Von Selbstmord zu Freitod

-  Zum ARD-Film “Gott“ von Ferdinand von Schirach -
1) Abstand von den Geboten der Kirche

„Die Leiden des jungen Werthers“  heißt der Briefroman des jungen Johann Wolfgang  Goethe (1749-1831) von 1774, der den Dichter mit einem Schlag weltberühmt machte.  Goethes Romanfigur Werther beendet sein Leben durch Selbstmord (Suizid); und die Wirkung des Romans war damals so groß, dass man öffentlich vor einer Nachahmung  einer Selbsttötung durch Liebeskummer warnen musste. Zum Schluss heißt es bei Goethe:„ Nachts gegen elfe wurde er an der Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet“.  Der letzte Satz „ Kein Geistlicher hat ihn begleitet“  ist zu einem geflügelten Wort geworden. Die Grabstätte des Werthers  war natürlich außerhalb eines Friedhofs. Auf einem „campo santo“, in geweihter Erde, durfte kein Selbstmörder begraben werden. Die Ächtung war zu groß. Es war schließlich Mord, eine unverzeihliche  Todsünde in alle Ewigkeit. So war das damals.

Wilhelm Kamlah (1905- 1976) schreibt in seiner “Philosophischen Anthropologie“ (1973)   auf Seite 177 in dem Abschnitt über den Freitod: „Das dogmatische Verbot des Selbstmords hatte lange Zeit eine Parallele im dogmatischen Verbot der Ehescheidung.“ Und in Italien, so sagt Kamlah, hat die Dogmatik seine härteste Fixierung erfahren.  Prof. Kamlah selbst hat 1976  in einer offensichtlich verzweifelten Lage wohlüberlegt den Freitod gewählt. Deshalb ist das, was er über die Selbsttötung  als Philosoph schreibt, von besonderem Interesse. Kamlah starb den Philosophentod , wie man häufig sagt. „Philosophieren heißt“, seit Sokrates, „sterben lernen“. Das ist Pathos.

Begrifflich ist der Weg vom alten Begriff „Selbstmord“ hin zum  modernen Begriff „Freitod“ ein Weg der Säkularisierung, ein langsames Loslösen von den Geboten der Kirche, eine Verweltlichung  und Hinwendung zu Humanität und Aufklärung. Hervorzuheben ist, dass bei Kant und auch bei Hegel der Begriff „ Selbstmord“ in differenzierter Form erhalten blieb, was von Kamlah in seiner Anthropologie auf Seite 176 mit Verwunderung zur Kenntnis genommen wurde. D.h., der Begriff „Selbstmord“, der durch „Selbsttötung“ versachlicht wird, sitzt tief und ist nicht so ohne weiteres wegzubekommen.

Das Thema „Selbsttötung“ lässt die Menschen nicht in Ruhe. Am Montag, dem 23. 11.2020, 20:15, wurde von der ARD  der Film „Gott“ nach einem Drehbuch des bekannten Autors  Ferdinand  von Schirach ausgestrahlt.  Im Film  wurde vor einem Ethikrat  der Fall behandelt, ob ein lebensüberdrüssiger alter Mann von 78 nach dem Tode seiner Frau ein tödliches Medikament bekommen  soll oder nicht. Sterbehilfe nennt man auch einen assistierten Suizid. Unter den Zuschauern wurde  nach  heftiger Debatte abgestimmt. 70% waren für eine Gabe des tödlichen Medikaments,  also für einen assistierten Suizid und 30% dagegen. Erstaunlich das Ergebnis. In der Schweiz, in der der Film auch gezeigt wurde, war das Abstimmungsverhältnis ähnlich. Der Übergang von Selbstmord zu Freitod war bei der Mehrheit  der Zuschauer vollzogen.

2) Die Nichtigerklärung des § 217 STGB (geschäftsmäßige Sterbehilfe)   durch das Verfassungsgericht im Februar 2020

Bis zum Februar 2020 galt der § 217 Strafgesetzbuch mit der Maßgabe, dass eine geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe steht. Gegen dieses Verbot wurde mit Erfolg geklagt. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist verfassungswidrig, also nichtig, und zwar von Anfang an. Begründet wird die Nichtigkeitserklärung  vom Gericht mit Art. 1 Abs. 1 und Art.2 Abs. 1 des Grundgesetzes:

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Art.1 Abs.1)

(2) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt (Art.2 Abs.1).

Was soll der arme Mensch denn machen, der sterben will und keine Hilfe bekommt. Soll er sich vor einen Zug werfen? Diejenigen, die  geschäftsmäßig beim Sterben assistieren, wie z.B. der Verein  „Dignitas“, können und sollen   den Sterbewilligen  überreden, ihn von seinem Tun abzubringen. Das Verbot nach § 217 STGB  ist nichtig, so sagt das Bundesverfassungsgericht, weil es „die Möglichkeit einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleert.“ Der Gesetzgeber, so das Gericht weiter, soll aber sicherstellen, „dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum  zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt.“

Das ist nun Aufklärung pur und dem Gesetzgeber bleibt noch ein Haufen Arbeit. Wie wir in unserem Blogbeitrag „Die Würde des Menschen“ (2016) ausführten, sind diese Gedanken  unmittelbar auf  Immanuel Kant zurückzuführen. Kant selbst war offensichtlich noch nicht so weit, das Wort „ Selbstmord“ gänzlich  zu verbannen, wie das in nicht-kirchlichen Kreisen  heute  üblich ist. Der Weg vom Selbstmord zum Freitod ist lang und mühsam, und ist mit der Aufforderung des Verfassungsgerichtes an den Gesetzgeber   immer noch nicht ganz abgeschlossen.

Der nichtige § 217, der die Sterbehilfe behandelte, darf nicht verwechselt werden mit dem   § 216, Tötung auf Verlangen. Ein aktives Töten auf Wunsch, nicht ein bloßes Helfen,  ist weiterhin strafbar und steht auf einem ganz anderen Blatt. § 216 behandelt eine Fremdtötung und keine Selbsttötung.

3) Der Film „Gott“ von Ferdinand von Schirach

Ferdinand von Schirach (*1964) ist ein Autor, der das ethische Steilewandfahren liebt. Dabei geht es auf Leben und Tod. Normales ethisches Gelände scheint für ihn uninteressant zu sein. Das ist auch richtig etwas für einen Ethikrat, den Schirach in seinem Stück  „Gott“ tagen lässt. Er gerät gerne in den „Dunstkreis“ des Grundgesetzes. Wir erinnern uns an unseren Blogbeitrag „Die Würde des Menschen“ von 1916, in dem sein TV Film „Terror“  (ARD 17.10, 2016) behandelt wird.

Der Film und die anschließende Debatte  in der Talkshow „Hart aber fair“ von  Frank Plasberg machte uns deutlich, dass die assistierte Selbsttötung ein diffiziles Unterfangen ist. Dabei muss lobend hervorgehoben werden, wie im Film  der assistierte Suizid sehr genau aus juristischer, medizinischer und theologischer Perspektive zu sehen ist. Bei „Hart aber fair“ kam dann deutlich heraus, dass der assistierte Suizid „ein Ritt auf der Rasierklinge“ ist, weil man sehr leicht in den strafbaren Bereich des „Tötens auf  Verlangen“ (§216 STGB) gerät. Einen todbringender Brei z.B. muss der Sterbewillige sich selber einverleiben, möglichst alleine, ohne die Anwesenheit eines Dritten. Ein Füttern  des Breis durch einen Dritten ist problematisch, weil das schon nach Tötung auf Verlangen aussieht. Der Tod muss durch eigenes Tun herbeigeführt werden. Ob der Sterbewillige das noch kann, ist eine ganz andere Frage, und soll hier nicht behandelt werden. Auf den Gesetzgeber wartet noch viel, delikate Arbeit.

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