1) Einleitung : Von der Begeisterung zum Fanatismus
„Fußball ist ein Abbild des Dramas unseres Lebens in Spielform“ sagt der Philosophie-Professor Paul Hoyningen-Huene (Leibniz-Universität Hannover) sinngemäß. Wir fühlen und verstehen also mit, wenn wir ein Fußballspiel im Fernsehen oder im Stadion betrachten, und sind hocherfreut beim Gewinnen oder tief deprimiert beim Verlieren, natürlich bei der eigenen Mannschaft, mit der man hält. Man zittert und jubelt, als wenn es um’s eigene Leben ginge. Auch Frauen hat das Spiel aktiv wie passiv in seinen Bann gezogen.
Was ist da los im Fußball? Das muss exorbitant sein, und ist schwierig zu bestimmen. Aber bei genauerem Hinschauen wird Fußball doch ganz einfach, wenn man sich unsere Lebensumstände und das Spiel betrachtet. Wir werden darauf einzugehen haben.
Die Fußball-Europameisterschaft (EM) fand in diesem Jahr über europäische Städte verteilt zwischen dem 11.Juni und dem 11.Juli statt. Dass Baku (Aserbaidschan) am Kaspischen Meer, wo auch Spiele ausgetragen wurden, zu Europa gehört, überrascht den Naiven, der Fußball immer noch nicht als Geschäft, auch nicht als ein politisches Geschäft begreift. Das Endspiel im „heiligen“ Londoner Wembley-Stadion sahen laut Meldung 20 Millionen Zuschauer im Fernsehen, allein in Deutschland. In der ganzen Welt mögen es Milliarden gewesen sein. Das schafft keine andere Sportart, auch nicht das amerikanische Baseball, das für die theoretische Erfassung eines Spielgeschehens für den europäischen Fußball eine entscheidende Rolle gespielt hat, was im Abschnitt 3 noch dargestellt werden sollte.
Begeisterung in Fußballstadien erkennt man z.B., wenn La Ola (spanisch „die Welle“) durch‘s Stadion rollt. Man merkt die Resonanz, den Widerhall im Publikum mit Tausenden von Menschen, die durch das Spiel erregt wurden. Das ist friedlich, kann aber hochkochen, wenn brutaler Fanatismus um sich greift und körperliche Gewalt nur durch Polizeikräfte zu verhindern versucht werden kann. Vom Wort „Fanatismus“ leitet sich das Wort „Fan“ ab. Ein Fan ist aber in der Regel eine harmlose Erscheinung, der in seinen Vereinsfarben durch die Straßen rennt und sich mit seinen Kumpels Mut ansingt und antrinkt. Das Verhalten von Menschenmassen ist seit Le Bons (1841-1931) psychologisch ausgiebig untersucht worden. Fanatismus landet aber häufig im Kriminellen, vor allem auch im Politischen.
2) Das Produkt
Das Faszinierende am Fußball ist seine erstaunliche, kaum zu übertreffende Einfachheit. Einfachheit zeichnet sich dadurch aus, dass nur ganz wenige Grundtatbestände zur Erklärung erforderlich sind. Es sind „Tore erzielen und Tore vermeiden“ und das lebensweltliche „Gelingen und Misslingen“.
2.1) Tore-Erzielen und Tore-Vermeiden
Ein Ziel sollte erreichbar sein. Deshalb spricht man in den Wissenschaften statt von „erzielen“ von „erreichen“. Siehe insbesondere: „Paul Lorenzen: Praktische und theoretische Modalitäten“ (pdf). „Ein Tor erreichen“ und „ein Tor erzielen“ sind gleichsinnig. Wir schreiben abgekürzt Err Tor, oder einfacher Err A. Kein Tor erreichen ist dann Err nicht A. Das bedeutet aber ein Tor vermeiden. Err nicht A ist dann gleich Verm A. Beide zusammen genommen, als Err A UND Verm A, nennt man verfügbar oder Verf A. Von der Verfügbarkeit, Tore bzw. Punkte zu erzielen, leben alle Ballspiele. Ein Unverfügbar bzw. ein Nicht-Erreichen erlebt man nur beim Ausball und anderen Spielunterbrechungen. Es können dann keine Tore geschossen werden.
Das Faszinierende beim Fußball ist nun u.a. die Möglichkeit eines schlagartigen Umschaltens von Angriff, also Err A, auf ein Verteidigen, also Verm A, und umgekehrt. Man denke nur an einen Vertikalpass von ganz hinten in der Verteidigung über Freund und Feind hinweg bis in die torgefährlichen Spitzen. Und dann kann es knallen. So etwas Faszinierendes gibt es eigentlich nur im Fußball. Im amerikanischen Baseball kennt man einen vorgeschriebenen Angriffsmodus und einen Verteidigungsmodus. Umschalten nach Regeln. Die Verteidiger können nicht punkten. Das ist langweilig. Im Buch von Memmert und Raabe wir in Sachen Vertikalpässe sogar ein Forschungsprojekt der Sportinformatik erwähnt. Mannschaften der oberen Klasse beherrschen das Umschaltspiel annähernd perfekt.
2.2) Glück und Pech
Fußball ist gekennzeichnet durch ein unsicheres Zuspiel. Das liegt an der Wölbung von Fuß und Ball. Ein Fuß hat die gleiche Wölbung wie der Ball. Es gibt also keine satte Berührungsfläche. Das ist bei der Hand und im Handball anders. Der Ball passt in eine Hand und kann sicher zugeworfen werden. Das Mittelfeld wird in der Regel beim Handball schnell überbrückt. Streng genommen gibt es beim Handball gar kein Mittelfeldspiel.
Ein Zuspiel oder ein Torschuss kann beim Fußball gelingen oder misslingen, alles wie im täglichen Leben. Das Pech klebt am Fuße. Philosophisch spricht man von Widerfahrnis und Handlung. Jedes Zuspiel, jeder Schuss auf’s Tor als Handlung begriffen, ist immer eingebettet in Möglichkeiten des Scheiterns, des Misslingen, das einem widerfährt. Fußball ist ein Glückspiel, wie man manchmal sagt. Das ist es auch, und wieder doch nicht, wenn man die Systematik dahinter betrachtet, die im nächsten Abschnitt behandelt wird.
3) Faszination bis in die Wissenschaft hinein
Es gibt eine umfangreiche Literatur über das Fußballspiel, in journalistischer und wissenschaftlicher Absicht geschrieben. Unmöglich hier darauf einzugehen. Wir heben ein Buch heraus, weil in ihm deutlich herauskommt, wie die Daten-Wissenschaft den Fußball erreicht hat. Es ist das Buch von D. Memmert und D. Raabe: “Revolution im Profifußball. Mit Big Data zur Spielanalyse 4.0“ (2019), (mit einem lobenden Vorwort vom heutigen Bundestrainer Hansi Flick). Beide Autoren sind Sportinformatiker an der Sporthochschule in Köln.
Von Bedeutung im modernen datenunterstützten Fußball sind die Positionsdaten der Spieler und die Ereignis- oder Eventdaten im Spiel. Events im Spiel sind z.B. Ecken, Einwurf, Torabschlag, Anpfiff, Freistoß bei Abseits, Freistoß bei Foulspiel. etc. Über die Positionsdaten können auch die Laufwege eines Spielers bestimmt werden (Bild 1).
Bild 1 : Der komplette Laufweg eines Mittelfeldspielers in der ersten Halbzeit einer gewöhnlichen Bundesligapartie (Seite 38, nach Memmert/ Raabe: Revolution im Profifußball)
Im Bild 1 sieht es chaotisch aus, wie eine Molekularbewegung. Der Spieler des Mittelfeldes ist vorne und hinten mit drin. Ein wildes Herumlaufen wie zu Anfangszeiten des Fußballs, und dann einfach draufhauen. Dass beim Fußball eine ungeheure Datenmenge anfällt, die nicht mehr in eine normale Datenbank passt und somit in die Anwendungen von Big Data fällt, dürfte augenscheinlich sein. Das Bild oben ist aber konkret so aufgenommen worden, und man sieht, dass das Konkrete nicht viel weiter hilft. Theorie und Begriffe müssen mit in die Interpretation des Spielgeschehens aufgenommen werden. Ereignisse (Events) im Spiel sind solche Begriffe. Denken wir mal an eine Ecke. Die wurde früher zu meiner Zeit immer direkt aufs Tor geschlagen, so dass es mir als rechtem Verteidiger einige Mal passierte, dass der Ball von meinem Kopf zum Verdruss meines Torwarts direkt im eigenen Tor landete. Eigentor nennt man so etwas. Kann das einem Profi auch passieren? Da ein Angriff viel schwerer zu verteidigen ist, wenn die Spieler sich bewegen, stehen die Angreifer heute vor dem Eckenschlag hinter dem Sechszehner und laufen rein, wenn die Ecke kommt. Manndeckung ist so unmöglich. Das Positionsdatenbild ist heute also ganz anders als früher und man erkennt, dass Positionsdaten eigentlich nur in Verbindung mit Ereignisdaten aussagefähig sind. Bild 1 ohne Ereignisse sagt uns deshalb nicht viel. Wir können halt nur die Gesamtstrecke eines Spielers und vielleicht auch noch die Zahl seiner Zweikämpfe bestimmen.
Als Taktik im Kleinen und Strategie im Großen und nicht nur das Einzelkönnen der Spieler das Spielgeschehen ganz wesentlich mitbestimmten, wurden Theorie und Big Data immer wichtiger. Der Trainer als Lehrer wurde auf diese Weise immer bedeutungsvoller. Denn 20 -jährige Supersportler sind in taktischen wie in strategischen Sachen noch ziemlich unbedarft. Nicht nur Fußballer auch Trainer sind heute hochgehandelte Stars.
Wenn von Strategie im Fußball die Rede ist, fliegen einem immer Zahlentripel um die Ohren, die sich zu zehn aufaddieren lassen: 4-4-2, 5-3-2, 4-3-3 usf. Wir kannten früher nur das alte Schema: 2-3-5 oder in Worten: 2 Verteidiger, 3 Läufer und 5 Stürmer. Wenn eine Mannschaft auf fremdem Platz mit 5-3-2 antritt, weiß man heute, dass die „mauern“ wollen, d.h. hinten alles dicht machen. Ein 0:0 reicht denen. Das ist natürlich langweilig und macht den Fußball kaputt. Es müssen daher Mittel gefunden werden, um die 0:0-Kickerei zu verhindern.
Bild 2 zeigt nun ein 4-4-2 System aus Memmert und Raabe (Seite 150)
Bild 2: Ein 4-4.2 Aufbau von Werder Bremen von 2014 (nach Memmert und Raabe)
Die Spieler 2,5,15,38 bilden eine 4-er Kette, ebenso 16,4,6,22. Die beiden Stürmer sind 9, 11.
Es geht um die Aufteilung des Spielfeldes in Kontrollzonen. Zu entscheiden ist, welcher Spieler z.B. bei einem 4-4-2- Aufbau welche Fläche zugeteilt bekommt, wenn die Positionspunkte wie oben in Bild 2 festgelegt sind. Wie kann es anders sein: Bei der Faszination zieht der Fußball in den Wissenschaften nun auch die Mathematiker in seinen Bann. Oder anders formuliert: Die Mathematiker haben über dieses Aufteilungsproblem schon vor langer Zeit nachgedacht. Man spricht heute von einem Voronoi-Diagramm nach dem ukrainischen Mathematiker Voronoi (1868-1908). Ein Verfahren kann angegeben werden, nach dem alle Punkte in meiner mir als Spieler zugeteilten Fläche auf dem kürzesten Weg erreicht werden können. Im glänzend dargestellten Wikipedia Voronoi-Diagramm wird anschaulich gezeigt, wie das geht. Man geht natürlich sukzessiv vor. Man beginnt mit einem Spieler, dem das ganze Spielfeld gehört, und fügt dann nacheinander die anderen Spieler hinzu, immer unter Beachtung des kürzesten Weges. Die Grenzlinien, die entstehen, sind Linien gleicher Länge bis zu den Spielerpositionen als Punkte auf dem Feld. Die Grenzlinien sind natürlich ein Abstraktum wegen des gleichen Abstandes in Bezug auf zwei Punkte.
Da im Fußball alles in Bewegung ist, ändern sich die Positionsdaten der Spieler ständig und damit auch die Voronoi – Flächenzuteilung. Die dynamische Entwicklung von Voronoi-Diagrammen kann man zeitnah rechnen und aber nicht mehr den Spielern mitteilen. Es ist Aufgabe des Trainings, das einzuüben. Man trainiert dann ein rechnergestütztes Stellungspiel. Das wäre schon eine Revolution um Fußball.
Spielanalyse im Fußball, wie sie im Buch von Memmert und Raabe beschrieben wird, hat historisch gesehen im amerikanischen Baseball ihren Vorgänger. In meinen Jahren in Kalifornien hat mich das Spiel der berühmten Baseballmannschaft der Oakland Athletics oder Oakland A’s angezogen. Es war die Mannschaft, die mit Hilfe der Spielanalyse zur Spitze geführt wurde. Sie haben immerhin dreimal hintereinander von 1972-74 die amerikanische Meisterschaft, die world series, gewonnen. Herausragend war der Pitcher (Werfer) Rollie Finger. Der konnte gedrehte „Bananenbälle“ mit 160 kmh werfen, die der arme Schlagmann (Hitter) der Gegenpartei mit seinem Schläger treffen musste. Im Fußball schlägt Christian Ronaldo Freistöße über die Mauer oben in die Torecke. Und das Volk ist begeistert. Fest steht nach Memmert/Raabe, dass Spielanalyse die Oakland A’s an die Spitze im Baseball gebracht hat.