweisen, dass am anderen Ende des großen Sarazenen-Reichs im maurischen Spanien bedeutende Philosophen lebten, die das griechische Erbe weiter entwickelten. Ein Großteil des griechischen Schrifttums ist tatsächlich in unserem Mittelalter nicht über Rom, sondern über die arabische Welt zu uns gelangt. Wir sind auch Kinder der griechischen Wissenschaft, sagen die Türken zu Recht.

Was können wir antworten? Gegen wahre Aussagen lässt sich schlecht argumentieren. Aber wir können getrost den Dialog fortsetzen, der jetzt eine ganz entscheidende Wendung nehmen wird. Schlagartig im 12. Jahrhundert, werden wir antworten, hörten alle wissenschaftlichen Bemühungen im maurischen Spanien auf. Hervorzuheben ist der bedeutende Averroes aus Cordoba, dem wir in Europa viele Einsichten insbesondere über Aristoteles verdanken, allerdings nur, bis die islamische Orthodoxie seine Lehre als religions-feindlich erklärte. Averroes wurde verbannt und das griechische Erbe fand für immer sein Ende durch Kalifen, Imams und Muftis. Von Wissenschaft außerhalb des Korans ist nichts mehr zu sehen. Der Islam hat das griechische Erbe einem religionsbedingten Dogmatismus geopfert, was dazu führte, dass die islamische Welt sich „in the long run“ auch technologisch zurückbildete. In den Wissenschaften gibt es kein „qua ordre de mufti“. Im Europa des Mittelalters hingegen blühte eine Wissenschaft in enger Anlehnung an Aristoteles auf. Ein Thomas von Aquin ist ohne Aristoteles nicht denkbar.

3) Die Aufklärung

Der Kirche mit ihren Klöstern oblag lange die Kultur-Trägerschaft. Ihre absolute Dominanz wurde erst durch die Reformation (Martin Luther) und durch den beginnenden Humanismus (Erasmus von Rotterdam) in Frage gestellt. Man hat die Aufklärungen durchnummeriert. Die erste war die Aufklärung durch Wissenschaft der Griechen. Die zweite war die Aufklärung der Reformation und des Humanismus hin zu freiheitlichem Denken. „Über die Freiheit eines Christenmenschen“ heißt eine berühmte Schrift Martin Luthers. Und dann kommt die dritte, die große Europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Sie begann in England und Frankreich und zog sich dann nach Deutschland hinüber. lsaak Newton, ein Begründer der Physik, Antoine Lavoisier, der die Verbrennung erklärte, schufen naturwissenschaftliche Fundamente, denen wir heute unsere technologische Existenz verdanken. Der Prozess der Aufklärung verlief nicht ohne Schwierigkeiten mit der Kirche. Das Verfahren gegen Galileo Galilei ist ein dunkler Punkt in der Geschichte der Kirche. Der große Franzose Blaise Pascal, Mathematiker und Philosoph, lebte u.a. im Kloster Port-Royal bei Paris. Im Geiste dieses Klosters entstand ein weltberühmtes Werk „Die Logik von Port-Royal“ in aristotelischer Tradition. Das Kloster wurde 1709 von den Jesuiten zerstört, weil man Irrlehren aufkommen sah.

Auf deutscher Seite gab es den wissenschaftlichen Giganten Gottfried Wilhelm Leibniz, der wie Pascal eine Rechenmaschine konzipierte und wichtige Grundlagen für die Computer-Wissenschaften schuf. Nicht zu vergessen ist der bedeutende französische Aufklärungs-Philosoph Voltaire, der einige Zeit am preußischen Hof Friederich des Großen in Potsdam lebte und wirkte.

Der politische Höhepunkt der dritten Aufklärung war aber ohne Zweifel die Französische Revolution mit dem berühmten Datum 14.Juli 1789. Ein herausragendes Resultat der großen, dritten Aufklärung ist die Schaffung von einklagbaren Menschenrechten.“ Die Würde des Menschen ist unantastbar heißt es in einer jeden Europäischen Verfassung und heute sogar in der Charta der Vereinten Nationen.

Immanuel Kant hat 1784 eine herausragende Schrift verfasst mit dem Titel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ Seine berühmte Antwort: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Mit Verstand ist ein begründender Verstand gemeint, der von der Vernunft, die Zwecke und Ziele setzt, geleitet wird. Und dann weiter in der Schrift: „Leben wir jetzt (1784!) in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Das gilt auch heute noch. In einer aufgeklärten Zeit leben aufgeklärte Leute. In einer Zeit der Aufklärung, damals wie heute, wird ein Weg in eine aufgeklärte Zeit gesucht. Mündige Menschen, das ist das große Ziel der europäischen Aufklärung. Mündigkeit ist das Vermögen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Die Pointe, die es zu nun machen gilt, lautet:
Die islamischen Staaten haben nie eine zweite oder gar dritte Aufklärung erlebt. Sie haben seit der großen Aufklärung 250 Jahre lang geschlafen. An dem Weiterbau der Wissenschaften auf griechischen Fundamenten, insbesondere auch im Hinblick auf die Naturwissenschaften und deren Anwendungen, waren islamische Staaten nicht beteiligt. Das Ziel „Mündigkeit der Menschen“ ist für Muslime nur eine Vorstellung von Ungläubigen.

Im Dialog mit den Türken wird uns jetzt entgegengehalten, dass die Türkei sehr wohl eine Aufklärung hinter sich hat, die mit dem Namen Atatürk in Verbindung zu bringen ist. In der Tat: Atatürk hat Großes vollbracht. Er hat einen laizistischen Staat geschaffen mit einer strikten Trennung von Kirche und Staat. Eine rücksichtslose Übernahme europäischer Zivilisation (Schrift, Ausbildung, Kleidung) begleitete die Separierung. Die Aufklärung durch Atatürk nach dem ersten Weltkrieg hat aber einen gewaltigen Nachteil. Es war eine staatlich verordnete Aufklärung von oben mit einem Militär, das die Einhaltung der laizistischen Verfassung überwacht. Es ist begrüßenswert, dass diese Verfassung seit Atatürks Zeiten weiter europäisiert wird. Die Türken tragen deshalb ihr Begehren, Vollmitglied der EU zu werden, mit ungeheurer Wucht vor.

Die zentrale Frage, die mit den Türken zu klären ist, lautet: Kann man Europa staatlich verordnen? Ein Rückblick auf den Begriff „Europa“ zeigt, dass das nicht geht. Zur Lebensform Europas gehört es im Sinne unseres griechischen Erbes, dass mündige Bürger ihre Behauptungen begründen sollten. Auf unserem Weg aus einem Zeitalter der Aufklärung in eine aufgeklärte Zeit mit durchweg mündigen Bürgern ist Zwang von oben ein untaugliches Mittel, weil Erkenntnisse durch Zwang verhindert werden. Allein schon ein Blick auf die Frauenfrage in der Türkei zeigt, dass die Mündigkeit der Bürger kein verstandenes Anliegen ist. Wir sprechen vom „Sollen“ nicht vom „Müssen“. „Kein Mensch muss müssen“ lässt ein großer deutscher Aufklärer, Gotthold Ephraim Lessing, seinen Nathan den Weisen sagen. Das europäische Sollen impliziert Freiwilligkeit, und Freiwilligkeit impliziert Freiheit.

Die vornehmste Aufgabe der Europäer in den kommenden Jahren ist nicht, mit den Türken Beitrittsverhandlungen zu führen. Die Fundamentalfrage lautet: Wie können wir nochmals die Anstrengung des Begriffs „Europa“ auf uns nehmen, um mit den Türken gemeinsam von einem bloßen Vorverständnis in Sachen Europa zu einem besseren Verständnis zu gelangen? Diese Anstrengung bedarf einer nicht zu unterschätzenden Zeitspanne, die in Form einer Assoziation politisch gestaltet werden könnte.