– Bemerkungen zum Dieselskandal –
1) Schwindeleien in den Wissenschaften
Schwindeleien in den Wissenschaften sind ein altbekanntes Phänomen. Wer das Buch von Federico Di Trocchio: „Der große Schwindel – Betrug und Fälschung in der Wissenschaft“ (1994) gelesen hat, ist überrascht; und trotzdem sieht er eine menschliche Komponente im Hintergrund, die ehrgeizgetrieben ist. Und Ehrgeiz (engl. ambition) ist etwas Gutes, ohne Ehrgeiz läuft nicht viel. Man darf den Ehrgeiz nur nicht übertreiben. Das ist wie bei allen Tugenden so. Mut ist gut, die Extreme Tollkühnheit und Feigheit sind schlecht. Ein gesunder Ehrgeiz wird verlangt; ein verbissener, krankhafter oder gar blinder Ehrgeiz ist unerwünscht. Man sollte das Buch von Di Trocchio wie eine Anklageschrift eines Staatsanwalts lesen. Es werden, und das ist das Interessante, auch ganz Große der Wissenschaft angeklagt: Isaak Newton, Galileo Galilei, Gregor Mendel und viele mehr. Der Leser selbst ist der Richter. Und der Richter stellt bei mir fest, dass man Vereinfachungen in der Modellbildung, die immer stattfinden, nicht unter die Rubrik „Fälschung“ fallen lassen darf. Die Modellbildung, das ist die Theorie dahinter, muss offengelegt werden. Mehr nicht. Das ist unbestritten. Und auch Ausreißer dürfen in einer Messreihe entfernt werden, wenn nun z.B. mal gerade bei einer Messung ein Blitz eingeschlagen ist. Di Trocchio haut aber schon in seiner Einleitung gewaltig auf den Putz. Er spricht von einer Wissenschaft des Fälschens und nennt die neu gebildete Kreation schon in seiner Einleitung sarkastisch „Defraudistik“ (vom Englischen: to defraud = betrügen). Ob das Fach lehrbar ist? Ausführlich befasst sich auch Wikipedia mit dem Betrugsthema.
Das gilt alles auch, damit der Leser sich nicht langweilt, für die (Weiter) – Entwicklung eines Dieselmotors. Entwicklung ist ein Kind der Wissenschaft. Beeindruckend ist aber Di Trocchios Feststellung (S.10) mit Blick auf die Milliardenausgaben des Staates in Sachen Forschungs- und Entwicklungsförderung: „Heute betrügt man, kurz gesagt, des Geldes wegen, früher dagegen tat man es wegen einer Idee“. Da hat sich schon ein Wandel eingestellt zwischen früher und heute. Es gilt aber spöttisch immer noch, was Lessing in seiner Minna von Barnhelm (1767) zum Ausdruck brachte: Was heißt hier betrügen; das muss doch heißen „corriger la fortune“.
2) Abgasreduktion beim Diesel: Hard- und Software
2.1) Hardware
Es werden drei Komponenten, abseits der Partikelfilterung, aufgeführt:
- Die Abgasrückführung (AGR), die auch aus Kraftwerken als Rauchgasrückführung bekannt ist.
- Katalysatoren: Der klassische Oxidations-Katalysator, auch für Benziner, und der SCR-Katalysator (Selecitve Catalytic Reduction) für den Diesel mit seinen Stickstoffproblemen.
- Harnstoff-Injektion: Harnstoffe reagieren mit Sickstoffoxyden (NOx) zu ungefährlichen Stoffen.
Bei der Abgasrückführung (AGR) werden bereits entstandene Abgase wiederaufgegeben, so dass immer ein Kraftstoff/Luft-Abgasgemisch die Arbeitskolben erreicht. Das Abgasverhältnis (Abgase zu Kraftstoff/Luftgemisch) kann eingeregelt werden und braucht nicht konstant behandelt der werden.
Regelbar ist auch die Injektion von Harnstoffen im Abgasstrang vor dem SCR-Katalysator. Mit der Regelbarkeit tritt ein software-orientierte Abgasproblem auf. In modernen Systemen regelt die Software. Man kann regelungstechnisch das Abgasverhältnis je nach Betriebszustand bestimmen. Ein kleines Abgasverhältnis bedeutet Schonung und weniger Belag-Bildung im AGR-System. Die Harnstoff-Injektion ist ebenfalls per Software regelbar. Wenig Harnstoff (AdBlue genannt, gibt es an jeder Tankstelle) ist eben kostengünstiger im Betrieb.
2.2) Software
Der Abgasskandal wird der regelnden Software zur Last gelegt. Wir müssen uns also mit dem besonderen Typ von Software auseinandersetzen und weisen darauf hin, dass wir uns in ein ganz neues Fachgebiet begeben, das Mechatronik genannt wird. Mechatronik gilt als ein Kofferwort. In den Mechatronik-Koffer werden u.a. Informatik, Elektronik und Mechanik hineingepackt, das sind technische Zentralfächer. Mechatroniker ist ein Ausbildungsberuf in Deutschland. Mechatronik: Das ist eine „real existierende“ und nicht bloß eine zur Schau gestellte Interdisziplinarität.
Bei der Software zur Steuerung von Dieselmotoren haben wir es mit einem mechatronischen, reaktiven System zu tun, das entwickelt werden muss. Die wichtige Unterscheidung zwischen einem transformationalen und einem reaktiven System wird uns von D.Harel und A.Pnueli in dem bekannten Aufsatz „On the Development of Reactive Systems“ erläutert (Bild 1).
Bild 1: Transformationale und Reaktive Systeme nach Harel/Pnueli (1985)
Transformationale Systeme, die in der Regel gelehrt werden, sind Input/Output-Systeme. Die Systeme sind algorithmen-orientiert. Während der Transformation können Extra-Informationen verlangt werden. Der Entwickler spricht von einem „Schwarzen Kasten“ (black box), in den er dann schrittweise durch Verfeinern Licht bringt. Entwickeln ist so gesehen ein Erhellungsvorgang.
Ein reaktives System behandelt keine Transformation, sondern es versucht, wie Harel und Pnueli treffend sagen, „to maintain a certain ongoing relationship with its environment“. Das müsste doch unsere Umwelt-Politiker auf den Plan rufen. Nicht Algorithmen, sondern die Umgebung eines Systems stehen im Mittelpunkt des Interesses. Die Verbindung (relationship) mit der Umgebung geschieht über Ereignisse, eingehende oder Sensor-Ereignisse und ausgehende Aktor-Ereignisse oder Stellereignisse. Sensoren und Aktoren sind technische Geräte. Die Software-Systementwicklung interessiert sich nur für das Ereignis. Was ist ein Ereignis? Ganz einfach. Ein Ereignis ist der Abschluss eines Geschehnisses (Vorgangs). Wenn das Geschehnis läuft, gibt es noch kein Ereignis. Erst mit einem Abschluss ist das Ereignis da. Das Wunderbare für den Systementwickler ist, dass er sich auf das Ereignis konzentrieren kann. Wie es zustande kam, kann ihm gleichgültig sein. Der Systementwickler abstrahiert, er sieht das Ereignis invariant bezgl. seines Zustandekommens. Da haben wir sie wieder, die in IT-Systemen allgegenwärtige Abstraktion, die wir im Blog ausgiebig behandelt haben. In Bild 1 erkennen wir beim reaktiven System die Ereignisse e1, e2, e3, … als eingehende und ausgehende Pfeile, die wie Dornen aussehen, weshalb Harel und Pnueli nicht mehr von einer „black box“, sondern von einem „black cactus“ sprechen. Der „black cactus“ ist in unserem Falle ein Dieselmotor M. Und in unserer Metaphorik sitzt nun die Automobilindustrie, mit VW an der Spitze, mit ihrem blanken Hintern auf diesem Kaktus. Das ist schmerzhaft und ein Bild für Karikaturisten.
Wie haben wir uns nun die berühmt-berüchtigte Abschaltvorrichtung vorzustellen? In der Schrift über das Abgasproblem (Plattform für Kfz-Technik) werden wir aufgeklärt. Sensordaten sind: Umgebungs- und Kühlwassertemperatur. Daraus wird per reaktivem Programm eine Aktorstellung „Abschalten Abgasrückführung“ erzeugt (weil die motorschädlich sein soll). Und schon steigt der NOx-Anteil in den Abgasen und keiner merkt‘s, auch nicht das Kraftfahrzeug-Bundesamt bei der Typenprüfung. Die Amerikaner waren es, die haben es gemerkt. Und schon war der Skandal geboren. Der Skandal führte zu einer neuen Rechtsverordnung (Herbst 2017), die lautet Real Driving Emission (RDE), ein Test, der bei einer Typenprüfung im Felde durchgeführt wird. Abschalteinrichtungen werden dann sofort entdeckt.
In Motoren gibt es eine Menge installierter Sensoren, die in der Schrift „Autotechnik“ anschaulich behandelt werden. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass eine reaktive Motor- Programmierung höchste Ansprüche stellt. Äußerste Sorgfalt ist geboten. Harel und Pnueli schlagen deshalb eine zweidimensionale Vorgehensweise vor. Einmal eine Verfeinerung in die Tiefe, um neue Strukturen im „Schwarzen Kaktus“ zu bestimmen, zum anderen in die Breite, um das Verhalten der Komponenten gegenüber ihrer Umgebung festzulegen. Ganz unten im Kaktus treffen wir dann z, B. auch ein Verhalten an, das Kühlwasser- und Umgebungstemperatur und eine abgeschaltete Abgasrückführung in Verbindung bringt. Das führt aber auch schon in einem guten Entwurf zu Spezifikationsverletzungen. Spezifikationen, das sind heute die Abgasnormen nach EURO 6d.
3) Dieselgate: Ein Organisationsfehler?
Der schwere Vorwurf eines Organisationsfehlers bei VW wurde schon am 4.10. 2015 in der FAZ von Rainer Hank und Georg Meck unter dem Thema „Nützliche Kriminalität“ erhoben. Ein Organisationsfehler liegt dann vor, wenn nicht nur einzelne Individuen, sondern ganze Unternehmensteile sich an Regelverletzungen gewöhnt haben. „Tja, wenn alle es machen und es sogar in den Wissenschaften passiert, dann machen wir es auch“. Der Spruch ist bekannt und wird immer wieder angewandt, auch in der Europapolitik. So gesehen kennt die Politik die organisatorische Situation im Abgasskandal sehr genau. Bloß hier geht es um Existenzfragen eines Industriezweiges. Leichtfertiges und regelwidriges europäisches Handeln führt nur zur Renationalisierung. Nationen können sich immer noch national abschotten, internationale Großfirmen können das nicht.
Abschaltvorrichtungen in sozialen Gebilden, in der EU z. B. hinsichtlich des Begriffs „Freihandel“, stehen doch auf der Tagesordnung. Man moniert sie vehement bei anderen, selbst bei Freunden, um von den eigenen abzulenken.
Was tun?
Reflektierte Sprachbenutzung, mit Begriffen als „black caktus“ bei uns Menschen implementiert, bringt es an den Tag.
Genaue Beobachtung. Nachdem Sie alles beschrieben haben, sehe ich diesen Fehler ganz klar. „Deutsche Präzision“ spielt dort keine Rolle.
Allerdings, das Thema sollte im Detail untersucht werden. Gut, dass Sie darüber berichtet haben.
Viel Inspiration!
Martin Fried