Kinder brauchen Märchen, Erwachsene brauchen Ideale

Vorbemerkung:

Wenn jemand die Aussage macht: „Konstruktive Geometrie ist ein wichtiges Grundlagenfach für die Ethik“, wird er mit einiger Sicherheit  belächelt und nicht ganz ernst genommen, obwohl die vielgepriesene Interdisziplinarität, hier Geometrie, dort Ethik, dahinter steckt. Was hat  die alte Konstruktive, Euklidische Geometrie mit Ethik, einer Sittenlehre zu tun?  Ganz Große (Platon und Aristoteles)  der Geistesgeschichte unterstützen aber unseren Jemand und belächeln ihn nicht. Der Weg der Großen geht von den Mythen (Märchen) zur Geometrie und dann zum Ideal, auch in der Ethik, eine Sollens-Lehre.

Hören wir uns einmal an, was dazu  ernsthaft zu sagen ist.

1.Märchen

Wer heute über Märchen schreibt, ist froh, dass es das Grundlagenwerk von Bruno Bettelheim „Kinder brauchen Märchen“ gibt (erstmals 1975 erschienen, vor mir liegt die 33. Auflage von 2015). Wir alle kennen aus Grimms Märchen z.B. Aschenputtel, Schneewittchen und Hänsel und Gretel. Die stecken  sogar (auch Hollywood sei Dank) in internationalen Köpfen, wie man am bekannten Datenbank-Forscher Jim Gray sieht, der das Spurenlegen des Hänsels im Märchen im tiefen Wald  mit dem Aufzeichnen von veränderten Datenbank- Seiten (pages) für die Protokollkomponente einer Datenbank (logging) verglich. Wenn ich mit syrischen Flüchtlingen ins Gespräch kommen will, rede ich z.B. über „Sindbad der Seefahrer“, „Ali Baba und die vierzig Räuber“ aus „1001 Nacht“ und Vieles mehr.

Das Zentrale am Märchen wird bei Bettelheim  ganz an den Anfang gestellt. Es ist das Ringen um den Sinn des Lebens. Als ein Versuch,  dem  Leben eine Richtung zu geben, hat das Märchen sogar philosophische Bedeutung. Bei Bettelheim lesen wir auf Seite 44:“ Selbst Aristoteles, der Meister der reinen Vernunft, sagte:‘ Der Freund der Weisheit ist auch ein Freund der Mythen.‘ “  Und dann bei Bettelheim auf Seite 16:“ Das Kind identifiziert sich mit dem guten Helden nicht, weil er gut ist, sondern weil sein Wesen es zutiefst positiv anspricht. Das Kind fragt nicht:‘ Möchte ich gut sein?‘, sondern:‘ Wem möchte ich gleichen?‘ Darüber entscheidet das Kind, indem es sich voll und ganz mit einer Gestalt identifiziert. Ist die Märchengestalt gut, so beschließt das Kind, auch gut zu sein.‘ Wenn Jim Gray als reifer Mann vortrug, merkte man deutlich, wie er in die Haut des Hänsels schlüpfte. Was haben Grimms Märchen mit Datenbanken zu tun? Da haben wir es! Bitte nicht mehr mitleidig lächeln.

Kinder wollen aber auch „märchenhaft“ schöne Bilder malen, wenn’s sein muss, dann auch mit dem Rechner. Ein  überragender pädagogischer  Pionier auf diesem Gebiete war Seymour Papert (1928-2016), der Erfinder einer konstruktiven Lerntheorie. Er wurde berühmt durch seine Schildkröten (turtles), die als relativer Cursor über Papier oder Bildschirm huschen. Wichtig für Kinder ist, dass das, was man tut, sofort sichtbar wird. Turtles gehören also in das Gebiet der Visualisierung  und nicht der Modellierung, was vom Autor in der Schrift „Modellieren, Simulation , Visialisieren“ näher ausgeführt wurde. Großen Nutzen von der Papertschen Arbeiten gezogen  hat  in Europa der Schweizer Jörg Nievergelt (ETH), der aber schon in  der „Turtelei“  einen Einstieg in die Programmierung, sprich Modellierung sah. Beim  Programmieren sollte man aber die Pubertät hinter sich haben und über das Zahlenrechnen zum  Rechnen mit schematischen Buchstaben (das sind programmtechnisch Typen) vorgedrungen sein. Es gilt für Kinder  in Sachen Programmierung der Ausspruch  „festina lente“, am besten übersetzt mit viele Weile und  wenig Eile. Man muss sich dem Programmieren ganz langsam  im Schneckentempo oder  im Turtle-Tempo nähern, weil Programmieren ein Schwergeschäft ist und von Leuten in der Politik, die nie  programmiert haben und die über Algorithmen reden, gewaltig unterschätzt wird. Parameter setzten ist kein Programmieren, wie vielfach angenommen wird. Es geht uns ja in der Pädagogik ums Verstehen und nicht ums Stoffbringen. Man bleibe vorerst lange im Lande der Märchen, des Irrealen und Fiktiven, auch wenn uns (Genie)-Kinder vorgeführt werden, die schon wie Erwachsene Java-Programme schreiben können. Kinder wollen das „Gaming“, nicht das „Modelling“. Keine „blaue Pädagogik“ bitte, nachdem wir die schwarze Pädagogik meiner Kindheit überwunden haben („blau“ nach „Big Blue“ oder IBM).

2. Ideale

Elementar-Geometrie und dann auch noch in konstruktiver Ausprägung  ist ein wunderbares Vehikel, um zu lernen, was Ideale sind und wie Ideale zusammengesetzt werden. Geometrie handelt von Formen und Größen. Die Körper des Herrn Euklid sind hohl; man kann in sie hineingreifen. Es gibt in der Geometrie keine Stofflichkeit.  Wie existieren sie dann? Antwort: Sie existieren als Konstruktion, als Herstellungsverfahren.  Modern presse- und politikerfreundlich könnte man spöttisch  sagen, sie existieren als Algorithmus.

Berühmt sind die fünf Platonischen Körper. Die sind aber stofflos.  Für uns einfache Menschen, die wie Kinder  nach Idealen suchen, brauchen wir aber Realisierungen oder Verstofflichungen. Man spricht auch von Realisaten. Wir finden die Realisate,  wunderschön handwerklich hergerichtet (realisiert)  im  Steinfurter  Bagno Park in Westfalen.

Bild 1 : Die fünf realisierten Idealkörper nach Platon im Park

„Das Gegensatzpaar „ideal/real“ hat seinen ursprünglichen Sitz in der geometrischen Theorie und Praxis“ meint Paul Lorenzen in seiner Schrift „Diesseits von Idealismus und Realismus“(1992). Es bedarf viel Mühe, um  einigermaßen glatte Ebenen herzustellen. Dem Ideal kommen wir nahe, erreichen  es  aber nie. Und trotzdem denken wir in idealen Flächen und operieren technisch sogar mit ihnen in „Gedanken, Worten und Werken“, auch im Maschinenbau und in der Mathematik. Denn wenn wir den Grenzwert eines Bruchs  1/x mit einem über alle Grenzen gehende Nenner x hinschreiben, also:  lim (x → ∞) 1/x = 0, dann ist 0 ein idealer Gegenstand, den wir  in unserer Begrenztheit nie erreichen können, eben weil wir endlich sind. Und trotzdem arbeiten wir in der Infinitesimalrechnung und Technik sehr erfolgreich mit idealen Gegenständen.  Das ist eigentlich atemberaubend. Kinder können das nicht einsehen und Erwachsene nur manchmal. Dann und wann gibt’s  tatsächlich Erwachsene, die das können und die begreifen, dass  unerreichbare  Ideale zu uns hinieden gehören. Das müsste die Theologie aufhorchen lassen.

Es macht schon Sinn, über  das alte Bild des Renaissance-Mathematikers Tartaglia in der Nova Scientia,Venedig von 1547  nachzudenken.

Bild 2 : Die Akademie des Platon nach Tartaglia

Vorne der Euklid, für die Zulassung zum Bachelor zuständig,  und hinten die Zugangskontrolle durch  Platon und Aristoteles für das Master-Studium. Beide schwenken das Spruchband: Ohne Geometrieschein kein Zugang. Das war immerhin das Bildungsideal unserer Vorgänger. Irrelevant für uns ist  das nicht.  Wir verdanken denen viel. Das hatte schon einen Sinn, den man ergründen sollte.

 

3. Falsche oder zweifelhafte Ideale : Links-und Rechtsromantiker

Wann ist ein Ideal falsch oder zumindest zweifelhaft?  Eine mögliche Antwort: Wenn man kein Herstellungsverfahren, auch nicht mit Näherungsabsichten aufzeigen kann. Weitere Frage: Kann man Verfahren zur Stützung einer Herstellung angeben? Antwort: Idealerweise ist das eine konsensorientierte Argumentation  aus der Aufklärungszeit, die natürlich voraussetzt, dass sich in einem Streit beide Seiten um Transsubjektivität, d.h.  um Vernunft bemühen. Vernunft ist aber wieder idealiter zu denken. Also ersetzten wir ein Ideal durch ein anderes. Konsensfähiges Argumentieren  kann man aber wie ein jedes Herstellungsverfahren erlernen, d.h. Erwachsene müssen wieder zu lernenden  Kindern werden, die sie vor langer Zeit mal waren. Man muss ein Ideal „konsensorientierte Argumentation“ erlernen wie eine Geometrie. Das ist eine Empfehlung an unsere Politiker. Was erleben wir stattdessen: Keine Platonischen Körper, die man zeigen kann, sondern unbearbeitete Felsbrocken, die man besser nicht zeigt, weil kein  gelerntes Herstellungsverfahren  zu erkennen ist.

Das klingt alles aufklärerisch. Bekanntlich wurde die rationale  Aufklärung, in der das geschaffen wurde, was wir heute politisch  Werte nennen, im 19. Jh.  durch die Romantik  überdeckt. Die romantische Epoche legte Wert auf Emotionen. Kein Wunder, dass die Gebrüder Grimm mit ihrer Märchenwelt im Zentrum der Romantik standen.

Wenn wir die heutige politische Szene in Deutschland betrachten und wir von Rechts- und Linkspopulismus sprechen, fällt uns der Name Ernst Topitsch (1919-2003) ein. Topitsch  war ein bekannter, österreichischer Philosoph, der das Begriffspaar Rechts –und Linksromantiker eingeführt hat. Bei Paul Lorenzen (1915-1994) lesen wir in seinem Aufsatz „Szientismus versus Dialektik“ (als PDF im Netz) auf Seite 154 folgendes:

„Topitsch verallgemeinert die Bedeutung des Wortes „Romantik“ dadurch, dass er diejenigen, die sich in eine „heile Welt“ zurücksehnen (in der Annahme, es habe sie in der Vergangenheit gegeben), Rechtsromantiker nennt. Romantisch wird aber von ihm auch jeder genannt, der sich ein heile Welt, oder auch noch eine heilere Welt in der Zukunft erhofft. Das sind die Linksromantiker. Zu diesen Linksromantikern gehören alle Marxisten, alle Neuhegelianer, einschließlich – und das ist die polemische Pointe von Topitsch  – die dialektischen Philosophen und Soziologen des Frankfurter Kreises.“

  • Wer der Idee eines MultiKulti-Staates ohne Angst vor „Tribalismus“ (Stammestum) und ohne Angst vor einem Kollaps des Sozialstaates bei Massenimmigration (Sieferle : no borders, no welfare) huldigt, der  ist im Sinne  von Topitsch ein Linksromantiker (Zukunftsidealist). Eine polemische Pointe, die wir gerne von Topitsch übernehmen, lautet:  Das politische Establishment in der Berliner Republik ist, so gesehen, heute durchweg linksromantisch  (angstlos-zukunftsidealistisch). Sonst würde die Republik  im heutigen Zustand in eine Angststarre (defensive immobility) geraten. Angstlossein ist auch eine Überlebensstrategie, was nach jedem Terroranschlag in Europa demonstriert wird. Es bleibt einem in der Aporie  alternativlos auch  nichts anders übrig.
  • Wer den Nationalstaat wieder heraufbeschwört ohne Angst vor einer ökonomischen und kulturellen Miniaturisierung seiner eigenen Nation, der ist nach Topitsch ein Rechtsromantiker  (Vergangenheitsidealist).

In der Kantischen Terminologie sind Romantiker Schwärmer, wenn sie in ihren Gefühlen von der Vernunft abheben. “Und so zerstört Freiheit im Denken, wenn sie so gar unabhängig von Gesetzen der Vernunft verfahren will, endlich sich selbst.“ (in: „Was heißt sich im Denken orientieren?“)

Wann nennt man eine Idee eine bloße Ideologie? Ganz einfach in geometrischen Termini: Wenn man für eine Idee kein Realisat anbieten kann, man  hat also kein Herstellungsverfahren und kennt nur Behauptungen ohne behauptende Kraft (das sind nach Frege  die stützenden Argumente), dann liegt eine Ideologie vor. Das ist der platonische Himmel, über den man höhnt und spottet.   Ernst Boch sprach bei Ideologen von Mitgliedern eines Verschönerungsvereins.

Was bleibt zu tun? Auch ganz einfach: Zurück zu einer weiterentwickelten Aufklärung, die uns unsere Werte und  unseren Bildungsbegriff beschert hat. Unser politisches  Ideal ist ein Konsensorientiertes Argumentieren!  Das heißt: Ich bin daran interessiert, dass der Andere auch  gut überlebt und nicht untergeht.  Der Andre sollte aber die Transsubjektivität, die Vernunft anerkennen. Sonst geht es nicht. Wenn der Andere schwärmt und  meinen Untergang herbeiführen will, ist es mit dem Konsens vorbei. „Ideal“, sagt das Lexikon, „ist immer etwas Vollkommenes“, das man zu realisieren trachtet.

3 Kommentare zu „Kinder brauchen Märchen, Erwachsene brauchen Ideale

  1. Die Mitte zwischen dem Tun der Links- und Rechtromantiker (heute -Populisten) heißt frühkindlich betriebene Aufklärung. Und Aufklärung im Kantschen Sinne sollte durch Bildung von frühester Jugend an (z. B. ab der Grundschule) vermittelt werden.

    Bildung hat nach Spaemann eine strukturelle (Form), eine inhaltliche (Verstofflichung) und eine soziale (Ethik) Dimension:

    Strukturelle Dimension: Zusammenhänge herstellen oder wenigstens verstehen, warum dies schwer gelingt. Dies gilt z. B. vom standpunkt der modellierenden Informatik als Grundbildung aus bezüglich der Dinge (z. B. Daten über die Dinge in der Informatik), der Prozesse (gerichteter Ablauf des Geschehens in der Informatik) und dem Verständnis des Verhältnisses zwischen Vernunft und Verstand bei Menschen (Menschorientierung in der Informatik).

    Inhaltliche Dimension: Mitgeteiltes auffassen, wie es gegeben ist. Fake News sind das Gegenteil davon und nur durch konsensorientiertes (sowie widerspruchsfreies) Argumentieren vermeidbar.

    Soziale Dimension: Andere sind nicht nur Teil meiner Welt, ich bin auch Teil der ihren. Animalischer Egozentrismus ist das Asozialste und damit die Umkehrung des Gebildeten überhaupt. Positiv gewendet: Transsubjektivität (Paul Lorenzen) ist ein Charakterzug gebildeter Menschen.

    Und diese neue Bildung, manche sprechen bereits von der „E-Bildung“, wird in heutiger Zeit IT-unterstütz erworben (und vermittelt). Konsensorientiertes, IT-unterstütztes Argumentieren im Deutsch-Unterricht; Wie man IT-unterstützt eine Datensammlung anlegt; Wie man IT-unterstützt einen Prozess modelliert; IT-unterstützter Geometrie-Unterricht in der Grundschule; etc. sind nur eineige Beispiele, die die neue Bildung charakterisieren.

    Um diese Bildung vermitteln zu können, muß man „Bottom-up“ (von klein auf) vorgehen. Wir brauchen auf der Grundlage von Chancengleichheit (für unsere Kinder) Lehrerinnen und Lehrer, die vor allem die Herstellung von annähernd Idealen Gegenständen (Dingen und Geschehnissen) durch Abstraktion (z. B. Was ist chancengleichheit im Allgemeinen?) selbst bereits erlernt und verstanden haben.

    Dies wäre dann ein „Zurück (z. B. zu Platon, Aristoteles und Kant) in die Zukunft“ einer (sprachlich) über sich aufgeklärten, weiterentwickelten Bildung, wie sie uns von Paul Lorenzen (1915-1994) als Haupschule in seinem Buch „Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie“ (1987) – nicht nur für die modellierende/sprachbasierte Informatik, sondern auch für alle Wissenschaften und den „modern“ (sprich Ideologien-aufgeklärt) lebenden „E-Menschen“ -, aufgetragen wurde.

    Die „Vorschule“, besser Grundbildung zu diesem „Millennium-Projekt“ findet man u. a. auch noch in Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen: Logische Propädeutik – Vorschule den vernünftigen Redens (2. Auflage 1973).

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