1) Rekapitulation im Großen als Entwicklungsprozess
Wir beginnen mit der „Rekapitulation (Wiederholung) im Großen als Entwicklungsprozess“, weil der Begriff „Rekapitulation“ seinen Sitz in der Beschreibung großer geschichtlicher Abläufe hat. Die für uns wichtigere „Rekapitulation im Kleinen als Lernprozess“ folgt dann anschließend. Wir gehen „Top-down“ vor. „Bottom-up“ ginge aber auch. Insbesondere interessiert uns dann natürlich „Rekapitulation“ im Hinblick auf „Bildung Digital“ als eine pädagogisch-didaktische Theorie. Wiederholungen, als Iteration (Schleife) oder Rekursion technisch gesehen, sind auch eine sehr wirksame Domäne der Rechentechnik.
Es war der französische Philosoph Etienne Bonnot de Condillac (1714-1780), der zum ersten Mal den Bezug von Rekapitulation zur Pädagogik (Erziehungswissenschaft) hergestellt hat, wie uns der niederländische Historiker Johan H. J. van der Pot (1918-1999) in seinem voluminösen Werk „Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte“ von 1999 mitteilt. Condillac war ein Freund von Jean-Jacques Rousseau (1711-1778), der u.a. auch durch seinen Erziehungsroman „Émile“ weltberühmt wurde. In der Geschichte der Aufklärung ist der Name „Rousseau“ und das Thema „Bildung“ nicht wegzudenken. Rousseau gilt als einer der Gründungsväter des Fachs Pädagogik. Wir lesen bei van der Pot über Condillac auf Seite 375: „Der Schüler muss anfangen, wo auch die Völker angefangen haben, und dann alles wiederholen, was die Völker getan haben. Der Gedanke der Rekapitulation ist der allgemeine Grundgedanke; er wird nicht in didaktische Einzelheiten ausgeführt“.
Rekapitulation als Periode in einer Entwicklungsgeschichte war auch ein Thema des Jenaer Zoologen Ernst Haeckel (1834-1919). Haeckel, ein Vertreter von Charles Darwin (1808-1882) auf dem Kontinent, formulierte das für die Entwicklungsgeschichte bedeutsame „biogenetische Grundgesetz“ in der Fassung: „Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese“. Mit anderen Worten: Die Entwicklung eines einzelnen Lebewesens (Ontogenese) wiederholt „im Zeitraffertempo“ die Entwicklung seines Stammes (Phylogenese).
Von Paul Lorenzen wurde das biogenetische Grundgesetz in ein „noogenetisches Grundgesetz“ umgewandelt in der Formulierung „Die geistige Bildung des Einzelnen rekapituliert die Geistesgeschichte“. Siehe: Paul Lorenzen: „Grundlagen der praktischen Philosophie (1970)“. Es muss vermerkt werden, dass es sich hierbei um eine Norm handelt und nicht um Erfahrungen wie in der Zoologie eines Ernst Haeckel. Wir sind in der Welt des Geistes, des Noumen.
Ganz einfach formuliert beinhaltet das Gesetz die Aufforderung:
„Bilde deinen Geist durch eine kritische Rekapitulation der Geistesgeschichte“
Dieses Gesetz könnte als Wahrspruch über dem Portal einer jeden Bildungsanstalt stehen. Rekapitulation ist der Bildung immanent, sie ist innewohnend. Deshalb auch hier der Aufwand im Historischen mit Blick auf das heutige Problem „Bildung Digital“. Rekapitulationen bei Lernprozessen im Kleinen haben im Großen, im Geschichtlichen einen gewaltigen Überbau.
Und der alte Wahrspruch: „Repetitio est mater studiorum“ (die Wiederholung ist die Mutter aller Bildungsbemühungen) hat bis heute alle ideologischen Stürme überlebt. Das scheint offensichtlich nachhaltig zu sein.
2) Rekapitulation im Kleinen als Lernprozess
Mit Rekapitulationen die Lehre zu unterstützen, das können Rechner. Eine Lehre systematisch vorantreiben unter Berücksichtigung des Alten, d.h., etwas Neues bringen, dazu sind sie bedingt und nur recht schematisch fähig. Schematische, nicht individuelle Lehre taugt nicht viel. Aber Vorgetragenes wiederholen, zu jeder Zeit an jedem Ort, das ist eine Domäne der vernetzten, digitalen Welt. Wir denken bei Lernprozessen auch an das berühmte Pilgerschrittverfahren: „Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück“, das auch technisch bei der Herstellung nahtloser Rohre genutzt wird.
Zur Einleitung scheint es vorteilhaft zu sein, eine Youtube-Darstellung heranzuziehen, auf die mich Prof. Bayer (München) aufmerksam gemacht hat. Es geht ums „Schreiben lernen“ ohne Papier, ohne Schiefertafel und Griffel, wie zu meiner Zeit. Das Kind muss natürlich an den Rechner und seine elementare Bedienung durch Vormachen und Nachmachen herangeführt werden. Aber dann lernt es schreiben, Prof Bayer folgend, unter Nutzung aller dazu wichtigen Sinne: Augen (Animation), Ohr (Sprachausgabe), Haptik (Touchscreen) usw. Die großen Pädagogen der Vergangenheit, auch ein Jean Piaget (1896-1980), hätten ihre Freude beim Betrachten des „Videos on Youtube“.
In Übungen wird der Stoff der Lehrveranstaltung rekapituliert. Ziel einer Bildung Digital müsste es sein, den gesamten Übungsbetrieb digital gestützt ablaufen zu lassen. Denn ein Übungsbetrieb ist per definitionem ein Rekapitulationsbetrieb.
Sehr weit ist man in der Spezifikation eines Übungsbetriebes, wenn schon konkrete Übungsaufgaben vorliegen, wie das in den meisten MINT-Fächern auf allen Ebenen der Fall ist. Man stelle sich vor, man könne Typen von Aufgabenstellungen bilden und die Lösung eines besonders einprägsamen Exemplars auf dem Rechner Schritt für Schritt vorexerzieren. Der Lernende sollte den Lösungsgang wiederholen; er wird dann aufgefordert, die anderen Aufgaben selbständig, rechnergestützt zu lösen, d.h., der Rechner kontrolliert den Lösungsablauf und korrigiert, wenn es sein muss.
Ein nicht so weit spezifizierter Übungsbetrieb kennt Kontrollfragen. Das sind Fragen, die mehr der Begriffsklärung und Begriffsfestigung dienen. Kontrollfragen sind nicht die „Quaestiones“ der klassischen Rhetorik und Dialektik, wenn auf Augenhöhe miteinander disputiert wird. Es sind Aufforderungen von Typ: “Wie hängt Begriff A mit Begriff B zusammen? Zeige den Zusammenhang grafisch auf.“ Der systematische Aufbau der Kontrollfragen richtet sich nach der Struktur der vorangehenden Lehrveranstaltung.
Man sollte immer bedenken, dass „Lehren und Lernen“ kein Dialog auf Augenhöhe ist. Es gibt ein Gefälle zwischen den Partnern. „Lehren und Lernen“ ist nach der Mittelstraßschen Enzyklopädie „eine Bezeichnung für das gemeinsame, in der Regel methodische partnerschaftliche Handeln zweier oder mehrerer Partner, durch das wenigstens einer von ihnen sich Lehr- und Lerngegenstände aneignet.
Wie kann man Rekapitulation in Zukunft noch wirksamer computertechnisch unterstützen? Das ist ein weites Feld, würde Theodor Fontane sagen.
Was alles mit modernen Medien vorstellbar ist, ist überwältigend. Die Kluft zu dem, was praktisch und effektiv nutzbar ist, ist auch hier enorm. Auch bei HalloABC und HalloDeutsch wären belastbare Daten über den Lernerfolg bei Nutzern sehr interessant und wünschenswert. Vielleicht gibt es zumindest Ansätze.