Neuer Aufstieg der arabischen Welt – Von der Computer-Wissenschaft aufwärts

Vorbemerkung: Als ich meinen Beitrag „Aufstieg und Niedergang der arabischen Welt“ beendete, hinterließ ich ein düsteres Bild. Es gilt aber das Sprichwort: „Ohne Hoffnung gibt es kein Morgen“. Und so ist der nachfolgende Beitrag von Prof. Dr. Ortner (TU Darmstadt) mit einem Vorwort von Prof. Dr. Elisabeth Heinemann (HS Worms) zu verstehen.

Vorwort von Elisabeth Heinemann.

Haben Sie an einem heißen Sommerabend schon einmal in einer urigen Hamburger Hafenkneipe an der Elbe gesessen und ein Radler bestellt? Sollten Sie auch nicht. Denn im hohen Norden heißt die Bier-Limo-Mischung Alsterwasser. Aber zu dieser Erkenntnis muss man erst einmal gelangen, wenn man jenseits des Weißwurst-Äquators daheim ist. Zu einem durstlöschenden Getränk kommen Sie daher nur, wenn Sie und der nordisch-wortkarge Kellner sich über die Bedeutung dessen verständigen, was Sie mit „Radler“ und er mit „Alsterwasser“ meinen. Begriffsklärung ist angesagt. Schon Ludwig Wittgenstein brachte diese Notwendigkeit trefflich auf den Punkt, als er bemerkte, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache sei. Und die arbeitet. Die Sprache. Sie ändert sich über die Zeit, sie lässt Begriffe obsolet hinter sich – oder benutzen Sie noch das Wort „Wählscheibe“ – und ändert solche, die aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen nicht mehr angebracht scheinen. Political Correctness nennt man letzteres dann. Michael Endes „Jim Knopf“ könnte davon gerade ein launiges Lied singen.

Was für die Trivialitäten unserer Lebenswirklichkeit gilt, trifft in noch viel entscheidenderem Maße auf die Politik zu. Wenn man Sprachkompetenz erwarten darf, dann doch wohl von unseren Volksvertreterinnen und -vertretern. Staatsmännern und -frauen. Legislative, Judikative und Exekutive können nur funktionieren, wenn Entscheidungen, Urteile und Handlungsanweisungen auf Basis einer gemeinsamen Sprache erfolgen. Sollte man meinen. Aber was so leicht klingt, ist es offenbar nicht. Wie sonst könnten Talk Show für Talk Show die gleichen defekten Sprach-Säue durchs Dorf getrieben werden. Es fehlt an einer gemeinsamen Sprache, derer alle Beteiligten mächtig sind und mit gemeinsam definierten Begriffen, die frei von Widersprüchen, Doppeldeutigkeiten oder sonstigen Sprachdefekten sind. Nicht mehr und nicht weniger. Denn praktische Politik ist ein Mundwerk und daher an einer gemeinsamen Sprache als ihre Bedingung gebunden, wie es Paul Lorenzen, bekanntester Vertreter des Erlanger Konstruktivismus, treffend auf den Punkt brachte. Und vielleicht ist gerade das eine Möglichkeit für den Wissensschatz und die Tugenden der arabischen Welt zum Wohle aller ins (nicht nur) sprachliche Geschehen einzugreifen, wie im folgenden Beitrag von Erich Ortner ausgeführt wird.

 

Der Text:

Neuer Aufstieg der arabischen Welt – Von der Computer-Wissenschaft aufwärts.

Eines ist unbestritten: Die Computer-Wissenschaft wäre in ihren Anfängen ohne Abu Dscha’far Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi (780-838) gar nicht möglich gewesen, denn ihm verdanken wir den Begriff „Algorithmus“. Allerdings redete der Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker Paul Lorenzen (1915-1994) bereits in den frühen 1980er Jahren von Sprach-Ingenieuren, um die Software-Ingenieure besser von den Geräte-Ingenieuren unterscheiden zu können. Und Sprach-Ingenieure sind keineswegs reine Algorithmiker. In der Computer-Wissenschaft hat sich nämlich längst eine Verschiebung von der Maschinenzentrik (Algorithmiker) hin zu einer Anthropozentrik (Sprach-Ingenieure) vollzogen. Software-Ingenieure setzten auf die Formale Logik, Sprach-Ingenieure hingegen auch auf die Mensch-orientierte Hermeneutik beim Anwendungsentwurf, d.h. auf das „Deuten“ von Texten. Und das steht unzweifelhaft ganz am Anfang der Entwicklung von Anwendungssystemen und wird mit der Disziplin „Methodenneutraler Fachentwurf“ bestens beschrieben. Denn lange bevor der erste Quellcode in die Hardware eingetippt wird, muss sich der Anwender in spe sprachlich darüber auslassen, was er an Anwendungslösung braucht bzw. möchte.

Computer-Wissenschaft heute

Der Mensch schlüpft via Anwendungssystem und sprachbasierter Informatik quasi „in den Computer hinein“. Daraus ergibt sich zweifelsfrei die Forschungsherausforderung, ob das Interface zwischen Mensch und Maschine nur vor oder auch hinter den humanoiden Sinnesorganen realisiert werden kann. Heute geschieht das meist noch vor denselben beispielsweise via des Head Mounted Displays, also salopp formuliert einer „Computer-Brille“ wie sie z.B. mit Oculus Rift auf dem Markt ist. Aber auch dabei können arabische Träume bereits Wirklichkeit werden, wie der Film „Ein Hologramm für den König“ von Tom Tykwer mit Tom Hanks aus dem Jahr 2016 eindrucksvoll zeigt.

Der Ausdruck „Künstliche Intelligenz“ wurde durch diese Entwicklung – wenn man einmal an eine Realisierung des Interfaces hinter den Sinnesorganen der Menschen denkt – im Grunde sinnentleert. Denn eines ist klar: bei der Erforschung eines geeigneten Interfaces – egal ob vor oder hinter den Sinnesorganen – ist stets das menschliche Interagieren vom mechanischen Operieren mittels eines Algorithmus zu unterscheiden. Menschliches Handeln stellt grundsätzlich etwas Anderes dar als mechanische Bewegung. Daher sprechen wir auch von einer „Mensch-zu-Mensch-Interaktion unter Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT)“ anstatt von „Human Computer Interaction“ oder von der „Mensch-Maschine-Interaktion“. Eine Maschine handelt – auch in Verbindung mit dem Menschen – niemals.

„Eine Maschine ist dasjenige, dessen bewegende Kraft von seiner geometrischen Form abhängt“, sagte schon Immanuel Kant (1724-1804). Heute gilt daran anknüpfend festzustellen, dass ein Mensch derjenige ist, dessen rationales Handeln von seiner sprachlogischen Grundbildung und von seiner Vernunft abhängt. Von der Computer-Wissenschaft ausgehend heißt diese Bildung heute „Informatik als Grundbildung“, wie sie von dem deutschen Computer-Pionier Hartmut Wedekind zusammen mit Rüdiger Inhetveen und dem Autor dieses Beitrags im deutschen Informatik-Spektrum, beginnend mit Band 27, Heft 2 (2004) in 6 Folgen publiziert wurde.

Synthetische Biologie als wichtigste verbindende Wissenschaft des 21. Jahrhunderts

Inzwischen ist auf dem Gebiet des Lebens, zu dem die Menschen in besonderer Weise zählen, eines der überragendsten Forschungsthemen des 21. Jahrhunderts, das „Human Genom Editing“, entstanden1. Im Dezember 2015 kamen in Washington D.C. 500 führende Wissenschaftler und Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Interessensgruppen zusammen, um die sich bereits abzeichnende Entwicklung, wie z. B. Schaffung künstlicher Zellen, Schaffung künstlicher genetischer Codes, Schaffung normierter Bio-Bricks, Synthese ganzer Genome, etc. zu diskutieren. Computer-Wissenschaft und Synthetische Biologie wachsen hier zu einem Mega-Forschungsgebiet zusammen. Wer jetzt viel investiert (z. B. Petrodollars), spielt ganz oben mit und wird anwendungsseitig schon bald üppige Früchte auf den Gebieten autonomes vernetzte Fahren, Internet of Everything, Smart City Applikationen, Industrie 4.0 und nicht zuletzt die vielleicht menschheitsrettende E-Demokratie und E-Partizipation ernten.

Neuer Aufstieg der arabischen Welt – Eine Chance?

Gemessen an den drei Eckpfeilern des „Arab Human Development Report“ von 2002 zur Rekonstruktion einer freien und demokratischen Gesellschaft, ergeben sich folgende Ingenieurbereiche, in die in nächster Zeit massiv investiert werden sollte:

Rekonstruktion der arabischen Welt
Abbildung 1: Rekonstruktion der arabischen Welt
  • Demokratie-Gestaltung für Männer und Frauen gleichermaßen auf der Basis einer gemeinsamen Sprache und eines fairen Dialogs miteinander (Sprachingenieurwesen).
  • Heranbilden eines mit Menschenrechten und Freiheiten ausgestatteten emanzipierten Menschen durch demokratische Bildung und „Human Genome Editing“ (Lebensingenieurwesen).
  • Konsolidierung allen menschlichen Wissens und seines effektiven Gebrauchs ständig und zeitnah vermittels Informationstechnologie-unterstützter Sprach-Integration (Software-Technik-Ingenieurwesen).

Durch vorausgehende Forschung sind diese Ingenieurbereiche aber erst noch mit methodologischer Substanz (z. B. Konstruktive Wissenschaftstheorie) und neuem Wissen aufzufüllen. Es muss erst noch erarbeitet werden, wie die Berufszweige „Sprach-Ingenieure“, „Technik-Ingenieure“ und „Lebens-Ingenieure“ in allen Lebensbereichen zu integrieren sind. Für diesen notwendigen Prozess müssen erhebliche Investitionsmittel aufgebracht und die fähigsten Forscher und Forscherinnen eingesetzt werden.

Der Schritt von der Grundlagenforschung zur Angewandten Forschung und dann zu der Implementierung neuer Berufsbilder wie Lebens-Ingenieurinnen oder Sprach-Ingenieurinnen wird viel Kraft und Einsicht in den Gesellschaften erfordern. Die sprachbasierte Informatik und damit ein Sprachingenieurwesen sind bis dato an den (europäischen) Hochschulen und erst recht in der Praxis nur schwach entwickelt. Wie lange wird es wohl dauern, aus Medizin und Psychoanalyse Lebens-Ingenieure als Berufszweig zu implementieren? Die synthetische Biologie befindet sich hier noch in der Phase „Grundlagenforschung“. Bis neues Wissen zur Verfügung steht, aus dem neue praktische Berufs- und Studienzweige entwickelt werden können, wird noch einige Zeit vergehen.

Der erste Schritt besteht darin, die interdisziplinäre Aufgabe in der Verbindung von Sprach-, Lebens- und Technik-Ingenieuren bei der Entwicklung freier und demokratischer Gesellschaften global zu verankern. Von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist uns der bemerkenswerte Satz überliefert: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ Es wäre doch bemerkenswert und wahrlich ein neuer Aufstieg, wenn gerade von der arabischen Welt aus durch partizipative Forschung auf obigen Gebieten der Beweis erbracht werden könnte, wie es dem Menschen durch Bildung und Vernunft gelingen kann, diese Ketten wieder abzustreifen.

1 Vgl. hier „Kann der Mensch es besser als die Evolution“ von Hans-Jörg Rheinberger, erschienen am 31.05.2016 in der NZZ, S. 37.

5 Kommentare zu „Neuer Aufstieg der arabischen Welt – Von der Computer-Wissenschaft aufwärts

  1. Was Herr Ortner vorschlägt, ist „leapfrogging“, ein Begriff, der auch schon im AHDR von 2002 vorkommt. Man meint damit das froschartige Überspringen ganzer Entwicklungsperioden. In China funktionierte das, weil es nach Mao den großen Reformer Deng Xiaoping (1904-1997) gab. Gäbe es einen, die islamische Feder führenden Deng Xiaoping (z.B. im saudischen Königshaus), ja dann könnten wir alle vor Freude froschartig hüpfen und es ginge wie in China steil nach oben. Die „Religion des Maoismus“ wurde unter Deng nicht angerührt und existiert heute noch unbeschadet, was uns im Westen verwundert. Aber es geht.

    Hartmut Wedekind

    1. Lieber Herr Wedekind,

      ich hätte es besser nicht sagen können! „Leapfrogging“ mit den aufgeschlossenen Menschen in Nahost, genau das ist meine Intention. In Berlin ist der Sitz der Ghorfa: Arab-german Chamber and Industry e. V., genau an die müßten wir uns wenden. Nur, ein in unserer Community „berüchtigter“ allein, richtet bei denen halt nichts aus.

  2. Als klassischer Ingenieur fiel es mir überhaupt nicht schwer, die Ausdehnung des Begriffs Ingenieurwesen auf das Gebiet der Software zu verstehen und zu akzeptieren. Es handelt sich um neuartiges Material, für dessen Erstellung, Bearbeitung und Nutzung neuartige Methoden zur Anwendungen kommen. Seit 10 Jahren habe ich allerdings Schwierigkeiten zu verstehen, was Sprachingenieure tun sollen und tun können.

    Nach diesem Beitrag habe ich den Eindruck, dass man an die Erstellung einer neuen Kunstsprache denkt wie etwa Esperanto, Ido oder Volapük. Würde man mit einer Lingua franca wie Englisch oder Chinesisch beginnen, käme man natürlich schneller zu den echten Problemen. Man könnte für jedes von 100 Fachgebieten eine Enzyklopädie entwickeln, um je etwa 50-100.000 Begriffe zu standardisieren.
    Die erste derartige Enzyklopädie mit 70.000 Einträgen in Französisch hat Denis Diderot etwa 30 Lebensjahre gekostet, trotz vieler Zulieferer.

    Selbst wenn genug Euros oder Petrodollars in dieses akademische Jahrhundertprojekt flössen, würde das niemanden daran hindern, seine Sprache mit Nuancen und Erweiterungen zu versehen, die nur eine Clique versteht. Das Wort Clique soll hier (aber nur hier) für Familie, Altersgruppe, Fan-Club, Fachgebiet, politische und religiöse Bewegung, usw. stehen. Je nachdem wie bedeutend diese Clique einmal wird, wird diese (neue) Sprache vermutlich jede noch so vollständig definierte Sprache überwuchern oder verdrängen.

    Was sollen und können Sprachingenieure in dieser Situation tun?

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