Kirchen: Sind sie noch zu retten?

1) Der Aderlass.

Es ist kein großes Geheimnis, dass die frühere gesellschaftsbeherrschende Kraft der Kirchen (ein Wort Benedikts XVI.) längst verlorengegangen ist. Man schaue nur auf die Austrittsstatistiken für beide Konfessionen in Deutschland. Jedes Jahr verlassen eine Großstadt so in der Größe von Karlsruhe (mehr als 300 000 Einwohner) die kirchlichen Gemeinden als Kirchensteuerzahler, was nicht, wegen des Geldes, weiter schlimm ist. „Volle Kassen, leere Kirchen“ ist ein bekannter Slogan. Die Kirchen fristen auch geistig ein peripheres Dasein, was an der geringen Zahl der regelmäßigen Kirchgänger abgelesen werden kann. Es ist natürlich häufig schon versucht worden, dieses Phänomen zu erklären Es sperrt einem den Mund ein weiteres Mal vor Erstaunen auf, wenn man z.B. bei Wikipedia nachliest, dass zwischen 2001 und 2011 der katholischen Kirche durch Austritte 9,1% ihrer Mitglieder verloren gegangen sind. Das erste Mal war ich bass erstaunt, als ich den „Aufstieg und Niedergang der arabischen Welt“ für diesen Blog schrieb. Niedergänge scheinen mich zu interessieren. Nachdenklich gemacht hat mich das 2016 erschienen Buch vom Passauer Bischof Stefan Oster „Gott ohne Volk – Die Kirche und die Krise des Glaubens“, ein Interview mit Peter Seewald. Man beendet die Lektüre in einer depressiven Stimmung; die Lage scheint aussichtslos zu sein, trotz enormer Anstrengung seitens der Kirchen. Einen Hoffnungsschimmer aber sendet im Buch ein Zitat von Kardinal Ratzinger aus. In seinem Buch „Glaube und Zukunft“ (1970) hat sich der spätere Papst Benedikt XVI. mit einem kleinen Lichtblick am Horizont geäußert:

„Aus der Krise von heute wird auch dieses Mal eine Kirche morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird klein werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen. Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihrer Privilegien in der Gesellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel stärker gegenüber bisher als Freiwilligkeitsgemeinschaft darstellen, die nur durch Entscheidung zugänglich wird. Sie wird als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen. Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen.“

Das ist erschütternd, aber deutlich. Hoffnung liegt für Benedikt also in dem Sprichwort „In einer Konzentration liegt eine neue Kraft“.
Ein „Aderlass“, ein hoffentlich ungeeignetes Bild, war aber medizinisch voraufklärerisch noch bis ins 19. Jahrhundert ein weit verbreitetes Heilverfahren.

2) Glauben und Vernunft.

In seinem epochalen Werk „Kritik der reinen Vernunft“ (KrV) von 1781 setzt sich Kant mit der Frage auseinander, welche Erkenntnisse Menschen über die Wirklichkeit haben können, deren Wahr-oder Falschsein nicht über die Sinneserfahrung entscheidbar ist. Es ist klar, dass sich Kant in diesem Zusammenhang auch mit Fragen des Glaubens auseinandersetzen musste.
Obwohl die Kirchen das nicht wahr haben wollen, ist Kant als Aufklärer als einer der ersten Adressen in Sachen „Glauben“ zu nennen, was auch in unserem Blogbeitrag über Glauben und Religion deutlich herausgearbeitet wurde.
Kant war immer ein großer Entmischer, ein Trenner von Begriffen. Vermischungen konnte er nicht leiden. Er wollte Grenzen ziehen. Sehr bekannt ist Kants Eingabelung von „Glauben“ zwischen „Meinen“ und „Wissen“ in einem dreistufigen Aufbau (KrV, B 850).

Meinen“ ist sowohl ein subjektiv als auch objektiv unzureichendes Fürwahrhalten.„Glauben“ ist ein subjektiv zureichendes, aber objektiv unzureichendes Fürwahrhalten; und schließlich „Wissen“ ist ein subjektiv wie objektiv zureichendes Fürwahrhalten.

Glauben ist nicht Wissen.Glauben ist ein Bedürfnis nach Gott und kein Beweis seiner Existenz.

Dem „Trenner“ Kant ist der berühmte Satz zuzuschreiben:

„Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist“ (KrV B XXX).

Dieser Satz hat Papst Benedikt XVI in seiner berühmten Regensburger Rede 2006 auf den Plan gerufen. Benedikt sagte damals u.a.:

„Das Sola Scriptura (nach Luther, der Verf.) sucht demgegenüber die reine Urgestalt des Glaubens, wie er im biblischen Wort ursprünglich da ist. Metaphysik erscheint als eine Vorgabe von anderswoher, von der man den Glauben befreien muss, damit er ganz wieder er selber sein könne. In einer für die Reformatoren nicht vorhersehbaren Radikalität hat Kant mit seiner Aussage, er habe das Denken beiseiteschaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen, aus diesem Programm heraus gehandelt. Er hat dabei den Glauben ausschließlich in der praktischen Vernunft verankert und ihm den Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit abgesprochen.“

Peinlich für den Papst ist, dass Kant inkorrekt zitiert wurde. Aus „Wissen aufheben und Glauben Platz machen“ wird bei Benedikt „das Denken beiseiteschaffen, um dem Glauben Platz machen“. „Wissen ist nicht „Denken“, und „aufheben“ ist nicht „beiseiteschaffen“. „Wissen“ beschreibt einen Bestand an Verfügbarem und „Denken“ einen Vorgang, der in der Zeit abläuft. „Aufheben“ bedeutet außer Kraft setzen, und „Beiseiteschaffen“ ist ein „Wegräumen“. Ein Gesetz wird aufgehoben, Müll wird beiseitegeschafft.
Was soll man zu einem bedeutenden Wissenschaftler wie Josef Ratzinger, später Benedikt XVI, sagen, dem solch ein Fehler unterlief. Schlimmer ist, der Fehler wurde auch nicht von seinem Stab korrigiert. Einer meiner Erlanger Kollegen in der Philosophie, immerhin ein wissenschaftlicher Verehrer Benedikts, hat mir einmal gesagt, „Ratzinger hat in zu vielen Anti-Kant-Seminaren gehockt“. Nur so ist offensichtlich ein solcher Lapsus zu verstehen. Und dann weiter sagte der Kollege etwas spöttisch: „Ratzinger glaubt immer noch, Kant sei ein evangelischer Theologe gewesen.“
Wir lesen wir bei Maximilian Forschner:

“Bei aller Kritik an einer statuarischen Religion bei aller Skepsis gegenüber der traditionellen religiösen Praxis des Kultes, des Gebetes und des autoritativen Offenbarungsdogmas war Immanuel Kant ein tief religiöser Denker“,

schreibt er in seinem Aufsatz„ ..um zum Glauben Platz zu bekommen“ (in: zur debatte 34 (2004), Nr. 3, S. 21-24).

Eigenartig: Erst im Anblick eines existentiellen Ernstes (sprich der Tod) oder in einer Notlage wird häufig auch einem Apostata, einem ausgetretenen Abtrünnigen das Kantische Wort klar, dass Glauben ein Bedürfnis nach Gott ist. Bei Austritt scheint das nicht klar zu sein. Und auch an Weihnachten sind aus sentimentalen Gründen die Kirchen voll. Auch Sentimentalität ist ein Bedürfnis, das befriedigt werden muss. Das ist natürlich Opportunismus, d.h. konsequente Wertvorstellungen werden schnell beiseitegeschoben. Da ist das Wort wieder “Beiseiteschieben“ oder wie Benedikt sagt „Beiseiteschaffen“.

3) „Kein Heil außerhalb der Kirche“ (Nulla salus extra ecclesiam) oder „Kein Heil außerhalb der Wissenschaft“ (Nulla salus extra scientiam) oder ein Dritter Weg.

Eine gesellschaftsbeherrschende Kraft der Kirchen (Benedikt) von damals haben heute im Zuge der Aufklärung die Wissenschaften erworben. Egal in welchen Lebenslagen: Wissenschaft und mit ihr auch Präzision wird verlangt, auch wenn Wissenschaftsverächter reden. Die eigene Betroffenheit lehrt ungemein schnell. Die Zeit eines Cyprian von Karthago (um 200 n. Chr.), von dem die „Nulla-salus-Formel“ stammt, ist lange vorbei. „Kirche“ (ecclesia) in dem Spruch durch „Wissenschaft“ zu ersetzen, also von einem Extrem in das andere überzugehen, bringt bekanntlich nichts. Das ist Szientismus, also ein krasser Reduktionimus, einer dieser wohlfeilen Ideologien, die im Laufe der Zeit geboren wurden. Bei der Frage: Sind die Kirchen noch zu retten, hilft der Szientismus keinen Schritt weiter, es sei denn man akzeptiert die szientistische Antwort, dass die Kirchen von der Bildfläche zu verschwinden haben.
Wir schlagen einen dritten Weg vor, den wir wissenschaftstheoretisch nennen wollen. Theologie ist ja eine Wissenschaft, also darf über sie auch wissenschaftstheoretisch geredet werden. In Amerika heißt „Wissenschaftstheorie“ immer noch „Philosophy of Science“.
Wissenschaftstheoretische Debatten beginnen in der Regel mit terminologischen Fragen. Und hier steht ganz am Anfang der zentrale christliche Begriff “Liebe“, ein gefährliches Wort, weil so viel Missverständnisse in ihm liegen. Gemeint ist keine körperlich Liebe der Sinne und Empfindungen, sondern ein ethische Grundhaltung, die dem sehr nahe kommt, was man in der christlichen Ethik „agape“ nennt. In der Mittelstraßschen Enzyklopädie lesen wir, dass das Liebesgebot

„eine aufs Wesentliche verknappte und doch allgemein verständliche Formulierung des praktischen Vernunftsprinzip oder Argumentationsprinzip einer rationalen Ethik darstellt… Das Liebesgebot derart als praktisches Transsubjektivitätsprinzip verstanden, hält gleichen Abstand zu Egoismus wie Altruismus, insofern es gebietet, die eigenen Interessen nicht mehr, aber auch nicht weniger als die anderer zu berücksichtigen.“

Na also: Da haben wir es ja. So gesehen sind die Worte „Liebesgebot“, „Transsubjektivität“ und „Vernunft“ synonym (gleichbedeutend); und Synonymität ist eine Äquivalenzrelation. Man darf also zur Abstraktion schreiten und allgemein von „abstrakter Vernunft“ sprechen. Glauben und wissenschaftliche Vernunft als Konkreta gesehen, sind abstrakt ununterscheidbar. Man darf laut Abstraktionstheorie sagen:“ Liebesgebot als Konkretum ist ein Repräsentant der abstrakten Vernunft“. Gleiches gilt auch für die wissenschaftliche Vernunft. Es gibt gar kein Schisma. Das Schisma zwischen Glauben und wissenschaftlicher Vernunft ist aufgehoben. Kant spricht in diesen Zusammenhang von Vernunftglauben, z.B. in seiner wunderbaren Schrift „ Was heißt sich im Denken orientieren“ von 1786.
Wenn wir Kant folgen, dann gibt es nicht nur ein Glaubensbedürfnis, es gibt auch ein Vernunftsbedürfnis. Unsere Vernunft ist ja in der Lage, über den Tellerrand unserer sinnlichen Erfahrung hinauszublicken. Unsere Vernunft ist somit spekulativ. Und so gesehen fällt die Vernunft in die Kategorie „Glauben“ und nicht in die Kategorie „Wissen“. Es liegt nämlich ein subjektiv zureichendes Fürwahrhalten, aber ein objektiv unzureichendes Fürwahrhalten vor.

Sind die Kirchen noch zu retten? Natürlich sind die das.

Rettungsversuche sind dringend erforderlich Es müsste aber in der wissenschaftsgläubigen Welt auch politisch und journalistisch herausgestellt werden, dass zwischen Vernunft und Glauben gar kein Schisma besteht. Man denkt beim Glauben immer an Wunder-Glauben. Bei der Vernunft, das weiß jeder Mensch aus Erfahrung, geht es um das eigene, auch physische Leben. Wenn mich die Vernunft verlässt, bin ich verloren. Beim Glauben wird anders gedacht. Wie kommt das?