- Dankbarkeit in der Historie
Die brillanten Arbeiten von Egon Flaig haben mich veranlasst, den Gedanken der Trägerkultur im letzten Beitrag „Leitkultur versus Trägerkultur“ zu vertiefen. “Dankbarkeit“ ist eine alte Tugend, die nicht nur mir, sondern fast allen Zeitgenossen mit unserem Anspruchsdenken völlig aus dem Blickfeld geraten ist. „Dankbarkeit ist nicht nur die größte aller Tugenden, sondern die Mutter von allen“ hat der bedeutende römischen Philosoph und politischer Schriftsteller Marcus Tullius Cicero (106 v.Chr. bis 43 v.Chr.) gesagt. Cicero ist mir aus der Schule mit seinen Reden gegen Catilina noch ein Begriff. Als Philosoph ist er mir gänzlich unbekannt geblieben; ich weiß nur, dass er der griechischen Stoa zugerechnet wird.
Ich war ein schlechter Lateiner; das lag aber auch daran, dass der Lateinunterricht nach dem Kriege (1946 -1955) erbärmlich war. Die Lehrer waren anfangs allesamt geschundene Kriegsteilnehmer, die in abgewetzten Uniformen mit entfernten Hoheitszeichen der Wehrmacht vor uns standen. Das Übersetzen von Texten à la Cicero glich mehr einem Lösen von Kreuzworträtseln als einem systematischen, analytischen Arbeiten auf grammatischer Grundlage. Zum Philosophen Cicero sind wir nie gekommen. Daher meine Wissenslücke. Aber heute ist in den Schulen ja alles besser? Das ist natürlich Ironie. Und trotz oder wegen der Umstände bin ich meinen Lehrern auch im Lateinischen in einer Rückschau dankbar. Sie taten, was sie konnten. Mehr konnten sie halt nicht. Sie waren als Kriegsteilnehmer nach diesen Erlebnissen psychisch mitgenommen. Was wäre ich aber ohne sie? Gleiches gilt natürlich auch für meine Mathematik- Physik- und die weiteren Sprachlehrer, die samt und sonders von der Front kamen. Meine weiblichen Lehrer hatten ihre Zeit im Sanitätsdienst und in Luftschutzbunkern verbracht. Ihr Zustand war auch nicht viel besser. Die Ernährungslage war verheerend. Meinen syrischen Flüchtlingen beschreibe ich diese Lage gerne in Wort und Bild mit der Bemerkung: Fliehen konnten wir im Westen nicht. Wohin auch schon?“
In der stoischen Philosophie ist natürlich Seneca (etwa 1 n. Chr. – 65 n. Chr.) mit dem großen Werk „De Beneficiis“ (Über die Wohltaten) und seinen sieben Büchern besonders hervorzuheben. Im Buch I (10-15) können wir nachlesen oder nachhören: „Am allertiefsten steht der Undankbare, nur das alles jenes vom Undank ausgeht, ohne dass kaum eine Schandtat zu ihrer Höhe heranwächst.“ Nach Seneca zerstört Undank alles, insbesondere die gesellschaftlichen Verbindungen. Seneca ist einer der schärfsten Verfechter der Dankbarkeitstugend. Bei ihm kommt das Trägerkulturelle der Dankbarkeit markant zum Ausdruck.
Cicero, Seneca und natürlich Kant sind drei bedeutende Denker über Dankbarkeit. Wenn man sucht, wird man auch beim Thema „Dankbarkeit“ (gratitude) bei Kant fündig. Kant bringt es immer auf den Punkt; und alle staunen, einige mäkeln, aber das tun sie mehr, weil man mäkeln muss, was man auch Kritisieren nennt. Das Erstaunliche bei Kant ist, dass er in seinen „Metaphysik der Sitten“ (1797) hochmodern in der Begriffslehre zwischen Extension und Intension der Dankbarkeit unterschied (§ 33). Mit Extension meint er, dass Dankbarkeit „sich nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf Vorfahren bezieht, selbst die, die man nicht mit Gewissheit namhaft machen kann“. Die Intension bezieht sich auf den Grad der Dankbarkeit, der von einer oberflächlichen Dankbarkeit bis zur einer tiefen Dankbarkeit reicht. Intension und Extension sind heute als Inhalt und Umfang ein zentraler Bestandteil einer jeglichen Begriffsanalyse. Der Unterschied von Intension und Extension wurde aber in der Neuzeit erst wieder von Gottlob Frege (1848-1925) und seinem Schüler Rudolf Carnap (1891-1970) deutlich heraus gearbeitet.
- Dankbarkeit heute
Egon Flaig hat in seinem Aufsatz „Demokratie und Dankbarkeit“ in der NZZ vom 7.08.2017 die Bedeutung der Dankbarkeit erneut versucht einzuordnen. Im Anschluss an unseren vorherigen Beitrag „Leitkultur versus Trägerkultur“ ist die Tugend der Dankbarkeit der Trägerkultur zuzurechnen. Denn eine Trägerkultur hat die Vergangenheit und ihren Aufbau bis in die Neuzeit im Auge. Eine Leitkultur ist zukunftsorientiert, will führen und ist noch stärker als die Trägerkultur der Gefahr einer Ideologie, einer Verschönerung der Welt ausgesetzt.
Das Anspruchsdenken, das unseren Jugendlichen schon als eine Art Pseudo-Aufklärung gelehrt wird, macht uns kaputt. Für einen Anspruchsdenkende ist die Entstehung einer Leistung oder einer Wohltat etwas Selbstverständliches. Ihr Zustandekommen interessiert ihn nicht. Der Anspruchsdenkende ist unhistorisch, er wird nur geleitet nicht getragen.
Wenn unser „Reichtum“, das ist unsere technologische Basis, nicht mehr wächst, stillsteht oder gar schrumpft, dann ist in der Welt der Anspruchsdenkenden eine gesellschaftliche Explosion zu erwarten, weil Ansprüche partout nicht mehr befriedigt werden können. Denn von einem Anspruchsdenken herunter zu kommen, gelingt nur selten. Das ist so ungefähr die Quintessenz des Buches von Egon Flaig „Die Niederlage der politischen Vernunft – Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen.“ Flaig spricht von Niederlage und nicht von Niedergang. Es besteht also im seinem Sinne noch Hoffnung auf Einsicht.
Auch den Entwicklern des Gedankens eines freiheitlich demokratischen Rechtstaates auf griechischer Basis bis nach Europa hinein gebührt unser höchster Dank. Das waren unsere Vorfahren, auf die wir stolz sind. Alles, was man gewann, kann man aber auch verlieren. Trost spendet uns heute noch Hölderlin (1770 -1843) mit seiner Erkenntnis „ Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.
Erich Ortner aus Konstanz schrieb mir:
Lieber Herr Wedekind,
mich hat bei Flaig vor allem der (klare) begriffliche Zusammenhang zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften sehr beeindruckt. Warum nicht von frühester Jugend an eindeutig und genau sprechen lernen, versuchte ich (sehr) wenigen Eltern vor ein paar Tagen (mit geringem Erfolg) zu erklären.
„Für den Zusammenhalt menschlicher Gemeinschaften ist das Gefühl der Dankbarkeit zentral.“ und dann: „Demokratien sind Gemeinschaften. Gesellschaften beruhen auf dem Tausch, Gemeinschaften auf dem Opfer.“, welches bei den Nachkommen überhaupt so etwas wie Dankbarkeit auslösen kann. Dankbarkeit ist wie Bildung, man kann sie nicht verordnen, sie muss in einem freiwillig entstehen. In einem Überfluss-Staat wie Deutschland entsteht Dankbarkeit bei keinem mehr.
Parallelgesellschaften haben auch nichts Gemeinschaftliches, sie treffen sich im Unendlichen, also gar nicht. Parallelgesellschaften sind demokratiezersetzend, da Demokratien ja Gemeinschaften sind. Man kann in einer Demokratie verschiedene Gesellschaften unter einen Hut (Aggregation) bringen. Mit Parallelgesellschaften gelingt das (per definitionem) nicht. Parallelgesellschaften sind das Gift (Zerfall, die Anomie) für jede Demokratie, die ja nur als Gemeinschaft (Opfer) funktioniert.
Schöne Grüße
Ihr
EO
Hallo in die Fichtestraße, habe mal wieder in deinen Blogs „rumgelesen“. Du weißt, was ich damit sagen will.
Kann nicht so gefeilt und qualifiziert, wie z. B.Prof. Ortner darauf eingehen.
Mich hat im letzten Wahhlkampf ein Plakat der SPD (in DA nur einmal gesehen, dafür aber oft in FFm) immer wieder auf die Palme gebracht: „Bildung darf nichts kosten, außer etwas Anstrengung.“ Da braucht man/frau sich nicht zu wundern, was aus der Dankbarkeit geworden ist und wann sie endlich auf der Strecke bleibt.