Vorwort: „Mit brennender Sorge“.
Unsere Zeit, die wir in Gedanken fassen wollen, versetzt mich in einen Zustand der Sorge. Den Zustand hat kaum einer besser formuliert als Papst Pius XI. (1937) mit seiner Enzyklika in deutscher Sprache „Mit brennender Sorge“, und das geschah in Anbetracht der braunen Entwicklung. Die bedrängte Lage Europas heute ist es, die mich bedrückt, wie damals den Papst die bedrängte Lage Deutschlands.
„Verstehen heißt, verstehen wie es geworden ist“ ist ein bekanntes Sprichwort geworden. Deshalb sehen wir uns die unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen des Orients und des Okzidents mit den Kernländern Arabien und Europa unten im Bild als Differenz in den letzten 1500 Jahren an. Alles, was vom Menschen gemacht ist, ist Kultur, die der Natur begrifflich gegenübersteht. Es gibt positive und negative Kulturen. Wer schlicht Kultur sagt, meint den Saldo von Positivem und Negativem.
Wir beschäftigen uns in diesem Beitrag mit dieser atemberaubenden Abbildung.
1) Der Aufstieg:
Koran (Mohamed, 570-632), das importierte indische Zahlensystem um 770, das Haus der Weisheit in Bagdad ab 825
Es wird allgemein anerkannt, dass die Synthese griechischer Wissenschaft mit den indischen und babylonischen Errungenschaften die Basis für die arabische Gelehrsamkeit in der Zeit vom 8. bis zum 12. Jahrhundert gelegt hat. Man nennt diese Zeit „das Goldene Zeitalter“, das in der arabischen Welt nie wieder erreicht wurde. Im Zentrum der Entwicklung stand in Bagdad eine Art „Akademie“, „Haus der Weisheit“ genannt, gegründet vom Kalifen al-Mamun im Jahre 832 n.Chr. Es arbeiteten dort so gegen 90 Sprachgelehrte und Philologen an wissenschaftlichen Übersetzungen, vor allem aus den Griechischen in die arabische Sprache des Koran. Als eine Art Sprachnormierung war die Sprache des Koran (um 632) von beachtlichem Nutzen, die Sprache war förderlich und nicht hinderlich, was erst später erfolgen sollte. Al-Mamun schickte die Gelehrten seines Hofes auch nach Byzanz und bat den Kaiser, mathematische Werke (u.a. die des Euklid) zu übergeben. Man kann sagen, im Haus der Weisheit wurde so ziemlich alles ins Arabische übersetzt, was die Antike zu bieten hatte. Siehe auch den Artikel „Das arabische Erbe in Wissenschaft und Philosophie“ von Rüdiger Inhetveen.
Es wird immer hervorgehoben, dass im Haus der Weisheit gerade im philosophischen Bereich das Übersetzen, nicht das Neuschaffen im Mittelpunkt stand. Im Mathematischen war das anders, worauf wir noch zu sprechen kommen.
Vergleichen wir den Islam mit dem Christentum in Bezug auf die griechische Philosophie. In der Theologie des Islam spielt ein Platon oder Aristoteles keine Rolle, im Gegenteil. Im Christentum sind beide Griechen mitten drin, so dass sogar behauptet werden kann, das Christentum sei ohne die Griechen eine jüdische Sekte geblieben und nicht unter einem römischen Dach zu einer Weltreligion emporgestiegen. Eine der wichtigsten Personen im Verbreiten des Christentums war der Apostel Paulus von Tarsus, ein griechisch gebildeter Jude mit römischen Bürgerrechten. Ganz typisch lesen wir bei ihm in den Korinther-Briefen „Es ist besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun“ (1 Kor 6,7). Bei Platon (428-347 ante) im Dialog Georgias (473 a) mit Sokrates ist 400 Jahre früher zu lesen: Sokrates zu Georgias: „Ich sagte doch im vorherigen, Unrecht tun wäre schlimmer als unrecht zu leiden“. Vor Paulus hatte schon der größte Philosoph der Römer Cicero (106-43 ante), Stoiker seines Zeichens, folgenlos den Satz des Platon übernommen: „Accipere quam facere praestat iniuriam“.
Und im berühmten, faustisch-berühmten Johannes-Evangelium heißt es: Am Anfang war das Wort (logos, λόγος). Der Satz hat griechischen Ursprung. Aristoteles sagt: „Der Mensch ist das Lebewesen, das Logos hat“, und Johannes, der Evangelist, ist so zu interpretieren, dass er uns sagen will, woher der Mensch „Logos“ oder auch Sprache und Vernunft hat.
Was wir nur sagen wollen ist: Die griechische Philosophie hat ins Mark des Christentums getroffen, am Islam ist die Philosophie abgetropft. Übersetzen und Philologie ist eine Sache, Durchdringen, Erkennen und ein Versuch des besseren Verstehens, also Philosophieren ist eine andere.
Ganz anders sah die Sache im Haus der Weisheit aus, wenn es um die andere der zwei Kulturen, also die Mathematik und die exakten Wissenschaften (z.B. Astronomie und Naturforschung) ging. Hier stieg man schöpferisch zur Weltklasse empor, rezipierte die Griechen mit ihrer Geometrie (Euklid) und schuf die Algebra, das Operieren mit Buchstaben statt mit Ziffern, die man aus dem Indischen übernommen hatte. Genial waren auch die Inder mit ihrem Stellenwert- oder Positionssystem auf Zehnerbasis, das erst weit später im schläfrigen Europa über Fibonacci (1170-1240) bekannt wurde. Unsere Ziffern, die wir fälschlicherweise arabische Ziffern nennen, sollen in Deutschland von Albrecht Dürer eingeführt worden sein. Aus Sicht der heutigen Informatik ist natürlich al-Chwarizmi (780-835) der Star, der uns und mittlerweile auch unsere Journalistenwelt mit seinem Namen zum Begriff „Algorithmus“ (Rechenverfahren) verholfen hat. Großartig dieses schrittweise Vorgehen, das heute kein Rechnen mit Zahlen mehr sein muss, sondern viel allgemeiner gilt. Unser Erlanger Ehrendoktor Heinz Zemanek (1986) aus Wien hat über al-Chwarizmi intensive Forschungen angestellt, die auch heute noch wert sind, gelesen zu werden. Siehe: Zemanek, „Das geistige Umfeld der Informatik“.
Zwei Bemerkungen noch zum Abschluss dieses Abschnittes über die Zeit der arabischen Hochkultur. Die erste Bemerkung trägt persönliche Züge, weil es 1998 um meinen Besuch des Medizinischen Museums in Damaskus geht. Der große Arzt Ibn al-Nafis (1211-1288), um den herum das Museum gebaut wurde, hat den Blutkreislauf entdeckt. Eine imponierende Leistung. Wir in Europa glauben immer noch, dass der Engländer William Harvey so um 1650 den Blutkreislauf als erster darstellen konnte. Hier irrt Europa. Bei meinem Besuch des Museums sprach mein Führer auch über Europa. Zu al-Nafis Zeiten nannte man die Europäer „die Franken“. Sie fielen auf, weil sie in Damaskus in Lumpen herumliefen und fürchterlich stanken, weil sie sich nicht wuschen. Der Kulturabstand war deutlich. Hygiene wurde damals bei den Arabern groß geschrieben. So ändern sich die Zeiten. Die Abwasserwirtschaft, der Kern einer Hygiene, ist heute im Arabischen, vorsichtig gesprochen, äußerst problematisch. Wenn man ein menschliches Bedürfnis hat, fragt man am besten: „Where is the best hotel in town?“.
Bevor wir diesen Abschnitt beenden, sollte noch etwas zum arabischen Brückenkopf in Europa gesagt werden. Gemeint ist das Kalifat Cordoba, das erst mit der Wiedereroberung (reconquista) 1494 beendet wurde. Hier lebte der große aristotelische Philosoph Averroes (1126-1198) mit dem arabischen Namen „Abu ibn Ahmed ibn Muhammad ibn Rushd“, einer der bekanntesten Philosophen im Mittelalter. Wir heben ihn hervor, weil er mit der islamischen Theologie in Konflikt geriet, wie wir das ja auch aus der christlichen Welt kennen (siehe Galileo Galilei, 1564-1641). Wenn die theologische Orthodoxie losgelassen wird, versucht sie alles, was ihr nicht passt, niederzuwalzen. Das ist Machtpolitik. Al-Ghazali (1058-1111) hieß der orthodoxe Theologe, der mit seiner Schrift „Die Inkohärenz der Philosophen“ einen massiven Angriff gegen alles Aristotelische fuhr und nur den Koran gelten ließ. Averroes erwiderte und wehrte sich mit einer Schrift „Die Inkohärenz der Inkohärenz“. Man sieht, auch im Arabischen hat es gefunkt zwischen der Theologie und den „Vernünftlern“, wie Kant später die Philosophen nannte. Kant hatte und hat auch heute noch so seine Schwierigkeiten. In vielen Schriften wird al-Ghazali für den Niedergang des Goldenen Zeitalters verantwortlich gemacht. Das wird aber auch bestritten. Unbestritten ist aber, dass al-Ghazali einen großen geistigen Einfluss in der arabischen Welt ausgeübt hat, mit welcher Konsequenz? Das entgeht uns.
2) Das Zurückbleiben gegenüber Europa:
Renaissance, Gutenberg, (1400-1468), die „Leonardo-Welt“ und die Aufklärung (Newton, 1642-1726)
Nicht erst in der Renaissance, schon für den großen mittelalterliche Theologen und Philosophen Thomas von Aquin (1225-1274) war das Arabische eine große Wissensquelle. Für Thomas wurde alles von Aristoteles und dann auch von Averroes ins Lateinische übersetzt. Das Lateinische beherrschte er perfekt. Man kann sagen, der heilige Thomas tankte an einer arabischen Tankstelle griechischen Sprit auf Latein. Fahren konnte er dann selber, was sein gewaltiges Werk bezeugt. Direkter ging es mit al-Chwarizmis Werk über „Algebra“ zu. Das Buch wurde vom 12. Jahrhundert an mehrfach ins Lateinische übersetzt; dabei wurde der Begriff „Algebra“ aus dem Titel dieses Werkes (al-ǧabr) abgeleitet. „Es hatte großen Einfluss auf die Mathematik im Vorderen Orient und dann auch auf die weitere Entwicklung im Westen“ ist bei Wikipedia zu lesen. Erst mit der Erfindung der Infinitesimalrechnung (Differential und Integral) durch die Europäer Newton und Leibniz kam nach der Geometrie durch die Griechen und nach der Algebra durch die Araber der dritte große Schub in die Mathematik, von der wir heute noch zehren. Glaube keiner heute, man könne ohne Geometrie, Algebra und Infinitesimalrechnung ein Flugzeug bauen.
Wesentlich zur kulturellen Differenz der beiden Kulturkreise trug aber die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg (um 1450) bei. In den Wissenschaften gilt das Prinzip der Schriftlichkeit, um überhaupt eine Möglichkeit zur Überprüfung zu haben. Ohne Schriftlichkeit keine Wissenschaft. Mit Gutenberg verschwand in Europa das langsame und mühevolle Kopieren, das manuelle, geistlose Abschreiben, und die Wissenschaft nahm einen ungeahnten Aufschwung. Nicht so in der arabischen Welt. Der Koran stand aus religiösen Gründen überhaupt nicht zur Verfügung. Es war ja eine Heilige Schrift und kein heiliger Druck. Drucken des Korans war mit Todesstrafe bedroht. Der Koran durfte erst 1874 in Istanbul auf Arabisch gedruckt werden. Als Kontrast: Die Gutenberg-Bibel entstand zwischen 1452 und 1454 auf Latein. 1534 folgte dann der Druck der Lutherbibel auf Deutsch, gegenüber dem Latein eine „nicht-heilige“ Sprache. Ohne eine deutsche Lutherbibel hätte es keine Reformation gegeben, die ganz wesentlich zum Abendland gehört und in der arabischen Welt bis heute ausblieb. Es muss aber erwähnt werden, dass das Hocharabisch eine äußerst komplizierte Schriftsprache hat. Sie ist kursiv angelegt und nicht so leicht schematisierbar wie unsere Buchstaben, besser geeignet für die Kalligraphie (Schönschrift als Kunstform) als zum Druck. Von Schülern der arabischen Sprache hört man zuweilen den Stoßseufzer: „Andere lernen lesen, um studieren zu können, aber wir müssen studieren, um lesen zu können.“
In dem wunderbaren Buch „Im Haus der Weisheit“ (2013) von Jim Al-Khalili, gebürtiger Iraker, Physikprofessor in England, ist auf Seite 353 zu lesen, dass ungefähr in der Mitte des 15. Jahrhunderts Europa die islamische Welt überholte und der Anstieg in Europa weiterging – bis heute. In unserem qualitativ groben Diagramm können wir interpolieren und legen somit das Verschwinden der Kulturdifferenz auf den Beginn des 16. Jahrhunderts. Es war die kulturelle Strömung der Renaissance, die Europa in die Höhe trieb und den relativen Niedergang der arabischen Welt einläutet. Für uns in Europa begann die Leonardo-Welt, ein Terminus, der von Jürgen Mittelstraß eingeführt wurde und darauf hinweisen soll, dass der große Leonardo da Vinci (1452-1519) unsere Welt bis heute entscheidend geprägt hat. Leonardo gilt als einer der berühmtesten Gelehrten aller Zeiten, steht bei Wikipedia. Leonardo war Künstler, Erfinder, Ingenieur, Anatom und vieles mehr. Er steht als eindrucksvolles Vorbild in Europa; er zeigt uns, wie der Mensch seine Welt machen kann. Der Mensch gestaltet. Als ich im Mai diesen Jahres mit italienischen Freunden von Mantua aus auf dem Mincio-Fluss per Schiff gen „Mündung Po“ schipperte, passierten wir eine Schleuse, die 1925 erbaut worden war. Die Konstruktion der Schleusentore stammte noch vom großen Leonardo. Zuvor hatten wir bei Verona ein Automuseum besichtigt, in dem auch ein Fahrrad als Holzkonstruktion nach Leonardos Plänen zu sehen war. Bei genauerem Hinsehen in unserer Welt verfolgt uns aber nicht nur in Oberitalien der große Leonardo auf Schritt und Tritt. Seine Denkweise war in Europa durchgreifend und bereitet die große europäische Aufklärung (Enlightment, siècle de lumière) vor.
Der Begriff „Aufklärung“ ist heute, wie ein häufig benutztes Maschinenteil, abgenutzt. Man sollte besser, dem Englischen folgend, nunmehr von „Erhellung“ des Menschen sprechen. Heraus aus dem Dunkel der selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant), hinein in ein Selbst-Tätigwerden (Fichte), und hin zu einem, was Humboldt „Bildung“ des Menschen nannte. „Ich bilde mich“, aktiv, das kann man sagen, aber nicht „ich werde gebildet“, passiv. Wenn man etwas erleidet, dann ist das „Ausbildung“ (education). „Ich werde ausgebildet“, das geht im Deutschen. Der englische Terminus für Bildung lautet „literacy“, unglücklich, weil nur die Literatur durchschaut und die ganzen MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) außen vor zu bleiben scheinen. Und das im Englischen, der Sprache eines Landes, das mit Isaak Newton (1642-1726) die Aufklärung ausgelöst hatte! Infinitesimalrechnung, das Fundament physikalischer Modellbildung, Gravitationslehre auf der einen Seite, dann aber auch, mit John Locke (1632-1704) und Montesquieu (1689-1755), im gesellschaftlichen Bereich, die Gewaltenteilung waren atemberaubend. Damit begann aber in Europa der schmerzliche Weg, über Revolutionen und Aufstände, hin zu einer Re-Demokratisierung, eine Wortprägung, die mit Bezug auf die alten Griechen und als eine Analogie zum Begriff „Renaissance“ zu verstehen ist. Beide „Re-s“, die Renaissance und die die Re-Demokratisierung, also der Rückbezug auf unser eigentlich gemeinsames klassisches Erbe, hat es in der arabischen Welt nicht gegeben, was den relativen Niedergang gegenüber Europa erheblich beschleunigt hat. Dass Europa und die Neue Welt keine Lust verspüren, diese Erfolge für die Menschen aufzugeben, müsste eigentlich auch in der arabischen Welt einleuchtend und erkenntnisfördernd sein.
3) Der Niedergang:
Arab Human Development Report (AHDR) der UNO. Diglossie
Um nicht in den Verdacht einer Verfälschung oder Geschichtsklitterung zu gelangen, sollte eine jede Darstellung des Niedergangs von Arabern selbst vorgetragen werden. Europäer geraten sofort in Verdacht einer feindlichen, anti-islamischen Gesinnung. An erster Stelle erwähnen wir deshalb den Arab Human Development Report der UNO (AHDR) von 2002, der von Arabischen Wissenschaftlern verfasst worden ist. Resümee: Der Zustand der arabischen Welt ist in allen Belangen des öffentlichen Lebens in einem äußerst bedrohlichen, wenn nicht niederschmetternden Zustand. Der Zustand ist in Einzelfällen unterhalb dem der Entwicklungsländer. Die Folgeberichte 2003 bis 2009 sind als Ergänzung aufzufassen. Als Entwicklungsland wird nach Wikipedia „ein Land bezeichnet, bei dem die Mehrzahl seiner Bewohner hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen einen messbar niedrigeren Lebensstandard haben. Dies äußert sich vor allem durch eine schlechte Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern, Armut, Unterernährung und Hunger, Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung, eine hohe Kindersterblichkeitsrate und eine geringe Lebenserwartung, mangelhafte Bildungsmöglichkeiten, eine hohe Analphabeten- und Arbeitslosenquote.“ Und was die Frauenfrage anbetrifft, ist der Zustand im Arabischen noch trostloser. Es ist davon auszugehen, dass sich die Lage nach der Arabellion, die in Syrien noch stattfindet, weiter verschärft hat. Im Bericht von 2002 lesen wir, dass das Bruttosozialprodukt aller arabischen Länder zusammen genommen kleiner ist als das von Spanien, einem einzigen Land der EU. Der Handelsaustausch unter den arabischen Staaten beträgt nur 10% des Austausches nach außerhalb. D.h.: Jeder kämpft für sich alleine. „Entwicklungsland“ ist ein wohlklingender, ein euphemistischer Ausdruck. Früher sagte man international „underdeveloped countries“ (unterentwickelte Länder). Im Zeitalter der „Information and Communication Technology (ICT)“ scheint der Abstand nach 2002 immer größer zu werden, eine Befürchtung, die auch im Bericht ausgesprochen wird. Wir in Europa und Amerika stehen vor der Einführung des „Internet of Things“, des Internets der Dinge. Nur bei kleiner werdendem Abstand ist der Ausdruck „Entwicklungsland“ gerechtfertigt. Das Phänomen, das uns beschäftigt, ist ja gerade die Frage, wie es aus den Höhen vor tausend Jahren in diese Tiefen der Gegenwart kommen konnte. Dass es sich um einen multifaktoriellen Vorgang handelte und noch handelt, dürfte durch unsere bisherigen Darstellungen deutlich geworden sein. Es ist ja schließlich kein abrupter Fall (fall) zu beobachten, sondern ein zunächst langsamer und dann schneller sich vollziehender Niedergang (decline).
Es war der deutsche Historiker und politische Schriftsteller Dan Diner, der in seinem Buche „Versiegelte Zeit – Über den Stillstand in der islamischen Welt“ (2010) einen entscheidenden weiteren Grund für den kulturellen Niedergang der arabischen Welt nennt. Es ist die Diglossie, die Zweisprachigkeit in der arabischen Welt. Dan Diner darf man nicht zitieren, weil er ein Deutscher ist, Professor in Leipzig und Jerusalem. Der in Deutschland hochgeachtete Navid Kermani, Publizist iranischer Herkunft, nennt in seiner Rezension schon den Titel des Buches „Versiegelte Zeit – Über den Stillstand in der islamischen Welt“ völlig falsch. Ein Rundum-Schlag. Also müssen wir einen echten Orientalisten arabischer Herkunft in Sachen Versiegelung zu Rate ziehen. Es ist der Islamwissenschaftler Abdul-Ahmad Rashid, der in seiner Buchbesprechung voll hinter der „Versiegelten Zeit“ von Dan Diner steht. Seine Rezension trägt die Überschrift Entwicklungsblockade der islamischen Welt. Rashid beginnt seine Buchbesprechung mit dem Vorwort „Die arabische Welt gilt in politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht als unterentwickelt. Während viele Araber dafür den Westen verantwortlich machen, führt der Historiker Dan Diner in seinem Buch „Versiegelte Zeit“ den Stillstand in der islamischen Welt auf das Phänomen der Diglossie, dem Nebeneinander zweier Varianten derselben Sprache, zurück.“
Eine Diglossie liegt dann vor, wenn Bildungssprache und Umgangssprache auseinander driften. Auch im Deutschen gibt es eine Differenz zwischen den beiden Sprachebenen, was man aber nicht als Diglossie bezeichnen kann. In seiner Schrift „Sprache und Sprachtheorie im Dienste von Verständigung und Vernunft“ (in: Von der Sprache zur Vernunft, 1975, BI Verlag) hat Wilhelm Kamlah hervorgehoben, dass es im Deutschen unmöglich ist, die zwei Sprachebenen „Bildungs- und Umgangssprache“ scharf gegeneinander abzugrenzen. Manchmal ist das ganz einfach. Das Wort „transzendental“ gehört sicherlich zur Bildungssprache und das Wort „frieren“ zur Umgangssprache. Wie sieht es aber mit dem Wort „Bewusstsein“ aus, fragt Kamlah zu Recht. Es hängt vom Kontext der Rede ab, ist also allgemein kontextfrei und unbestimmt. Zu einer Diglossie wie im Arabischen gehört, dass die Umgangssprache allgemein nicht als Schriftsprache auftritt (siehe z.B. auch das Schweizer-Deutsch) und dass das Vokabular beider Sprachen nur eine geringe Schnittmenge gemeinsam hat. Wenn ein Syrer z.B. Arabisch spricht, erkennen wir das sofort am Tonfall. Ob ein Syrer nun Bildungs-, Koran-, Hocharabisch oder Umgangssprache spricht, das erkennt ein Außenstehender ohne Sprachkenntnisse nicht. Bei den Schweizern gelingt uns das mühelos, und nach einem Besuch der Schweiz fängt man aus lauter Lust und Freude am Klang schon an, das „Schwyzer Dütsch“ nachzumachen. Für die wissenschaftliche Welt Arabiens hat die Diglossie die verheerenden Folgen einer Entwicklungsblockade. Wie soll man verschriftete Wissenschaften lehren? In der Jurisprudenz, ein abgehobenes koran-nahes Fach, kann man sicherlich auf Koran-Arabisch schreiben und vortragen. Wie soll das aber z.B. im Maschinenbau gelingen, ein Zentralfach unserer europäischen technischen Entwicklung? Man stelle sich vor, man müsste Maschinenbau in Europa auf Kirchenlatein lehren und man erkennt sofort, dass das gar nicht geht, auch wenn der Vatikan um Unterstützung gebeten würde. Wie löste man das Problem im reichen Saudi-Arabien? Ganz einfach: Man gründete 2009 mit amerikanischer Hilfe und viel Geld die King Abdulla-University und lehrt und forscht auf Englisch. Das ist natürlich etwas für eine reiche Elite. Für eine technische Bildung auf breiter Basis ist das nicht gedacht. Die Amerikaner haben sich sicherlich ausbedungen, dass die Religionspolizei auf dem Campus nicht anwesend ist. Es darf auch Alkohol getrunken werden und Frauen sind auch zugelassen. Der Campus liegt in der Nähe der Hafenstadt Jeddah, auch bekannt durch das Projekt „Höchster Wolkenkratzer der Welt“, 1000 m hoch, obwohl Modellrechnungen der Architekten zeigen, dass bei 300 m die ökonomische Vernunft aufhört und das Prestige beginnt. Aber vielleicht zeigt die „King Abdulla-University of Science and Technology“ doch einen Weg, um später auch auf breiter Front aus der Diglossie durch Übernahme des Englischen als Wissenschaftssprache herauszukommen. Im UN-Bericht von 2002 spricht man noch auf Seite 67 hoffnungsvoll von der Möglichkeit eines „Leapfrogging“, ein „Froschspringen“ über ganze Entwicklungsperioden hinweg. Ob das im Arabischen geht? In China ging das. Aber Mao ist nicht Allah, und Allah ist nicht Mao.
Das Hocharabische hat in einer Oberstimme (Konnotation) immer etwas Sakrales, etwas Heiliges, Unberührbares an sich, das nur schwer entzaubert werden kann. Mit Max Weber können wir statt von entzaubern auch von profanisieren sprechen. Dan Diner schreibt auf Seite 136 „Die Imprägnierung des Sakralen und damit die Ehrfurcht vor der Hochsprache beginnt im frühen Kindesalter. … Damit die Sprache ihre Sakralität bewahren kann, muss sie grammatikalisch und syntaktisch den höchsten Anforderungen der Sprachkunst entsprechen. Nur die korrekte arabische Sprache ist eine Wahrheit transportierende Sprache“. Ein syrischer Flüchtling mit akademischer Ausbildung hat mir diese Sätze von Dan Diner bestätigt, sonst würde ich sie gar nicht zitieren. Niemand will die Muslime profanisieren oder religionslos machen. Wenn man aber einen Kunstgriff anwendet, den auch schon Luther kannte, als er einer harmlosen Vernunft die weltlichen Angelegenheiten überlassen wollte, um die Werke des Glaubens im Wahrheitsgehalt viel höher einzuschätzen, ja dann kann sich die arabische Welt auf das Englische als Wissenschaftssprache stürzen, um eine Aufholjagd gegenüber Europa zu starten: Die harmlose Vernunft im Englischem, die Wahrheit des Glaubens im Koran-Arabischen. Vor 1000 Jahren war das Arabische in den Wissenschaften die lingua franca, heute ist es das Englische.
Falsch ist der Weg, das Geld beschäftigungsneutral im arabischen Ausland zu investieren. Wir lesen aber über die Nach-Ölzeit Schlimmes: „Die Hoffnungen ruhen nun insbesondere auf dem mächtigen Staatsfonds PIF. Dessen Vermögen soll durch einen umfassenden Umbau auf umgerechnet 2000 Milliarden von 160 Milliarden Dollar ausgebaut werden. PIF soll der Dreh- und Angelpunkt für die Auslandsinvestitionen werden. ‚Erste Daten zeigen, dass der Fonds mehr als zehn Prozent der weltweiten Anlagekapazitäten kontrollieren wird‘, erläuterte der saudische Prinz Mohammed.“ Macht, nicht Bildung ist offensichtlich von höherem Interesse. Oder: Man weiß mit dem vielen Geld nicht, wohin damit. Europäische Fußball-Clubs im Profi-Geschäft sind auch dankbare Abnehmer von Riesensummen. Wie sagte aber der Nobelpreisträger Abdul Salam: „Es geht um das ehrenvolle Überleben einer Gesellschaft“, und nicht um Macht- und Fußballspielchen. Es geht auch darum, Europa aus dieser Petrifizierung möglichst herauszuhalten, um seine noch vorhandene Rationalität zu erhalten. Denn helfen können die Araber letztendlich nur sich selbst. Wenn erwünscht, kann Europa unterstützend wirken. Es gilt der Wahrspruch: „God helps those who help themselves“. Eine Variante dieses Spruchs steht auch im Koran (13:11): “Allah will not change the condition of people until they change what is in themselves”.
Der Bericht enthält vieles, was in der aktuellen Diskussion oft vergessen wird. Wichtig ist zu erkennen, dass Araber als ehemalige Kulturträger nicht gerne von uns, den Nachzüglern, belehrt sein wollen.
Zu Dan Diners Diagnose der Diglossie noch einige Gedanken. (1) Diglossie ist nicht gleich Diglossie: Manche werden nicht als Belastung, sondern als Bereicherung empfunden. Zwei europäische Beispiele: (a) der Schweizer Niklaus Wirth und (b) der Luxemburger Jean Claude Juncker. Beide wuchsen in einer Diglossie auf. In keinem Falle hat es die geistige Entwicklung gehemmt. Beide gingen sogar sehr weit in ihrer Entwicklung. Wirth hat allerdings nur in Englisch publiziert. Juncker beherrscht außer dem Diglossie-Paar Moselfränkisch-Hochdeutsch auch noch Französisch und Englisch. (2) Nicht nur Sprache beeinflusst die Kultur, sondern auch Klima, Geografie, Geschichte und anderes. Wer im ewigen Sommer der Südsee lebt und dem die Brotbäume das ganze Jahr über zur Verfügung stehen, muss weniger planen als ein Bauer in Nordeuropa, der Wüstenbewohner Afrikas anders als der im Überschwemmungsgebiet des Nils lebende. China hat als politische Macht dem Mandarin zur Lingua franca verholfen, in Indien hat es Englisch geschafft dank der Hilfe einer Kolonialmacht. Übrigens konnte man Isaac Newton auch studieren, ohne Englisch zu lernen. Er schrieb nämlich noch in Latein, einer anderen Lingua franca.
Mein Vorschlag:
1. Allen Menschen Arabiens einen visafreien und bezahlten Zugang zu unseren Hochschulen (Fachhochschulen und Universitäten) ermöglichen, mit dem dualen Bildungssystem in diese Länder gehen und so (über KMU-Gründer) Investitionsmöglichkeiten aus dem 2000 Milliarden-Topf in den eigenen Ländern eröffnen.
Dieses Programm könnte man „Agenda 2050 für Arabien“ nennen.
2. Jeder Ideologisierung aus dem Weg gehen und Rücksichtnahme gegenüber denjenigen, die es noch nicht begriffen haben, üben.
Und im Übrigen würde „Niedergang und Aufstieg der arabischen Welt“ – mit Vorschlägen für den Aufstieg – als Titel hoffnungsvoller klingen.
Lieber Herr Ortner,
Sie schreiben den nächten Beitrag im Blog . Thema: „Niedergang und Aufstieg der arabischen Welt“, also nicht historisch, sondern zukünftig. Das könnte vielleicht eine Vorlage werden für einen neuen AHDR 2016 der UN, der eigentlich fällig ist. Die Übersetzung ins Englische wird dann besorgt.
Ihr
H.Wedekind