Demokratie versus Ethnokratie

1) Demos und Ethnos

In einem Essay in der Tageszeitung DIE WELT vom 14. April 2022 mit dem Thema „ Das völkische Denken ist zurück“ hat der Münchener Philosoph Julian Nida – Rümelin eine hoch interessante zeitkritische Analyse geliefert, die es verdient, vertieft zu werden. Er schreibt:

„ Durch Europa zieht sich eine unsichtbare Linie, die zwei politische Grundhaltungen voneinander scheidet. Westlich dieser Linie versteht man unter der Bürgerschaft eines demokratischen  Staates etwas anderes als östlich dieser Linie. Es handelt sich um einen fundamentalen Unterschied, denn er entscheidet über das Staats- und auch das Demokratieverständnis.“

Auch unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine wird uns  klar: Das da drüben, jenseits der gedachten Linie, das sind Ethnokratien und keine Demokratien. Man sagt bekanntlich, Demokratien führen keine Kriege gegeneinander. Die Wortprägungen „Demokratie“ und „Ethnokratie“  leiten sich aus dem Altgriechischen her. Demos (δεμος) heißt Volk, Ethnos (εθνος) aber auch. Es gibt  zwei ganz verschiedene Bedeutungen des  Wortes „Volk“ im Deutschen. Aber  in beiden Fällen, als Ethnos und als Demos, geht es um ein normativ-geordnetes Zusammenleben (Paul Lorenzen). Das Ältere, das Archaische ist, dass Menschen gleicher Herkunft, und somit gleicher Sprache zusammenleben wollen. „Herkunftsgleich“ ist der Kitt, der eine Volksgruppe zusammenhält. Man spricht auch von Ethnie. Man abstrahiert also und schaut nicht auf die Ungleichheit der Menschen, sondern auf deren Gleichheit in der Herkunft. Die Herkunftsgleichheit erkennt man am besten an der gleichen Sprache und natürlich an ähnlichem Aussehen. Herrschaft der Ethnie oder Ethnokratie  kann dann bis zu krankhaften Panbewegungen führen, z.B. Pangermanismus oder Panslawismus, oder Russland ist da, wo Russen leben. Das nennt man auch Irredentismus , ein Begriff, der aus dem Italienischen stammt. Die „terra irredenta“ ist  das noch unerlöste Land, z.B. die Ukraine. Irredentismus ist eine böse Ideologie, entstanden in  einem krankhaften Wunschdenken. Irredentiker wie Wladimir Putin müssen also noch jemanden erlösen, egal ob der jemand  nun erlöst werden will  oder nicht. Die Unerlösten „harren“ aus dieser Sicht   auf einen „Redemptor“, lateinisch für Erlöser. Das ist bittere Ironie, nein, das ist schon Sarkasmus.

2) Demokratie

Die moderne Demokratie ist ein Kind der Aufklärung (Enlightment). Die unsichtbare Linie von Julian Nida- Rümelin liegt also ungefähr da, wo im „Siècle des Lumières“, also  im 18. Jahrhundert eine Aufklärung stattgefunden hat, der europäische Mensch also begann zu versuchen, seine „selbstverschuldete Unmündigkeit“ im Sinne Kants zu überwinden. Man darf daran erinnern, dass 1781 in den USA die erste demokratische Verfassung mit dem berühmten Anfang „We the people“ entstand. Auch erschien 1781 Kants „ Kritik der reinen Vernunft“, ein Hauptwerk der Aufklärung.

Die Abstraktion von einer Volksgruppierung  zu  Demos ist wesentlich schwieriger als   die Abstraktion hin  zu Ethnos. So leicht wie beim  Verweis auf eine Herkunftsgleichheit  geht das nicht. Wir erinnern an das normativ-geordnetes Zusammenleben, um das es geht. Die Gleichheitsrelation  für die Abstraktion hin zu Demokratie lautet:

Alle Mitglieder einer demokratischen Volksgruppe sind in Bezug auf die Erzeugung und Anwendung der Normen gleich.

Man sagt: Die Mitglieder sind normativ-gleich.

Das ist schwer zu organisieren. Ethnokraten haben es da wesentlich leichter mit ihrer Schau auf eine gleiche Herkunft. In Demokratien steht wegen der Gleichheit vor den Normen  die Herkunft nicht zur Debatte. Die Herkunft bleibt im Konkreten. Die wird nicht wegabstrahiert. Wer Herkunft haben will, kann das durch ein Herabsteigen ins Konkrete jederzeit wieder haben. Es bleibt im Konkreten bunt. Die zur Gleichheit  im Entstehen und Anwendung  aufgestellten ordnenden Normen sind eine Sache (lat. res), keine private, sondern eine öffentliche, es geht um die „res publica“, um eine Republik. Ewiger Friede kann nach Kant nur in einer republikanischen Rechtsordnung herrschen. Kant (1724-1804) war einer der ersten Republikaner im ursprünglichen Sinne. „Die Charta der Vereinten Nationen wurde wesentlich von Kants Schrift zum ewigen Frieden beeinflusst“ (Wikipedia). Unter Demokratien mit ihrer „res publica“ kann es keinen Krieg geben. Kant war kein radikaler Pazifist, wie sie auf der politischen Bühne in Berlin zu sehen sind. Kant hat Waffengewalt im Verteidigungsfall durchaus als Lösungsmöglichkeit legitimiert.

Ein Kommentar zu „Demokratie versus Ethnokratie

  1. „42“ oder „Process-Driven Democracy“ ist die Antwort auf alle Fragen, die Sie so in den letzten Jahren hier in Ihrem Blog debattieren.

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