Multiprozessor- und Netzwerkkonfigurationen

– Ein Rückblick auf die Geschichte eines Sonderforschungsbereichs –

1) Unser Sonderforschungsbereich in Moorescher Zeit.

Als um die Jahrtausendwende die umfangreiche Vernetzung und Mobilität begann, wurde unser Sonderforschungsbereich (SFB) 182 „Multiprozessor- und Netzwerkkonfigurationen (1987-1998)“ beendet. Keiner der Beteiligten ahnte damals, welcher Sturm losbrechen würde, obwohl wir durch die Exponentialität des Mooreschen Gesetzes gewarnt waren. Heute haben wir in Form von Smartphones vernetzte Multiprozessoren in unseren Hosentaschen. Beim bekannten Kolumnisten im Informatik-Spektrum (1/16) Gunter Dueck ist zu lesen:

„Smartphones haben heute in der Regel Quad-core- oder Octa-core-Prozessoren, also eben vier oder zweimal vier (= acht) Prozessoren. Fast alles auf einem Smartphone läuft mit den ersten vier Prozessoren, die anderen braucht man vielleicht beim gleichzeitigen Filmen und Videoschauen oder so (wenn das geht). Man könnte doch eigentlich gleich nur zwei oder vier Prozessoren einbauen und die anderen vier bis sechs irgendwie per Software vortäuschen. Ich muss noch einmal nachdenken, wie man hier volkswagiert. Für Digital Immigrants oder Erst-Smartphonekäufer reichen vier Prozessoren allemal, die merken es doch nicht, …“

Der Ausdruck „volkswagieren“ ist ein böser Ausdruck, und sehr gezielt böse. Bloß „Informatik“ ist ein „honest subject“, ein ehrliches Geschäft, getäuscht wird hier nicht; es wird abstrahiert, und zwar pausenlos, so wie wir atmen, und das wird uns selten bewusst, und dann nur wenn wir darüber nachdenken. Die Bedingungen einer Abstraktion werden in einem ordentlichen Fach immer genau explizit gemacht. Sie gehören zur Spezifikation.

Nach der Lektüre der Dueck‘schen Kolumne dachte ich zunächst, meinen Beitrag mit „Ein alter SFB in einer modernen Hosentasche“ zu überschreiben. Wir werden sehen, warum unser SFB rund 20 Jahre später nur noch ein Lächeln hervorrufen könnte. Er ist in der Vergangenheit versunken wie alles, was vom Mooreschen Gesetz mit seinem Exponentiellen Wachstum aufgefressen wird. So wird es den gegenwärtigen Forschungen des Jahres 2016 mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auch gehen. 2036 sehen wir uns wieder. Das Mooresche Gesetz nach Gordon Bell und Jim Gray in ihrem Aufsatz „The Revolution Yet to Happen“ soll mit Abschwächungen und einem Unsicherheitsintervall bis 2047 gelten.

Wie können exponentielle Wachstumsgesetze à la Moore begründet werden?
Einmal a) theoretisch und dann natürlich wertvoller b) empirisch durch Extrapolation des Faktischen.

a) theoretisch

Exponentielles Wachstum kommt mathematisch zustande, wenn das Wachstum (dNt/dt) nur in Abhängigkeit vom gegenwärtigen Bestand (Niveau) Nt gesehen wird. Die vergangene Entwicklung bleibt unberücksichtigt, d.h. die Bestände der Vergangenheit Nt-1, Nt-2, …, N1 werden schlicht gleich Null gesetzt.

Ansatz: dNt/dt = k Nt + o (Vergangenheit)

In Worten: Wachstum dNt/dt ist proportional zum Bestand Nt mit k als Proportionalitäts-Faktor.

Aus dem Ansatz folgt durch Integration unmittelbar: Nt = N0 ekt, das exponentielle Wachstums-Gesetz, mit N0 als einem Anfangsbestand, der nur sagt, dass es irgendwann losgehen muss. Der Faktor k muss nur den Mooreschen Bedingungen angepasst werden.

Mathematiker können mit Stolz zeigen, dass es mathematisch gesehen noch schnellere Wachstums-Gesetze gibt. Uns kommt das Mooresche Exponential-Gesetz schon unheimlich vor. Es tritt in der Natur nur sehr selten kurzzeitig auf (Wärmeentwicklung bei Explosionen, Bakterien-Wachstum im Labor, etc.). In organisatorischen Gebilden hat es das noch nie gegeben, und deshalb ist es berechtigt, den Mund vor Staunen aufzusperren, um tief Luft zu holen. Unglaublich, was da seit Gordon Moore (1965) mit uns passiert. Das Heimtückische war, man merkte zunächst nichts, aber dann ging’s los (von einem sogenannten „tipping point“ (Umschlagpunkt) an), mit einer solchen Gewalt, dass selbst Politiker wach wurden. Tja, wenn man die Vergangenheit als lästigen Ballast auffassen darf und das dann sogar wirkmächtig wird. „Unsere Zeit in Gedanken fassen“ heißt unser Blog. Mit Moore fliegt uns unsere Zeit sogar um die Ohren. „Der Laie staunt, und der Fachmann wundert sich.“ Es ist klar, dass aus dieser Perspektive unser SFB mit Abschluss 1998 heute Hosentaschenformat bekommt.

Das Mooresche Gesetz ist so richtig nach amerikanischem Geschmack. Europäer könnten so etwas gar nicht mit praktischer Wirkung erfinden. Wir denken an Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) mit seinem bekannten Gedicht über Amerika (aus: Zahme Xenien, Den Vereinigten Staaten):

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, der alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.

Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Es ist klar, dass unsere historisierenden Geisteswissenschaften Schwierigkeiten mit unserer Zeit haben. Der Ausdruck „Digital Humanities“ hilft auch nicht weiter, wenn nicht von einem reflektierenden Metastandpunkt aus die Mooresche Explosion wahrgenommen und verstanden wird. Geisteswissenschaften und Bibliothekswesen sind schlicht betrachtet nur Anwendungen wie jede andere auch. Und „Big Data“ zu erkennen, reicht auch nicht aus. Erklären ist eine naturwissenschaftliche, verstehen eine geisteswissenschaftliche Aufgabe, sagt Dilthey. Bloßes Hinterherlaufen ist nicht hilfreich. Nicht nur die Physis, sondern insbesondere die Sprachfähigkeit des Menschen, also der Geist, kann drastisch befähigt und erweitert werden, im Positiven wie im Negativen. Hier müsste man ansetzen. Das Negative hatte man völlig übersehen, wie überhaupt zunächst die ganze Explosion übersehen oder belächelt wurde. „Elektrische Datenverarbeitung“ nannten das früher Geisteswissenschaftler mit Hohn und Spott. Jetzt (Hannover 2016) mit Industrie 4.0 und IoT (Internet of Things) wird man so langsam wach und kommt vom hohen Ross herunter, wenn das Ganze mit geisteswissenschaftlichem Big Data angerührt werden kann. Prof. Michael Hagner (ETH Zürich) zitiert in Forschung & Lehre, 02/2014, Max Weber wie folgt: Max Webers Einsicht von 1919 – „Man versucht nicht un­gestraft, das auf mechanische [heute: digitale, M.H.] Hilfskräfte ganz und gar abzuwälzen, wenn man etwas herausbekommen will, – und was schließlich herauskommt, ist oft blutwenig.“ – ist heute so gültig wie damals.“

b) empirisch

In dem bedeutenden Aufsatz von Gordon Bell und Jim Gray „The Revolution Yet to Happen“ wird das Exponentielle Wachstum aus technischen Gegebenheiten heraus extrapoliert. Wir lesen ganz am Anfang auf Seite 6:

“This chapter’s focus may appear conservative because it is based on extrapolations of clearly established trends. It assumes no major discontinuities and assumes more modest progress than in the last fifty years. It is not based on quantum computing, DNA breakthroughs, or unforeseen inventions. It does assume serendipitous advances in materials and microelectromechanical systems (MEMS) technology”

Lange habe ich gesucht, um herauszufinden, was „serendipituous“ (Adjektiv) oder „serendipity“ als Substantiv bedeuten. Die Wörterbuch-Übersetzungen „glücklich getroffen“ oder „glücklicher Zufall“ passen nicht, weil sie, und das kann man nur auf Deutsch sagen, nur ereignisbezogen (event-oriented) und nicht widerfahrnisbezogen aufzufassen sind. Im Englischen gibt es den Begriff „Widerfahrnis“ halt nicht, und somit auch nicht das „glückliche Widerfahrnis“, was mit „serendipity“ gemeint ist. Wir müssen schon die Literatur bemühen, um das herauszufinden. Bei John T. Lobster finden wir im Internet:

„Eine glänzende Karriere machte Serendipity in den Naturwissenschaften, wo es bald zur Kernmetapher im Reich der Erfindungen und der Entdeckungen wird. Es ist freilich ein für die exakten Fächer gefährlich unscharfer Begriff. Daher versuchen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Philosophen und Praktiker der Naturwissenschaften, Serendipity vom bloßen Zufall zu unterscheiden. Zufallsfunde kommen unverdient und sind selten – Serendipity dagegen hat immer etwas mit der Fähigkeit zur systematischen Bildung von Hypothesen zu tun. Der Zufall, so Pasteur, hilft nur den vorbereiteten Köpfen. Dies gilt für Wöhler und die Harnstoffsynthese und für die Vulkanisierung des Kautschuks durch Charles Goodyear, es trifft auf Röntgen ebenso zu wie auf Flemings Entdeckung des Penicillins. Zum modernen Paradebeispiel von Serendipity wird 1953 die Entschlüsselung der DNS-Struktur durch Watson und Crick.“

Serendipity nennen wir auf Deutsch schlicht ein glückliches Widerfahrnis. Und so wollen Bell und Gray das Mooresche Gesetz eingeordnet wissen. Das Mooresche Gesetz ist eine Serendipity. Es gilt als eine Roadmap, als ein Wegeplan der Computer-Industrie. Die große spekulative Frage steht am Horizont, wann es abgelöst wird. Dass es sich abschwächt, kann schon beobachtet werden. „Nothing lasts forever“.

Wie alles, ist Forschen auch ein menschliches Handeln. Am Anfang steht Klugheit und Mut, am Ende Glück. Viele, die über Forschungen berichten, glauben, aus Gründen eines populistischen Journalismus nur über Erfolge berichten zu müssen. Das Nicht-Erfolgreiche wird übergangen und so wird journalistisch – wie üblich – ein Bias erzeugt. Nach einer kurzen Darstellung des SFB gehen wir auf Misserfolge ein und heben uns dadurch hoffentlich vom Opportunismus wohltuend ab. Die Glaubwürdigkeit steigt, und das ist der Sinn der Eigenkritik.

2) Die Struktur des SFB 182

Schauen wir in systematischer, nicht in historischer Absicht auf unseren SFB 182, so finden wir in unseren Anträgen die folgende Struktur:

Die Struktur des SFB 182
Die Struktur des SFB 182

Die „Hochhaus-Darstellung mit Befestigungen durch Trossen“ gibt als Metapher die Struktur adäquat wieder.

Auch der digitale Laie oder Immigrant merkt hier, dass eine berühmte Abstraktionshierarchie nämlich die ISO/ OSI- Hierarchie nachempfunden wurde, von der Hardware bis hinauf zu den Anwendungen. Die nachempfundenen Schichten stellen die einzelnen Teilprojekte dar. Die meisten Anwender sind heute Digital Immigrants, hoch oben. Die merken gar nicht, wenn sich unten im Hardwarebereich etwas ändert. Man nennt das eine gelungene Abstraktion. Man darf z.B. unten auf der Hardware-Ebene im Sinne des Abstraktionsprinzips etwas ändern, wenn im Konkreten Äquivalente nachgewiesen werden. Oben im Anwenderbereich ändert sich nichts, man sagt, die Anwendung läuft invariant (unverändert) bezüglich der zugrundeliegenden Hardware. Die Teilprojekte A1 bis D8, die nicht im Einzelnen beschrieben werden sollen, waren lehrstuhl-orientiert und hätten bei den Gutachtern der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) aus einer interdisziplinären Sicht ohne Querschnittprojekte keine Chance gehabt.

In dem Querschnittsprojekt MEMSY (Modular Erweiterbares Mehrprozessor-System) wurden Pyramiden-Anordnungen von insgesamt 21 Prozessoren untersucht, und zwar möglichst so, dass die „Immigranten“ oben auf der Anwendungsebene im Sinne einer Abstraktion nichts bzw. wenig von Erweiterungen merken Die Anwendungen laufen eben invariant (unverändert).

Im Querschnittsprojekt HEDAS (Heterogene Durchgängige Anwendungs-Systeme) ist das Wort „durchgängig“ im Sinne einer Abstraktionshierarchie zu verstehen. Die berühmteste Abstraktionshierarchie, die wir kennen, ist unser Zahlensystem, von unseren Ziffern (z.B. römisch oder arabisch) durch Abstraktion zu den natürlichen Zahlen, dann die rationalen und weiter die reellen Zahlen bis hin ganz oben zu den komplexen Zahlen. Das geht durchgängig von unten nach oben, aber auch von oben nach unten, von der komplexen Zahl bis hinunter zum „Digit“ (Ziffer). „Kinder brauchen Märchen, Erwachsene brauchen Ideale“, sagt ein bekanntes Sprichwort. Für HEDAS war unser Zahlensystem ein Ideal. Haben wir das Ideal erreicht? Das ist eine bange Frage. Abschwächend würde ich sagen „In Ansätzen schon, mehr aber auch nicht“.

Das Querschnittsprojekt „Multimedia“ wurde erst relativ spät in den SFB aufgenommen. Erst musste der Lehrstuhl „Grafische Datenverarbeitung“ 1992 mit Prof. Seidel besetzt werden, um die großen Anwendungsgebiete „Objekterkennen, Veranschaulichen und Visualisierung“ in Angriff nehmen zu können, die heute zum Standard gehören. Multimediale Dokumente mit animierten Bildfolgen, Audio und Video-Clips sind durch die weite Verbreitung der Internet-Technologien für die Mensch-Maschinen-Kommunikation quasi unverzichtbar. Im medizinisch-diagnostischen Bereich ist das Fachgebiet „bildgebende Verfahren“ explosionsartig entstanden und heute nicht mehr wegzudenken.

Es hat nicht nur Erfolge gegeben, wie im Abschlussbericht von 1998 dargestellt wird.
Es gab auch Unvermögen und Widerfahrnisse, was selten bei Forschungsprojekten zugestanden wird.

Wir haben es nicht fertiggebracht, eine Enzyklopädie, ein umfassendes Lexikon über Verteilte Systeme zu erstellen. Gelungen ist uns nur eine Aufsatzsammlung „Verteilte Systeme. Grundlagen und zukünftige Entwicklung aus der Sicht des Sonderforschungsbereichs 182“. In einer Enzyklopädie müssten eine große Menge von Fachtermini (aber auch personenbezogenen Artikel) sich gegenseitig referenzierend erläutert werden. Unser Buch „Verteilte Systeme“ ist dagegen mehr oder weniger nur eine schlichte Aufsatzsammlung. Mögen andere einen neuen Versuch starten, eine solche Enzyklopädie zuwege zu bringen. Dass ein solches Werk auch gepflegt werden muss, um aktuell zu bleiben, versteht sich von selbst. Vielleicht legt die DFG einmal einen Sonderforschungsbereich auf, der nur das Ziel hat, für die Gesamtinformatik eine Enzyklopädie zu erstellen. Die Enzyklopädie müsste dann auf Englisch online gestellt werden. Enzyklopädien sind wichtige wissenschaftliche Nachschlagewerke.

Im Hardware-Bereich hat sich ein Teilprojekt mit optischen Verbindungen für Multiprozessorsysteme auseinander gesetzt. Optisches Rechnen (optical computing) war als Thema eingeschlossen. Man kann tatsächlich UND- und ODER-Schaltungen auch optisch realisieren, was damals mein Erstaunen hervorrief. Aber dann kam so um 1998 die Hiobsbotschaft aus Amerika. Die großen Bell Labs in den USA stellten damals die Forschungen auf dem Gebiete des optischen Rechnens ein. Das hätte dann auch für uns nur ein esoterisches Herumwerkeln bedeutet. Es wird damit angedeutet, dass auch von Gutachtern hochgelobte Forschungsarbeiten ganz schnell von der Bildfläche verschwinden können, wenn es das Schicksal von außen kommend so will. Es gibt in der Forschung wie bei allem menschlichen Handeln auch negative Widerfahrnisse. Es gibt nicht nur „Serendipities“, glückliche Widerfahrnisse.

 

Ein Kommentar zu „Multiprozessor- und Netzwerkkonfigurationen

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