1. Einleitung
Wenn Emeriti zusammensitzen und über den Zustand der heutigen Universitäten sprechen, kommt in der Regel das Thema „Verrechtlichung“ auf die Tagesordnung mit der Konsequenz, dass die Kollegen, die heute im aktiven Dienst sind, herzlich bedauert werden. Man begrüßt an sich selbst die „Gnade der frühen Geburt“.
Ein Kollege trug einen Fall aus seiner letzten Zeit im Amt vor. Es schilderte den Ablauf einer mündlichen Wiederholungsprüfung und seinen mühevollen Versuch, aus dem Kandidaten in 30 min etwas Positives herauszuholen. Es gelang ihm nicht. Also versuchte er es weiter. Auch in zusätzlichen 10 min brachte der Kandidat nichts zustande. Der Kandidat fiel durch und legte bei der Universitätsverwaltung Beschwerde ein. Der Beschwerde wurde stattgegeben, weil die vorgegebene Prüfungszeit überschritten wurde. Die grausige Prozedur musste wiederholt werden „ Fiat justitia, sic periat gloria mundi“. Oder anders: Prüfungsregeln sind wie Verkehrsregeln auffassen! „Wenn Ampel rot (A), dann stoppen (B)“. Oder allgemein: „Wenn Sachverhalt A vorliegt, dann tue B“. (A ⇒ ! B). Für einen Prüfer gilt: „Wenn die Prüfungszeit abgelaufen ist (A), dann beende die Prüfung (B).
Im Bologna-Zeitalter der Bachelor/Master-Studiengänge hat seit 2000 die „Verregelung“, sprich Verrechtlichung extrem zugenommen. Eine Verrechtlichung wird endgültig zur Karikatur, wenn man aus dem Kultusministerium in München hört, dass nunmehr in Prüfungsordnungen sämtliche Prüfungsinhalte (einklagbar!) festgeschrieben werden sollen. Das bedeutet: Eine Änderung des Stoffes einer Vorlesung erfordert dann eine Änderung der Prüfungsordnung. Verrechtlichung so gesehen ist nicht mehr ernst zu nehmen, sondern ist von nun ab der Gegenstand von Karnevalsveranstaltungen. Ernsthaft aber hängt sich der Verrechtlicher und die Gemeinschaft, die er verrechtlichen will, am Verrechtlichungs-Strick auf und begeht ungewollt Selbst- und Massenmord.
2. Regeln und Empfehlungen
Werke des Rechts sind Regelwerke. Es gibt in der Neuzeit kaum einen Philosophen, der über Regelwerke intensiver nachgedacht hat als Ludwig Wittgenstein (1889-1951). Insbesondere in seinen Philosophischen Untersuchungen , eine lose Sammlung von Aphorismen und Notizen, die erst 1953 posthum veröffentlicht wurde. Wittgenstein hat die Mechanisierung durch Regeln sehr genau erkannt. Wir studieren, bevor wir zur Aufklärung kommen, einige wichtige Aphorismen im Wortlaut:
- 202 „ Darum ist „der Regel folgen“ eine Praxis. Und der Regel zu folgen „glauben“ ist nicht: der Regel folgen. Und deshalb kann man nicht der Regel „privatim“ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“
Man folgt einer Regel. Bloß „glauben einer Regel“ zu folgen, das geht nicht. Regeln sind im Gegensatz zu Maximen keine Privatangelegenheit.
Und dann die direkt dahinter in §203, auch gedacht für mündliche Prüfungen und ihre Problematik:
- 203 „ Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.
Bemerkung: In mündliche Prüfungen sollte das „ Auskennen“ herausgefunden werden. Das braucht seine Zeit, die nicht so ohne weiteres vorherbestimmbar ist.
Dann der wichtige § 206, der selbstdenkende Aufklärer aufhorchen lässt:
- 206 „ Einer Regel folgen ist, das ist analog: einem Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet und reagiert auf ihn in bestimmter Weise. Aber wie, wenn der Eine „so“ und der Andere „anders“ auf Befehl und Abrichtung reagiert? Wer hat dann Recht?“
Und dann weiter in § 219 noch genauer:
- 219 „ ‘Die Übergänge sind eigentlich alle schon gemacht‘ heißt: ich habe keine Wahl mehr. Die Regel, einmal mit einer bestimmten Bedeutung gestempelt, zieht die Linien mit ihrer Befolgung durch den ganzen Raum. ….
Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.“
Und dann noch zum Schluss § 225 für jene, die an Abstraktion ihre Freude haben:
- 225 „ Die Verwendung des Wortes ‚Regel‘ ist mit der Verwendung des Wortes ‚gleich‘ verwoben. (Wie die Verwendung von ‚Satz‘ mit der Verwendung von ‚wahr‘.)“
Wir fassen Wittgenstein kurz zusammen: Eine Regel ist blind und abgerichtet zu beflogen. Eine Regel ist wie ein Befehl.
Was sagen die Aufklärer, speziell des 18. Jh. dazu? :
Die sind empört! Lessing (1729-1781), der Aufklärer, lässt seinen Titelhelden im „Nathan der Weise“ sagen: „Kein Mensch muss müssen“. Der Mensch ist kein Sklave, kein Befehlsempfänger, der sich abrichten lässt. Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen, das etwas tun soll kraft eigener Einsicht, aber nicht tun muss. Zwischen ‚sollen‘ (ought-to) und ‚müssen‘ (must) besteht ein gewaltiger Unterschied. Der eine, der soll, denkt selbst, der andere der muss, denkt nicht selbst, der lässt andere denken. Wer denken kann, der soll auch denken. Selbstdenken ist das Gebot der Aufklärung (Kant). Der berühmte Berliner Philosoph Moses Mendelssohn (1729-1786), ein Brieffreund Kants (1724-1804), war für Lessing die Vorlage für seinen Nathan den Weisen. Im Sinne der Aufklärer sind Regeln als Empfehlungen aufzufassen Eine mündliche Prüfung sollte als Empfehlung 30 min dauern, sie muss es aber nicht. Um Juristen am Portepee zu fassen: Bei Gericht gilt, jeder aufgeklärte Richter, der eine Beweisaufnahme für noch nicht abgeschlossen hält, wird den Prozess nach eigenem Ermessen verlängern, um ein begründetes Urteil fällen zu können. Und darauf kommt es ihm an. Das unterscheidet gute Richter übrigens von schlechten.
3. Aussöhnung (Synthese) zwischen Wittgenstein (These) und den Aufklärern (Antithese)
In der heutigen industriellen Geschäfts-, Produktions- und Verkehrswelt sind Regeln im Sinne Wittgensteins gang und gäbe. Beim Entwurf von Geschäftsprozessen stehen, wie in unserem Blog ausgeführt, sogar separate Regel-Datenbanken vom Typ ‚A ⇒ ! B‘ zur Debatte, die wegen ihres hohen Änderungsdienstes vom Prozessablauf getrennt gepflegt werden müssen, um nicht wie bei Prüfungsordnungen demnächst in einem tödlichen Änderungssumpf zu versinken. In Geschäfts-, Produktion- und Verkehrsprozessen ist so ziemlich alles im Wittgensteinschen Sinne geregelt. Das freut unsere „Verrechtlicher“ in Hochschulangelegenheiten; und doch liegen sie falsch. Denn es dürfte klar sind, dass Unterrichts- und Prüfungsprozesse zunächst mal etwas anderes sind als Geschäfts-, Produktions- und Verkehrsprozesse. Denkt man an Multiple-Choice-Prüfungen, so ist man aber schon sehr nahe bei Wittgenstein, nicht nur im akademischen Bereich, sondern schon beim Führerscheinerwerb. „Ich folge einer Regel und fülle den Fragebogen aus, und wenn ich es nicht genau weiß, dann rate ich“. Man kann auch alles erraten, wenn man nur halbwegs mit der Terminologie vertraut ist. Denn Regeln entstehen ja auf einer terminologischen, d.h. begrifflichen Basis. Regelbefolgung geschieht nach einem Dressurakt und wir denken an Goethe, der seinen Faust über den zugelaufenen Pudel sagen lässt „Ich finde nicht die Spur von ein Geist und alles ist Dressur“.
Eine Versöhnung der Wittgensteinschen Regelauffassung mit den Aufklärern geschieht in Synthese über den Begriff „Spezifiktionsgrad“. Z.B. sind Verkehrsregeln hochgradig spezifiziert. „Wenn die Ampel rot ist, dann stoppen“ heißt es glassklar. Das kann man auch als ‚Wissen‘ in „ mutiple choice“ abfragen.
Jetzt kommt das Problem der Subsumtion. In dieser Hinsicht sind unsere Verrechtlichungs-Juristen geschult, also sprechen wir sie auf dieser Schiene an. Denn nur so können wir uns verständlich machen. Subsumtion bedeutet, einen Sachverhalt ( das sind logisch wahre Aussagen) zu erfassen und unter den Tatbestand eines Gesetzes zu bringen, damit die Rechtsfolgen einer juristischen Regel begründet werden können. Spezifiziert sind die juristische Regel und der Sachverhalt. Das Subsumieren ist, einen Sachverhalt, den Fall, das Spezielle unter eine allgemeine Regel zu bringen. Es ist ein Weg vom Besonderen zum Allgemeinen. Der feine Unterschied zwischen einer simplen Regelanwendung „die Ampel ist rot, also stoppe ich“ und einer Subsumtion „dies ist ein Fall der ungerechtfertigten Bereicherung“ liegt auf der Hand. Das eine ist eine Wahrnehmungsleistung und das zweite, die Subsumtion, ist eine Verstandesleistung. Verstandesleistungen sind durchweg wesentlich subtiler als Wahrnehmungsleistungen. Das wissen Juristen auch.
Das ist in andern Wissenschaften auch so. Subsumtionsprobleme haben nicht nur die Juristen. Das ist in allen praktischen Wissenschaften so, in denen ein praktischer Fall (der Sachverhalt) unter eine Regel gebracht werden muss, um ein Urteil fällen zu können. Subsumtion sieht einfach aus, ist aber oft sehr schwer, sagen auch geschulte Juristen. Subsumptionsprobleme sind häufig Gegenstand auch von mündlichen Prüfungen, z.B. auch in technischen Fächern. Das geht aber nicht im Multiple-Choice-Verfahren. Es muss argumentiert werden.
In MINT-Fächern spielt die Modellbildung eine große Rolle. Es gibt Standardmodelle, die der Student sogar im Detail kennen muss. Geprüft werden die Kenntnisse des Studenten mit Hilfe eines speziellen Falles. Subsumieren unter das Modell kann der Student nur, wenn er auch die Annahmen kennt, die in dem Modell stecken. Auch das ist eine Verstandesleistung und keine Wahrnehmungsleistung, wie z.B. das Ablesen eines Messwertes im Labor.
Verstandesleistungen lassen sich nicht verrechtlichen, weil sie auch häufig im Dialog erbracht werden. Das ist die Quintessenz. Wir erinnern an Wittgenstein „§ 203 „ Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.“
Eine paradox klingende Frage: War Wittgenstein ein Aufklärer? Antwort: Ja, er war einer, aber von besonderer Art. Als Sprachphilosoph beobachtete er die Verwendung des Wortes „Regel“ und seine Befolgung in Sprachgemeinschaften. Er beobachtete und redete wie ein Geschäftsprozess-Manager. Das ethische Problem (das Sollen) sah er nicht bei seinem sklavischen Regelbegriff. Wenn es um Ethik („Sollen“) ging, sagte der sehr formal-denkenden Wittgenstein: God may help you. Im Vorwort zu seinem Tractatus erklärt er in Bezug auf Quellen, die er benutzt haben könnte, dass die ihm gleichgültig seien. Wer kann sich heute so etwas im Zeitalter der Plagiatsforschung noch leisten? „ Nur das will ich erwähnen“ schreibt er „ dass ich den großartigen Werken Freges und den Arbeiten meines Freundes Herrn Bertrand Russell einen großen Teil der Anregungen zu meinen Gedanke schulde.“ Bertrand Russell (1872-1970), sein Lehrer in Cambridge, aber war ein Aufklärer mit Leib und Seele.
Am 20.02. 2017 schrieb Prof. Lehner (TU Dresden) den folgenden Kommentar:
Herr Wedekind,
als Vertreter einer Generation, welchem die „Gnade der frühen Geburt“ nicht zu Teil wurde, kann ich Ihre Einschätzung nur unterstreichen. Auf die letzten 10 Jahre zurückblickend, hat die Formalisierung und damit einhergehend die Verrechtlichung aller Vorgänge – auch jenseits der Lehre, d.h. sowohl mit Blick auf Forschungsprojekte (Stundenzettel bei EU-Projekten, …) aber insbesondere auch bei inneruniversitären Vorgängen (z.B. anteilige Urlaubstage für studentische Hilfskräfte ) extrem zu genommen – wenn man nicht so Spaß bei der Ausübung des Berufs (i.S. der „Berufung“) hätte, wäre man oftmals geneigt hinzuwerfen…
Viele Grüße,
WL