Organisations-Anthropologie im Zeitalter einer abstraktiven Informations-Technologie

Zusammenfassung: Die Informations-Technologie bewirkt in unserem Jahrhundert, dass in Organisationen und damit auch in der Gesellschaft kaum ein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Die rapide zunehmende Leistungsfähigkeit der Geräte hat zur Folge, dass immer neue Anwendungsgebiete erschlossen werden. Bei drastischen Änderungen entsteht die prinzipielle Frage, was übrig bleibt. Und das ist beim „Was bleibt?“ die alte Kantische Frage der Anthropologie „Was ist der Mensch?“, und dann die Frage nach dem leitenden, menschengemachten Prinzip seiner Technologie, die seine Lebenswelt nicht nur in Organisationen entscheidend bestimmt. Neben einem „Menschen in Organisationen“ oder einer “ Organisations-Anthropologie“ steht ein wichtiges Prinzip seiner informations-technischen Mittelbereitstellung zur Debatte. Die Abstraktion im konstruktiven Sinne ist dieses Prinzip, das herauszustellen ist. So gelangen wir zu einer „abstraktiven Informations-Technologie“, die sich von einer Gerätetechnologie abgrenzt. Ebenso grenzt sich eine abstraktive Informations-Technologie von einer semiotischen Informations-Technologie ab, die sich mit Darstellungen von Zeichnungen und Bildern in Anwendungen befasst.

Es ist an der Zeit, den Versuch zu wagen, „die Zeit“ im Hegelschen Sinne „in Gedanken zu fassen“. Dabei geht es auch darum – wieder im Sinne Hegels – „die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen“. „Abstraktion“ ist seit Frege (1884) ein schwieriger Begriff, der einige Anstrengungen verlangt.

 

I. Handlungen in Organisationen

Die Frage, ob es so etwas wie eine „Organisations-Anthropologie“ gibt, stellte sich mir nach der erneuten Lektüre von Paul Lorenzens Aufsatz „Politische Anthropologie“ aus dem Jahre 1981. Nicht nur die Handhabung unserer Öffentlichen Angelegenheiten, der „res publica“, sondern auch Organisationen aller Art von Unternehmungen und öffentlichen Verwaltungen über Kirchen bis hinunter zu den Vereinen verlangen ein normativ-geordnetes Zusammenleben, ein Schlüsselbegriff in Lorenzens Aufsatz. Organisations-Anthropologie, so gesehen, ist eine themenbegrenzte Untergliederung der Politischen Anthropologie. Die Zielfindung von Organisationen ist nicht offen. Organisationen sind nach Zwecken ausgerichtet. Handlungen der Menschen in Organisationen sollten sich nicht gegenseitig stören und durchkreuzen, was im öffentlichen Leben an der Tagesordnung ist, für Organisationen aber lebensgefährlich sein kann.

Eine Organisations-Soziologie gibt es seit langem. In der Literatur wird schon auf Max Weber (1864-1920) mit seinem Bürokratie-Ansatz in dem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ verwiesen, wenn er die Funktionsweisen von Großorganisationen beschreibt. Auf Weber gehen die bekannten Organisationslehrer Fritz Nordsieck (1906-1984) und Erich Kosiol (1899-1990) zurück. Hier wurde die leider nur im deutschen Sprachraum grundlegende Unterscheidung zwischen „Aufbau- und Ablauforganisation“ herbeigeführt. Der Aufbau einer Organisation zeigt eine Struktur der Zuständigkeiten mit ihren Delegations-und Berichtswegen auf. Der Ablauf einer Organisation, dem ein Aufbau methodisch vorangehen muss, beschreibt Prozessfolgen; das sind Tätigkeiten, ausgeführt von Menschen unter Nutzung von Mitteln, die heute schon meist aus der Informationstechnologie (IT) stammen. Das IT-Getöse der Nouveaux Messieurs von heute sollte einen anthropologischen Blick nicht verstellen.

In einer Organisations-Anthropologie geht es nun nicht darum, eine Organisationslehre zu wiederholen und gar von einer Aufbau- und Ablauf- Anthropologie zu sprechen. Es geht auch nicht darum, organisatorische Regeln die z.B. das Arbeitsrecht kennt, aus einem anderen Licht zu betrachten. Ohne Zweifel nimmt aber die anthropologische Tugend der Klugheit, d.h. ein Erreichen eines effizienten Mittel-Zweck-Verhältnisses eine bedeutende Stellung ein. Das ist auch so im Organisatorischen. In einer Organisations-Anthropologie kommen aber Aspekte der anderen anthropologischen Tugend, der Gerechtigkeit, und Aspekte der menschlichen Handlungen mit ihren Widerfahrnisproblemen und Störungen ganz deutlich zum Ausdruck. Es gibt (technische) Klugheitsnormen in Organisationen in Hülle und Fülle, aber auch (ethische) Gerechtigkeitsnormen, die sich am individuellen Leistungsvermögen der Menschen orientieren. Bei Wahrung des Gleichheitsprinzips gilt für die Anthropologie immer noch der römische Rechtsspruch „ultra posse nemo obligatur“ (über seine Fähigkeiten hinaus darf niemand gefordert werden), ein Spruch, der in der Kantischen Umkehrung zu „Sollen impliziert Können“ verschärft wird. Kant sagt “ Du kannst, denn Du sollst“. Daraus folgt (nach dem modus tollens), dass bei einem Nichtkönnen ein Nichtsollen die Konsequenz ist. Lorenzen hebt diesen klassischen Satz immer wieder hervor. Ein Nichtkönnen kann heute u.U. amtlich festgestellt werden. Die Hartz-4-Gesetzgebung hat auch etwas dazu lernen müssen, wobei fast eine Parteiexplosion erfolgt wäre. So schwierig ist das alles politisch (res publica), offen eben für alle. Zielorientierte Organisationen sind leichter zu handhaben. Das mentale Durcheinander ist hier wesentlich geringer. Das muss auch so sein, falls nicht erheblicher Schaden durch Wirrwarr für alle in der „res publica“ entstehen sollte. Die praktische Politik selber reduziert sich in ihrem Sumpf auf den Umgang mit Irrationalitäten.

Ausbildung und Gebrauch eines Leistungsvermögens gehört zur Lebensführung, zur Eudämonia des Menschen. Menschliche Handlungen haben sich an einer Organisations->Anthropologie zu orientieren. Handlungsabläufe sind kontingent, wie wir alle wissen. Es gibt Widerfahrnisse im Sinne der Kamlahschen Anthropologie, die uns heimsuchen, und die ein Gelingen beeinträchtigen können. “ Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende“ lautet der bekannte Wahrspruch des Demokrit. In der Informatik klassifiziert man Widerfahrnisse auch nach dem Ausgang einer Handlung. Ist der Ausgang erwünscht, ist alles gut. Ist er unerwünscht, gibt es zwei Fälle. Entweder wird der unerwünschte Ausgang erwartet, dann gibt es im Allgemeinen Reparaturmaßnahmen. Ist der unerwünschte Ausgang unerwartet, dann steht man im Regen und man muss sehen, wie man da irgendwie herauskommt. Das nicht selten vorkommende „Im-Regen-Stehen“ eines Menschen gehört auch zu seiner Anthropologie.

Wilhelm Kamlah war es, der in seiner Anthropologie den Handlungsbegriff unmittelbar dem Widerfahrnisbegriff zuordnete. In Organisationen sprechen wir häufig statt von Widerfahrnissen von Fehlern (error). Und so sind Fehlerentdeckung (detection), Fehlereindämmung (containment) und Fehlerbeseitigung (recovery) aus einer fehlerhaften Handlung abgeleitete Handlungen, die technisch, organisatorisch und auch anthropologisch in dieser Reihenfolge hochbedeutsam sind. Aber was ist ein Fehler? Technisch gesprochen ist ein Fehler eine nicht tolerierbare Abweichung von einer Spezifikation (Soll). Die Frage, wie kommt man, so zu sagen, in einem zweiten Anlauf zum Gelingen einer Handlung, ist genauso wichtig wie die Frage nach einem Primärgelingen. Fehler sind Störungen und man unterscheidet technisch, ob ein Fehlerereignis (Signal) gesendet (throwing) oder zwecks Fehlerbehandlung empfangen wird (catching). Es kommt auch vor, dass scheinbar gelungene Handlungen später wieder rückgängig gemacht werden müssen. „Storno“ sagt der Kaufmann bei abgeschlossenen Fehlbuchungen. Man spricht von Restitution oder technisch auch von Kompensation. Ein Fehler kann auch eskalieren, d. h. zwecks Behandlung auf eine höhere Hierarchieebene einer Aufbauorganisation transportiert werden. Denken wir an eine Handlung als eine Aktualisierung eines Schemas, wobei der Handelnde nach Wohlrapp (2012) bei Orientierungslücken auch noch eine Phase des Forschens einschieben muss, dann sind Störungsquellen allgegenwärtig. Sie mögen im Schema, in der Aktualisierung, in einer fehlerhaften Forschungsphase oder, um es ganz düster auszumalen, auch im normativen Bereich liegen, sei es im Hinblick auf die technische Klugheit , falsche Mittel zu richtigen Zwecken, oder aber im Bereich der ethischen Gerechtigkeitsnormen.

Nicht wenn alles glatt läuft, man nennt das „Glattlaufen“ in der Prozessinformatik den „happy path“, sondern bei Störungen, wenn wir „unhappy“ werden, wird einem eine umgreifende Bedeutung einer Organisations-Anthropologie transdisziplinär bewusst, falls man überhaupt zum Reflektieren in der Lage ist.

Was zu uns aus der Prozessinformatik auch herüber schallt, ist die Nachricht, dass nicht die Tätigkeiten in den Prozessen es sind, die sich ständig ändern, sondern die Regeln, egal welcher Provenienz. Wenn man in einer Organisation ein „Rapid Rule Management“ einführt, dann muss das auch gekonnt werden. Wenn Regeln, die heute gelten, morgen so einfach aber nicht mehr gelten, dann geraten wir in ein anthropologisches Chaos. Es gilt immer noch der alte anthropologische Wahrspruch “ Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ (Was du auch immer tust, tue es klug und beachte das Ende).

Man kann sogar in eine Anthropologie eine Betrachtung über die Organisationslehre des kürzlich verstorbenen Albert O. Hirschman (1915-2012) anschließen, der eine Verallgemeinerung von Fehlern hin zu Störungen und dann weiter zu organisatorischen Defekten vornahm. Er erkannte die Triade (Exit, Voice, Loyalty) als Reaktionsmöglichkeiten von Individuen auf organisatorische Defekte. „Exit“ ist mit Austritt (Abwanderung) und „Voice“ mit Widerspruch (man erhebt seine Stimme) zu übersetzen. „Loyalty“ verbleibt nur dem, der sich mit organisatorischen Defekten abfindet oder abfinden muss. Unbeherrschtes „Rapid Rule Management“ führt, wenn die Bedingungen es zulassen, nach Hirschman zum „Exit“. Die ehemalige DDR war für Hirschman ein lohnenswerter Untersuchungsgegenstand.

II. Die Moderne: Organisatorische Invarianz bzgl. Raum und Zeit.

  1. Abstraktive Informationstechnologie

    Der zweite Begriff in unserem Thema „abstraktive Informationstechnik“ ist ebenfalls nicht unstrittig. Er lässt sich aber leicht verteidigen. Schauen wir auf Kerngebiete der Informatik, wie z.B. Kommunikations-, Datenbank- und Betriebssysteme, so sehen wir konstruktive Abstraktionshierarchien als Ordnungsprinzip eingeführt, die in Form von Schichten dargestellt werden. Das berühmteste Schichtenmodell ist das ISO/OSI-7-Schichtenmodell, das zur Ablaufkontrolle der Kommunikation zwischen zwei Partnern nach ISO (International Standard Organization) normiert wurde. OSI heißt Open System Interconnection. Implementiert wurde der Aufbau von OSI unter dem Namen TCP/IP (Transmission Control Protocol/ Internet Protocol) des DoD (Department of Defense). Ausgehend von der konkreten Bitübertragungsschicht (Schicht 1), wird man über fünf weitere Schichten auf die Anwendungsschicht (Schicht 7) geführt, die wir aus dem universalen Internet kennen. Was in der Hierarchie alles zur Gestaltung unserer abstrakten Welt von heute geschieht, ist im Detail nur für den Fachmann einsichtig. Wichtig ist aber das Invarianzprinzip der Abstraktion. Man darf auf einer höheren Ebene unverändert (invariant) weiterarbeiten, auch wenn sich Konkreta auf unteren Ebenen ändern sollten. Fälschlicherweise wurde Invarianz (invariance) in der Literatur häufig mit Unabhängigkeit (independence) übersetzt. Das ist aber inkorrekt. Abstrakta ohne Konkreta gibt ist nicht im Konstruktiven, wie Paul Lorenzen mehrfach ausgeführt hat. Sollte unsere Energieversorgung zusammenbrechen, verschwinden alle Abstrakta der IT, so wie wir Menschen verschwinden, wenn kein Blut mehr in uns fließt.

    Aus anthropologischer Sicht ist wohl unser Zahlensystem die berühmteste Abstraktionshierarchie. Ausgehend von konkreten Ziffern (Zählzeichen) auf Schicht 1 gelangen wir durch invariante Rede (Abstraktion) zu den ganzen Zahlen, einschließlich der Null (Schicht 2). Ein weiterer Schritt führt zu den rationalen oder gebrochenen Zahlen (Schicht 3). Dann folgen die reellen Zahlen (Schicht 4) und weiter die komplexen Zahlen (Schicht 5). In der Lehre der abstraktiven Informationstechnik ist diese „Urmutter“ der Abstraktionshierarchien von großer exemplarischer Wichtigkeit.

    Anthropologisch bedeutsam ist aber auch eine Abstraktionshierarchie in der Automatisierungstechnik, und hier insbesondere bei Flexiblen Fertigungssystemen (FFS). Durch Automatisierung werden unsere Betriebe umgestülpt. Eine bekannte Firma kommt einem bei einem Besuch nach Jahren heute fremd vor. Eine Abstraktionshierarchie der Fertigung lässt sich wie folgt kurz beschreiben: Ausgehend von elementaren Geräteoperationen (Schicht 1) und Zuführ-und Transportoperationen (Schicht 2), die vom Gerätehersteller bereitgestellt werden, gelangt man in der Hierarchie auf Schicht 3 zu einer Fertigungsaktion (z.B. Bohren), die mit anderen Aktionen zusammen einen Arbeitsgang bilden. Wer Arbeitsgänge festlegt, tut dies invariant bzgl. der zugrunde liegenden Geräte. Man will in der Arbeitsgangfestlegung auf Schicht 3 schon alleine wegen der Produktivität unverändert (invariant) bleiben, auch wenn die Geräte auf Schicht 1 und Schicht 2 einmal ausgetauscht (substituiert) werden sollten, was häufig passiert. Immer höher in der Hierarchie gelangen wir schließlich zu ganzen Fertigungsaufträgen der Anwendung. Es dürfte nicht überraschen, dass sich die menschliche Tätigkeit in FFS auf eine Tätigkeit des Beobachtens reduziert. Der Mensch sitzt vor Bildschirmen. Das sollte anthropologisch zur Kenntnis genommen werden. Denn es gilt der Ausspruch: „Abstraction hierarchies are a productivity aid“, d.h., ein beobachtender Mensch ist bei entsprechender Sachkapitalausstattung wesentlich produktiver als ein Mensch im vollkörperlichen Einsatz.

    Es sollte noch herausgestellt werden, dass im IT-Bereich wie auch im Bereich physischer Güter eine umfangreiche Standardisierung und Normierung Grundvoraussetzung für ein abstraktives Vorgehen sind. Standardisieren und Normieren stützen invariantes Denken. Internationale Aktivitäten sind in vollem Gange. De-facto-Standards der Industrie und De-jure-Standards der Normengremien sind in diesem Zusammenhang von gleicher Bedeutung.

    Ein kleiner Exkurs in die semiotische (virtuelle) Informationstechnologie

    Der Vollständigkeit halber sollte man eine abstraktive Informationstechnologie, die uns aus organisatorischer Sicht hier beschäftigt, noch abgrenzen von einer virtuellen oder semiotischen Informationstechnologie. Das Abstraktive ist für die Informatik bestimmend, konstitutiv. In Informatiker-Kreisen kommt die Unterscheidung nicht vor, weil die Begriffe „abstrakt“ und „virtuell“ in der Regel gleichbedeutend (synonym) behandelt werden. Das ist aber ein Missverständnis, das leicht erklärt werden kann, weil das Wort „darstellen“ (to represent) doppeldeutig verwendet wird. „Darstellen“ ist ein Homonym, und Homonyme sind gefährlich. Einmal ist die Verwendung abstraktiv (z.B. „konkrete Ziffern stellen abstrakte Zahlen dar“), und dann ein anderes Mal semiotisch (z.B. „dieses Bild stellt ein Haus dar“ (zur Homonymität: siehe im Mittelstraß-Lexikon EPW, Stichwort „Darstellung“). So kommt es, dass man in der Informatik z.B. von virtuellen Speichern spricht, wenn man abstrakte Speicher meint, bei denen invariant in Bezug auf eine physischen Abspeicherung adressiert wird (vgl. z.B. Peter J. Denning: „Virtual Memory“. In „Computing Surveys“, Vol.2, No.3, Sept.1970, p. 153-189). Hinzukommt, dass das Wort „semiotisch “ in der Informatik ungebräuchlich ist, auch wenn über Bilder (images), Zeichnungen (drawings) oder Gemälde (paintings) und deren Darstellungsprobleme gesprochen wird. Das Wort „virtuell“ für Vollzug und Ergebnis von Zeichenhandlungen ist in der Informatik auch im Sinne einer Abstraktion nicht mehr zu beseitigen. Wir sehen die Gegensatzpaare: virtuell (nicht physisch) – physisch, real (wirklich) – fiktiv, abstrakt – konkret.

    Es hat sich jedoch in den letzten beiden Jahrzehnten eine Bildverarbeitungs-Informatik entwickelt, deren organisatorische Konsequenzen noch gar nicht abzusehen sind. Heute sind es Schlagwörter wie „virtual reality“ und „Internet of Things“, die am Horizont auftauchen. Vom Internet der Dinge sagt man, dass die gesamte Arbeitswelt revolutioniert wird. In Sachen „Internet der Dinge“ informiert uns Wikipedia (Zugriff am 8. 8. 2013): „Das Internet der Dinge (auch englisch Internet of Things) bezeichnet die Verknüpfung physischer Objekte (things) mit einer virtuellen Repräsentation in einer Internet-ähnlichen Struktur. Das Internet der Dinge besteht nicht mehr nur aus menschlichen Teilnehmern, sondern auch aus Dingen…. Die automatische Identifikation mittels RFID (Radio Frequency Identification) wird oft als die Grundlage für das Internet der Dinge angesehen…Das Ziel des Internet der Dinge ist es, die Informationslücke zwischen der realen und virtuellen Welt zu minimieren.“

    Bei Paul Lorenzen in seinem Lehrbuch heißt es noch auf Seite 170 “ Die Existenz unbenannter Gegenstände ist der Normalfall – für unbelebte Dinge haben wir fast nie einen Eigennamen (außer in der Geo- und Kosmographie), für belebte Dinge fast nur bei Menschen und Haustieren.“ Mit dem Internet der Dinge wird sich das grundsätzlich ändern, weil die physischen Dinge unserer Lebenswelt einen eindeutigen Nominator (Eigenname) bekommen, über den sie sich mittels RFID-Technik gegenseitig ansprechen können. Wenn physische Teile in unseren Waren- und Materialflüssen sich selber kontrollieren können und z.B. einen logischen Dialog über Alarmsituationen oder Störungen abhalten, dann hat das organisatorisch und damit auch anthropologisch gravierende Auswirkungen, über die spekuliert werden darf. Eine organisatorische Verschlankung ist unschwer vorauszusehen. Im Internet der Dinge gerät der Mensch offensichtlich in die Peripherie. Ist das dann nach Copernicus, Darwin und Freud eine vierte Kränkung der Menschheit?

     

  2. Organisationen jenseits von Raum und Zeit

     

    a) Organisatorische Veränderungen

    Zurück zum Begriff “ Organisations-Anthropologie“. Die gute alte Organisation kann man sich als eine Baumstruktur von Funktionen vorstellen. Oben die Leitung, dann auf der zweiten Stufe z.B. Einkauf, Verkauf, Produktion etc., meist als Hauptabteilungen organsiert, dann auf der nächsten Stufe Einkauf-Inland und Einkauf-Ausland als Abteilungen, usw. Prozesse einer Ablauforganisation schneiden die vertikalen Linien des funktionalen Aufbaus horizontal (they cut the lines), was in der Regel zu erheblichen Schwierigkeiten unter den funktional zuständigen Personen in der Linie führt. Prozesse halten sich nicht an Aufbauten. Wissenschaftstheoretisch könnte man sagen, Prozesse sind interdisziplinär. Vom Einkauf mag es querbeet zur Produktion und Qualitätskontrolle und wieder zurück zum Einkauf führen. Quirlig ist das Leben im Prozessbereich, so aufregend, dass der Aufbauhierarchie häufig Hören und Sehen vergeht. Nicht selten gibt man deshalb die Baumstruktur auf und wechselt zu einem allgemeineren Netzwerk, das in einer Matrix dargestellt wird, was zum dem Begriff „Matrixorganisation“ geführt hat. Projekte, zeitlich begrenzt und auf ein konkretes Ziel hinarbeitend, werden durchweg matrixförmig organisiert.

    Gleichgültig, welche konventionelle Struktur vorlag, der Paukenschlag kam, zunächst unvorstellbar, als die IT-Mittel uns erlaubten, invariant bzgl. Raum und Zeit zu denken. In der Ökonomie, seit William S. Jevons (1835-1882), hat es raum-zeitabstraktes Denken immer mal wieder gegeben. Die herrschende Meinung (opinio communis) hat solches Denken jedoch stark kritisiert. Der bekannte Nationalökonom Heinrich von Stackelberg (1905-1946) brachte es auf den „Punkt“, im wahrsten Sinne des Wortes. Er nannte Märkte jenseits von Raum und Zeit „Punktmärkte“. Es ist natürlich nicht ganz einfach, für Märkte Raumpunkte und Zeitpunkte abstrakt einzuführen. Aber wenn man konstruktiv, d.h. schrittweise, zirkelfrei und alles explizit machend vorgeht, können Missverständnisse vermieden werden. Heute kennen wir z.B. im Börsenwesen den Hochfrequenzhandel. Ein Börsenhändler erwirbt irgendwo auf der Welt ein Wertpapier, also ein ökonomischen Gut, für ihn aber nur eine Position, und verkauft diese u.U. wenig später wieder irgendwo auf der Welt, wenn sich für ihn, d.h. seinen Rechner günstige Verschiebungen ergeben sollten. Man nennt das ökonomisch einen vollkommenen Markt (perfect market), früher eine Phantasmagorie, heute eine Wirklichkeit. Rechnersysteme konkurrieren an einem vollkommenen Wertpapiermarkt und die beste Systementwicklung streicht die Rendite ein. Engländer in ihrem Liberalitätsbewusstsein (Ideologie!) sind gegen eine Regulierung eines solchen Markts, auch wenn er nur spekulativen Zwecken dient und verheerende Wirkungen haben kann. Das nimmt man in Kauf. Fragen nach Klugheit und Gerechtigkeit werden ausgeklammert. Mit dem Thema „Hochfrequenzhandel“ geraten wir aber in das Gebiet der Politischen Anthropologie, dem wir uns fernhalten wollten.

    Invariant bzgl. Raum und Zeit, was heißt das?

    Der Begriff „invariant“ stammt aus der Mathematik und kann mit „unverändert“ übersetzt werden. In der Ökonomie wird der Begriff „indifference“ benutzt. Aus der Mathematik wanderte der wichtige Begriff in die Wissenschaftstheorie und siedelt sich hier insbesondere in der Abstraktionslehre an. Wer abstrakt redet, redet invariant bzgl. Konkreta, z.B. Raum und Zeit. Der so invariant Redende will sagen, dass es ihm auf Raum und Zeit (in selbst gewählten Schranken selbstverständlich) nicht ankommt. Seine Rede soll unverändert (invariant) gelten, auch wenn sich Raum und Zeit ändern. Nunmehr migrierte der Begriff, bemerkt oder unbemerkt, in die Anthropologie, weil er die Menschen ergreift, nicht nur emotional, sondern in ihrer ganzen profanen Existenz, genauer in ihrer anthropologischen Existenz, biologisch, sozial, geistig. Der Mensch bemerkt die Invarianz hautnah, wenn er in Organisationen lebt, insbesondere aber dann, wenn er „wegabstrahiert“ wird. Hervorgerufen durch die elektronische Datenverarbeitung verändern sich unsere Lebensbedingungen rapide. Gerade deshalb ist das Invariante, das in Schranken Unveränderliche als Orientierung von größter Wichtigkeit.

    Es ist ein Irrtum zu glauben, „invariant“ (unverändert) sei gleichbedeutend mit „unabhängig“. Abstrakta werden mittels Konkreta gebildet und sind deshalb nicht unabhängig von ihnen. „Unabhängig“ würde bedeuten, Abstrakta und Konkreta hätten nichts mit einander zu tun und träten beide völlig isoliert auf. Das ist nicht der Fall. In der Logik wird deshalb strikt zwischen „Invarianz“ und „Unabhängigkeit“ unterschieden. Paul Lorenzen hat immer darauf hingewiesen, dass Abstraktion ein sprachlogischer und kein psychologischer Prozess ist.

    Zum besseren Verständnis müssen wir den Ausdruck „jenseits der Zeit“ oder „invariant bzgl. der Zeit“ genauer herausstellen. Die moderne Abstraktionstheorie weist darauf hin, dass der Kantische Begriff der Gleichzeitigkeit damit gemeint ist. Kant sagt: „Was einander nicht folgt, ist deshalb noch nicht gleichzeitig. Gleichzeitig ist die Verbindung von allem in demselben Zeitpunkt.“ (Kant in mund. sens. §14 ). Was Kant sagt, geschieht z.B. im Stackelbergschen Punktmarkt. In Anlehnung an Kant ist „gleichzeitig“ wie folgt zu definieren: Zwei Zeitpunkte t1 und t2 sind mit einer Toleranz Δτ = τo – τu ≥ 0 gleichzeitig, wenn die folgende Definition gilt:

    t1 gleichzeitig t2 (τu, τo) =def (τu ≤ t1 ≤ τo) ∧ (τu ≤ t2 ≤ τo).

    „gleichzeitig“ ist eine Äquivalenzrelation (reflexiv, symmetrisch, transitiv). Ökonomen würden sagen „relation of indifference“. „Gleichzeitig“ (simultaneous) ist nicht zeitgleich (time equivalent). Zwei Schiläufer können im Slalom hintereinander exakt dieselbe Zeit benötigen. Sie sind zeitgleich. Beim Simultanslalom kann es jedoch vorkommen, dass zwei Läufer gleichzeitig ins Ziel kommen. Gleichzeitig impliziert zeitgleich. Über ein Δτ kann eine Gleichzeitigkeit auch begrifflich gesteuert werden. Ein Δτ genau gleich Null gibt es nur im Idealfall. Wenn wir heute von einer Beschleunigung unserer Zeit sprechen, meinen wir ein hohes Maß an geforderter Gleichzeitigkeit. Ein wachsendes Δτ bedeutet Entschleunigung, ein Ausdruck unserer Zeit.

    b) Outsourcing

    Schauen wir uns unsere gute alte Organisation an. Was ist aus ihr geworden? Unsere Leitung, das Headquarter, sitzt irgendwo auf der Welt. Eine Firma, wie z.B. SAP, könnte wie angedroht bei Unpässlichkeiten in Deutschland von heute auf morgen von Walldorf nach Philadelphia umziehen. Unseren Einkauf, Produktion und Verkauf verlagern wir nach Indien, China und die USA. Weil wir ortsinvariant denken, können wir das auch im nächsten Jahr wieder ändern. Unsere Produktionsstätten und Büros im Ausland übernehmen dann andere. Orts- oder Rauminvarianz wird in der täglichen Presse beklagt und begrüßt, je nachdem, wie man es sieht. In Wirklichkeit, und das Wort jetzt im ursprünglichen Sinne einer Wirkungsmächtigkeit verstanden, hat ein Abstraktionsvorgang zu den organisatorischen Entscheidungen geführt. Eine Abstraktion sorgte für die Entscheidungsmöglichkeit, nicht für die Entscheidung selber. Man kann im Sinne einer Organisations-Anthropologie dann nach Klugheit im Sinne einer Mittel-Zweck-Relation fragen, und nach Gerechtigkeit im Sinne des Leistungsvermögens und dem Satz, dass “ über seine Fähigkeiten niemand beansprucht werden darf“ (ultra posse nemo obligatur). Dass sich z.B. Inder und Chinesen wegen Überforderung in irgendwelchen dunklen Fabriken zu einem frühen Tod ruinieren, ist nicht statthaft.

    Wir betrachten unsere gute alte Organisation ein zweites Mal, und stellen dann fest, dass ganze Abteilungen ausgelagert wurden. Man spricht von „outsourcing“. Wie macht man das?

    Man durchforstet die Funktionshierarchie und stellt fest, dass Funktionen ganzer Firmenteile an separate Firmen übertragen werden können. Grundprinzip ist: Alles, was nicht zum Kerngeschäft gehört (Hauptsache im Sinne des Unternehmensziels) wird ausgelagert. Wie in der Schule gibt es eben Haupt- und Nebenfächer. Kandidaten für ein „outsourcing“ sind die EDV oder die Informatik und das gesamte Rechnungswesen. Beide Bereiche sind kompliziert und binden viel zu viel hochqualifizierte Manpower. Es gibt genug Firmen, die das übernehmen. Aber auch im Servicebereich wird ausgelagert. Firmen, z.B. aus der Versicherungsbranche, richten ein User Help Desk (UHD) ein, über das alle Probleme in Sachen IT von einer „outgesourcten“ Firma abgearbeitet werden. Wer als schlichter PC-Benutzer hat nicht schon einmal bei Einrichtung einer Software wegen unverständlicher Handbücher den Telefondienst eines ausgelagerten Call Centers in Anspruch genommen? „Moderne Telefonseelsorge“ wird das auch genannt. Der eCommerce ist ohne meist ausgelagerte Call Center heute nicht mehr denkbar.

    Der oben benutzte Ausdruck „Kerngeschäft“ ist ein zentraler Terminus in einer modernen Organisation. „Substrat“ oder der „wesentliche Kern“ sagt man wissenschaftstheoretisch dazu. Man versucht also, ins Wesentliche hinein zu abstrahieren. Man könnte auch von Verdichtung sprechen. Als Folge wird eine beträchtliche Erhöhung der Produktivität und Wirtschaftlichkeit erwartet. Gesamtökonomisch wird Wachstum generiert.

    Auch das ist zur Orts- und Zeitinvarianz noch zu bemerken: Geht man heute durch ein modernes Büro, sind viele Zimmer leer. Auf die Frage, wo die Herrschaften denn alle seien, bekommt man vom Sekretariat als Antwort:“ Die haben heute ‚home office time‘. Sie müssen sich schon vorher anmelden“. Angestellte werden zu Quasi-Unternehmern. Ein bemerkenswerter Tatbestand.

    c) Mobilität

    Eine Invarianz bzgl. der Zeit wird auffällig, wenn ein enorm hohes Reaktionsvermögen (mobility, agility) der Mitarbeiter herausgestellt wird. Mobilität und Agilität (Wendigkeit) werden heute großgeschrieben. Diverse Mitarbeiter leben in einer Art Selbstorganisation und können an einem frei bestimmten Ort unabhängig von der Zeit ihre Tätigkeit verrichten. Auch Betrachtungen zur Selbstorganisation gehören in den Bereich einer Organisations-Anthropologie. Eine dialogische Form der Anthropologie, dargestellt in der“ Philosophischen Anthropologie“ (1990) eines Kuno Lorenz, gewinnt unter dem Aspekt der Interaktion mit dem Rechner eine ganz neue Perspektive. Wenn man tage-oder gar monatelang ohne Interaktion des Partners auf eine Antwort warten muss, dann verschleift ein Diskurs, weil man gar nicht mehr weiß, wovon die Rede war. “ Interagere“ mit dem Rechner im Netz, in dem am anderen Ende der Andere, der Opponent sitzt, das ist anthropologisch heute in einer nahezu zeit- und ortsinvarianten Welt geboten.

    d) Cloud Computing

    Ein neues Kapitel in Sachen Abstraktion wird aufgeschlagen, wenn vom „Cloud-Computing“ die Rede ist (Rechnen in den Wolken. Die Metapher „Nebel“ wäre wegen der Konturlosigkeit besser). Wikipedia schreibt dazu: „Cloud-Computing umschreibt den Ansatz, abstrahierte IT-Infrastrukturen (z.B. Rechenkapazität, Datenspeicher, Netzwerkkapazität oder auch fertige Software) dynamisch an den Bedarf angepasst über ein Netzwerk zur Verfügung zu stellen. Aus Nutzersicht scheint die abstrahierte IT-Infrastruktur fern und undurchsichtig, wie von einer „Wolke“ verhüllt… Ein Teil der IT-Landschaft wird auf der Nutzerseite nicht mehr selbst betrieben oder örtlich bereitgestellt, sondern bei einem oder mehreren Anbietern als Dienst gemietet, der meist geografisch fern angesiedelt ist.“ Die IT-Infrastruktur gilt als Gehirn einer Unternehmung. Wenn dieses Gehirn nun ausgelagert wird, dann ist heute noch nicht ganz klar, wie die Neuorientierung unserer guten alten Organisation aussehen wird. Cloud-Computing ist weit mehr als die Auslagerung eines Rechenzentrums. Da zumindest in einer Public-Cloud mit mehreren Firmen zusammengearbeitet werden kann, erhofft man sich einen Pooling-Effekt. Anthropologisch herauszustellen ist der Sachverhalt, dass mit Aufkommen neuer Technologien neue Fähigkeiten des Menschen entstehen, während althergebrachte verkümmern. Das Computing in the Cloud kann mit der Dienstleistung eines Taxifahrens verglichen werden, die ich mir gegen Bezahlung bestelle. Bei einer häufigeren Taxibenutzung ist es ratsam, das eigene Auto abzuschaffen, womit dann die Fähigkeit, Auto zu fahren, verkümmert. Die Fähigkeit eines geschickten Taxifahrens wird hingegen gewonnen. Beim Cloud Computing kann man sich ganze Dienstleistungskomplexe anmieten und man verliert dann die Fähigkeit eines „zum-Einsatz-bringens“ (deployment) von Softwarekomplexen im eigenen Bereich.“Software as a Service (SaaS)“ heißt das Schlagwort, mit dem angedeutet werden soll, dass auch komplizierte Dienstpakete nach Bedarf (on demand) übers Netz angeboten werden können.

    Zu hoffen ist, dass bei einem Technologiewandel solchen Ausmaßes die Kreativität des homo faber angeregt wird und nicht verloren geht.

    e) Richtung und Abstraktion

    Abstraktion erfordert immer eine Richtung, in die abstrahiert wird. Auch die berühmte ISO/OSI-Abstraktion hatte eine Richtung. Ausgangspunkt war die Bitübertragung auf der physischen Ebene. Nach diversen Zwischenebenen wurde das Ziel einer Anwendungsschicht zur Unterstützung von Anwendungsfunktionen im Internet erreicht. Nach einem Hinweis von Hermann Lübbe kann man in vielen west-europäischen Sprachen das tiefgründige Wort „Sinn“ mit dem aus der Geometrie stammenden Wort „Richtung“ übersetzen. „En tout sens“ im Französischen heißt auf Deutsch „in allen Richtungen“ und „senso unico“ ist im Italienischen eine Einbahnstraße (besser „Einrichtungsstraße“, aber ungebräuchlich). Und wenn ein Engländer fragt „Did you get any sense of what they meant ?“, dann kann die Frage mit „Hast Du überhaupt die Richtung verstanden, in die das läuft?“ übersetzt werden. Die Schwierigkeit besteht nur darin, dass „Richtung“ selber ein abstrakter Begriff ist, der empraktisch über eine Zeigehandlung eingeführt werden sollte. Ansonsten gilt: Zwei parallele Geraden stellen dieselbe Richtung dar. Man kann auch sagen: Eine Richtung ist invariant bzgl. einer beliebigen Verschiebung von parallelen Geraden (G. Frege, 1884).

    Wer die Richtung einer Abstraktion kennt, kann auch ihren Sinn ergründen und die häufig insbesondere von Schülern gestellte Frage beantworten, „was das Ganze eigentlich soll“. Was systematisch bleibt ist, die überall auftretende Abstraktion als invariante Rede über Konkreta jedweder Art schon früh in den Schulen einzuüben. Mathematik, Informatik, aber auch Geisteswissenschaften und Sprachen sind hierzu hervorragend geeignet. Man muss es bloß methodisch tun! Und da hapert es gewaltig in den Schulen. Spontan, d.h. unmethodisch durchgeführte Abstraktionen sind nur schwer nachvollziehbar und nicht lehrbar. Im Fach „Informatik“ z.B. wird Abstraktion durchweg leider nur spontan gelehrt. Was man spontan nicht versteht, auf methodischem Wege hat man aber immer noch eine Chance zum Verständnis. Die hohe Abbrecherquote im Fach Informatik zeigt die Unzulänglichkeit einer bloß spontanen Abstraktionslehre. Das Fach wird als zu schwierig empfunden. Wer sich heute im IT-Zeitalter mit seinen rapiden Veränderungen, „in einer Welt, die sich so schnell verändert“ (Worte des zurückgetretenen Papstes) nicht am ubiquitären Abstraktionsvorgang schult, wird später mit einiger Wahrscheinlichkeit in einer sich ständig ändernden Berufswelt große Schwierigkeiten bekommen. Nur das Invariante bleibt; die Aussage ist schon analytisch wahr, weil diese Eigenschaft im Begriff schon vorher angelegt wurde. Nachhaltigkeit in der Bildung heißt, auf Veränderungen in der Zukunft vorbereitet zu sein. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ stammt aus der Forstwirtschaft und beschränkt sich zunächst auf regenerierbare Systeme, wie z.B. den Wald. Wenn ein System wesentliche Eigenschaften in der Zukunft beibehält, dann nennt man das System nachhaltig. Beim Wald liegt Nachhaltigkeit dann vor, wenn Abholzung und Wiederaufforstung sich ausgleichen, der Waldbestand ist dann invariant bezüglich konkreter Veränderung. Nachhaltigkeit wird so als ein abstrakter Begriff eingeführt. Das englische Wort für Nachhaltigkeit ist „sustainability“, was mehr zur Bedeutung „Erhalten“ hin tendiert. Gleichgültig, welche Bedeutungsnuance man wählt, auf die beruflich Bildung in Organisationen übertragen bedeutet Nachhaltigkeit die Erhaltung der Berufsfähigkeit. Wie kann das insbesondere in einer Welt geschehen, die durch das Mooresche Gesetz, eine empirisch bewährte Faustregel, mit seinen exponentiellen Veränderungen geprägt ist? Die Antwort lautet: Durch berufsbezogene Weiterbildung, die dem Aufforsten in regenerierbaren Waldsystemen entspricht. Weiterbildung als Schutz vor Niedergang ist eine organisations-anthropologische Notwendigkeit. Viele Mitbürger sagen aber wie Meister Anton am Ende in Friedrich Hebbels Trauerspiel ‚Maria Magdalena‘ (1843): „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, und verzagen vollständig. Das kann sich ein Berufstätiger nicht leisten.“Beatus ille, qui procul negotiis“, oder in freier Übersetzung: „Glücklich derjenige, der in Rente oder vor der Verrentung steht“. Die Themen „Verrentung“ und insbesondere „Frühverrentung“ gehören aber in das Gebiet der politischen Anthropologie, das wir meiden wollen. Das ist ganz typisch: Alles, was die Organisations-Anthropologie nicht zu leisten in der Lage ist, lädt sie vor der Haustüre der politischen Anthropologie ab.

    Zum Thema Überforderung des Menschen:

    In einem bekannten, lesenswerten Essay “ Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?“ versucht der berühmte Biograph Rüdiger Safranski, diese wichtige anthropologische Grenzfrage zu beantworten. Leider packt er das Problem nur politische–anthropologisch an, trennt dabei sehr schön faktische „Globalisierung“, die uns interessiert, von „Globalismus“ als Idee oder Ideologie. Globalismus ist für Safranski eine Form der Überforderung. „Die Globalisierung hält offenbar kein Mensch aus, deshalb die Einmauerung in Ideologien (Neoliberalismus, Multikulturalismus, usw.) und die Flucht in die Untergangs- und Rettungsphantasien“(S.72). Der Quantor „kein Mensch“ wird aber für Menschen in Organisationen außer Kraft gesetzt, wenn Organisationen überleben wollen. Der Mensch als „Medienkonsument mit seinen Erregungen“ ist etwas ganz anderes als der Mensch als Handelnder in einer Organisation. Der eine ist verhaltensgetrieben, der andere sitzt in internationalen Prozessfolgen einer Ablauforganisation. Hier wird auch in Frankreich, trotz einer Anordnung der Académie française, Englisch gesprochen. Englisch ist nun mal die Sprache der globalisierten Welt.

    Weiterbildung ist ein Begriff der Vernunft, die ausspähend ist, Kant sagt „spekulativ“, weil ihre Erkenntnisse über die Erfahrung hinausreichen. Was genau kommen wird, wissen wir nicht. Wir können aber in unsere Organisation Regeln zur Weiterbildung einführen, Regeln zweiter Stufe (Metaregeln), “ um die Reihe der Erfahrungen so zu ordnen, als ob ihnen ein Gegenstand der Erfahrung zugrunde läge (Kuno Lorenz, in: EPW, Stichwort „regulativ“, EPW=Enzyklopädie, Philosophie, Wissenschaftstheorie)“. „Das Cloud Computing und seine organisatorischen Umstellungen“ könnte ein Thema einer Weiterbildungs-Veranstaltung sein. Das klingt wissenschaftlich. Aber kleine, oder ganz kleine Wissenschaftler müssen wir im Zeitalter der Wissenschaften alle sein.

    Eine letzte, humoristische Bemerkung in einer spannenden Zeit aus dem Gedächtnis zitiert. Nehmen wir es als eine Anekdote. Der berühmte ungarische Mathematiker Georg Pólya (1887-1985) soll gefragt worden sein, ob Abstraktion eine Verdichtung sei. Seine Antwort: „Wenn ich meine Kollegen betrachte, ist Abstraktion wohl eher eine Verdünnung“. Das ist der Punkt. Man weiß selten, ob bei einer Abstraktion verdichtet oder verdünnt wird, weil die Richtung der Abstraktion verschwiegen wird.

    Natürlich lässt Abstraktion auch Sichtweisen zu. Gemeint ist nicht die klassische Unterscheidung zwischen extensionaler (umfängliche) und intensionaler (inhaltlicher) Abstraktion. Gemeint ist das gesellschaftliche Umfeld, das sich ändert, und zwar schlagartig im Fall von Katastrophen (Katastrophenabstraktion). Ein Beispiel: Steuerhinterziehung (Diebstahl) und (Steuer)-Verschwendung gelten heute im Allgemeinen als vollständig unterschiedliche Sachverhalte, auch wenn es sich um gleiche Beträge handelt. Der Schaden für Haushalt oder Bilanz ist aber gleich. Es dürfte also schadensäquivalent abstrahiert werden. Wird es aber nicht, es sei denn, die Situation ändert sich und man gerät in eine Insolvenz (Katastrohe). Der Insolvenzverwalter will Geld sehen und denkt monetär. Nicht-Verfügbarkeiten sind Nicht-Verfügbarkeiten, egal, wie sie zustande gekommen sind, auch im öffentlichen Bereich (siehe Griechenland).

    Ein Charakteristikum unserer Zeit sind aber immer breitere und höhere Abstraktions-Türme. Nur wer die Abstraktionsvorgänge versteht, kann an ihrer aktiven Gestaltung mitwirken. Bleibt zu hoffen, dass viele Menschen ein Hinaufsteigen nicht scheuen. Nicht nur das konkrete, auch das abstrakte Denken ist den Menschen wesenseigen. Abstraktion als das invariante Betrachten von Gegenständen ist etwas tief Menschliches. Das gilt für den homo faber wie auch für den homo sapiens.

    Wir beschließen diesen Abschnitt mit einem Zitat von Immanuel Kant aus seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1796/1797): “ Von einer Vorstellung abstrahieren zu können, selbst wenn sie sich dem Menschen durch den Sinn aufdrängt, ist ein weit größeres Vermögen, als das zu attendieren : weil es eine Freiheit des Denkvermögens und die Eigenmacht des Gemüts beweist, den Zustand seiner Vorstellungen in seiner Gewalt zu haben (animus sui corporis). In dieser Rücksicht ist nun das A b s t r a k t i o n s v e r m ö g e n viel schwerer, aber auch wichtiger als das der Attention, wenn es Vorstellungen der Sinne betrifft. Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht abstrahieren können…. Aber dieses Vermögen zu abstrahieren ist eine Gemütsstärke, welche nur durch Übung erworben werden kann “ (Seite 42/43).

    Zu hoffen ist, dass bei einem Technologiewandel solchen Ausmaßes die Kreativität des homo faber angeregt wird und nicht verloren geht.

    f) Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

    Eine moderne Organisations-Anthropologie verlangt eine Abstraktionsdisziplin, die von den Mitarbeitern viel verlangt und vor allen Dingen verstanden werden muss. Mobilität und Agilität kosten insbesondere Älteren viel Kraft und Nerven. Ist es z.B. noch gerecht, Ältere einer Job-Rotation auszusetzen, oder übersteigt das deren Leistungsvermögen? Einzelfallprüfungen sind erforderlich, die im hohen Maße ungerecht sein können, weil es eine Einzelfallgerechtigkeit nicht gibt. Statistisch gesprochen muss Gerechtigkeit wegen des Gleichheitsprinzips ein Massenphänomen sein. Einzelfallgerechtigkeit gibt es nicht; in Wirklichkeit geraten wir in die Nähe einer ungerechten Günstlingswirtschaft. Der Einzelfall gehört sachlich in den Bereich der Barmherzigkeit. Und es zählt der Ausspruch (Paul Lorenzen): „Wer gerecht ist, ist nicht barmherzig“. Umgekehrt gilt auch: „Wer barmherzig ist, ist nicht gerecht“. Man kann auch sagen, an der Barmherzigkeit stößt die Gerechtigkeit an ihre Grenzen. Anthropologisch gesprochen haben beide Tugenden, Klugheit wie auch Gerechtigkeit, ihre Grenzen. Gehört Barmherzigkeit zur Organisations-Anthropologie?

    Das ist eine wichtige Frage. Thomas von Aquin sagte in seinem Kommentar zum Matthäus-Evangelium (5,2): „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung“. (siehe auch: Walter Kardinal Kasper: Barmherzigkeit, 2012, S. 175).

    „Die Mutter der Auflösung“ können wir in Organisationen nicht wollen. Und in seiner Summa theologica (I. 21,3 ad 2) schreibt Thomas von Aquin: „Barmherzigkeit hebt die Gerechtigkeit nicht auf, sie ist vielmehr die Fülle der Gerechtigkeit.“ In einer Interpretation auf dem katholischen Kirchentag von 2006 in Saarbrücken heißt es dazu:“ Die Gerechtigkeit verlangt nach Barmherzigkeit. Die Gerechtigkeit schaut auf die Sache, die Barmherzigkeit auf die Person. Beide zusammen sehen erst das Ganze.“ Und dann weiter auf dem Katholikentag 2006: “ Diese Sicht ermöglicht ein frühes Erkennen von Ungerechtigkeit, nicht erst dann, wenn man selber ungerecht behandelt wird.“ Aus kirchlicher Sicht wird die oben gestellte Frage nach Barmherzigkeit in Organisationen also mit einem „Ja“ beantwortet.

    Es geht bei einer Neuinterpretation im Sinne einer profanen Organisations-Anthropologie um eine andere Sicht auf den etwas blumigen Begriff „Fülle“ beim heiligen Thomas von Aquin, der in Anlehnung an Max Weber profanisiert d.h. „entzaubert“ werden sollte. In „Barmherzigkeit als Fülle der Gerechtigkeit“ ist in Organisationen „als Fülle“ die konkrete Gesamtbiographie eines Menschen zu sehen. Wenn ein Mensch mit seiner angeborenen Freiheit, die ihm keiner nehmen will und kann, grobe Verstöße oder gar Serien von Verstößen gegen anthropologische Klugheits-und Gerechtigkeitsnormen begangen hat, dann ist der Mensch organisatorisch untragbar. Eine „Barmherzigkeit pur“ wäre nach Thomas die Mutter einer organisatorischen Auflösung. Selbst-Auflösung: Das kann niemals das Ziel einer Organisations-Anthropologie sein.

     

    Literatur

    Lorenzen, Paul. 1981. „Politische Anthropologie“. In: Oswald Schwemmer (Hrsg.): Vernunft, Handlung, Erfahrung. München, 104-116.

    Lorenzen, Paul. 1974. „Gleichheit und Abstraktion“. In : Paul Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt/Main, 190-198.

    Kasper, Walter Kardinal. 2012.“Barmherzigkeit. Grundbegriffe des Evangeliums- Schlüssel christlichen Glaubens“. Freiburg.

    Wohlrapp, Harald. 2012. „Für ein neues pragmatisches Denken“ . In : Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Zur Philosophie Paul Lorenzens. Münster, 27-39.

    Wedekind, Hartmut; Rüdiger Inhetveen; Erich Ortner. 2004. „Informatik als Grundbildung. Teil III. Gleichheit und Abstraktion“. Informatik Spektrum 27, 337-342.

    Kamlah, Wilhelm. 1973. „Philosophische Anthropologie – Sprachkritische Grundlegung und Ethik“ , Mannheim/ Wien/ Zürich.

    Lorenz, Kuno. 1990. „Einführung in die philosophische Anthropologie“. Darmstadt.

    Kant, Immanuel. 1983. “ Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Stuttgart.

    Safranski, Rüdiger.2010. „Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?“. Frankfurt.

     


Ein Kommentar zu „Organisations-Anthropologie im Zeitalter einer abstraktiven Informations-Technologie

  1. Als Erstes nur ein Kommentar zum Thema: „Outsourcing“.
    Aus meiner praktischen Erfahrung und vielleicht unterfüttert mit etwas Theorie möchte ich hierzu bemerken. „Outsourcing“ ist eine alte geübte Praxis, des „Schusters bleib bei deinen Leisten“ oder anders gefragt, „Was kann ich „Kaufen“ sprich gibt es hierfür einen „Markt“ also mehrere Anbieter oder muss ich es in meiner Organisation selbst herstellen. Die IT galt lange als „unverzichtbar“ und „substanziell“ für Unternehmen. Für einige trifft dies auch zu, für die die Informationen erzeugen oder mit ihnen handeln. Für andere ist es nur „Infra-Struktur“ als einkaufbar, wie Rechtsberatung, Steuerberatung oder Büroservice. Also „Outsourcing“ als „Ausgliedern“ von Funktionseinheiten immer dann, wenn es für diese Leistung einen Markt gibt, der die Leistung wirtschaftlicher – effektiver, effizienter und qualitativ hinreichend erbringen kann. „Outsourcing“ nie, wenn dadurch eine Abhängigkeit zu einem Monopollieferanten entstehen würde oder das Unternehmen vom „Erzeuger“ eines Produkts nur noch zum „Händler“ würde.
    Dies waren nur einige wenige spontane Gedanken …

    Lit.:Wohland, G., Wiemeyer, M.:
    Wie dynamikrobuste Unternehmen Marktdruck erzeugen, Murmann Verlag,
    Hamburg, 2007.

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