„Sind alle Notleidenden unsere Nächsten?“

Einführung: Der Autor, Prof. Dr. Johannes Fischer, ist emeritierter Professor für Theologische Ethik der Universität Zürich. Von seinen Studienorten soll hier Erlangen besonders hervorgehoben werden. Als junger Mensch hat er einige Zeit geschwankt, ob er Theologie oder Mathematik und Physik studieren sollte. 1968 und 1969 studierte er an der Universität Erlangen zunächst Mathematik und Physik mit starken philosophischen Interessen. Es hat ihn zur „Erlanger Schule“ um Paul Lorenzen und Wilhelm Kamlah hingezogen, deren „Logische Propädeutik“ für ihn und für viele andere eine intellektuelle Offenbarung war. Er hat in Erlangen Jürgen Mittelstraß, Oswald Schwemmer, Peter Janich und Rüdiger Inhetveen kennengelernt und auch Vorlesungen über Dialogische Logik bei Kuno Lorenz gehört. Erlangen hat ihn in seinem Denken bleibend beeinflusst.

Auf Johannes Fischer bin ich durch einen Leserbrief in der FAZ (18.02.2016) aufmerksam geworden, der die Überschrift trug „Sind alle Notleidenden unsere Nächsten?“. Dieser Leserbrief soll uns als Vorspann dienen für seine dann folgende Schrift über „Kirche und Theologie“, die als theologische Begründung seines Leserbriefes aufzufassen ist.

Ein kurzer Abriss seines Leserbriefes soll uns in seine Theologie einführen:

„Aus meiner Sicht hat die Grenzenlosigkeit im kirchenoffiziellen ethischen Denken ihre Ursache darin, dass über dem moralischen Eifer dieser Zeiten etwas in Vergessenheit geraten ist, das der theologischen Tradition immer präsent war, nämlich dass die heute vielbeschworene christliche Liebe ein Charisma ist, d.h. etwas, wozu kein Mensch sich aus eigenem Vermögen bestimmen kann, weshalb die Liebe in der Bibel als Frucht von Gottes Geist begriffen wird. Dass jemand die Not eines anderen wahrnimmt und davon so berührt wird, dass sie zum Grund und Motiv seines eigenen Tuns wird – das ist etwas, das einem Menschen widerfährt und das er nicht selbst macht und machen kann. Dies ist der Grund, warum Nächstenliebe nicht moralisch eingefordert werden kann, wie dies in der Flüchtlingsdebatte allenthalben geschehen ist bis hinauf zu kirchlichen Repräsentanten, etwa nach dem Motto: „Wir müssen die Flüchtlinge aus Nächstenliebe aufnehmen!“ Wer mit der Nächstenliebe moralischen Druck aufbaut, hat von ihr nichts begriffen. Im Widerfahrnischarakter des Nächsten liegt eine heilsame Begrenzung: Nicht alle Menschen sind Nächste, auch nicht alle Notleidenden und Schwachen. Dem einen Menschen widerfährt der Nächste in der Gestalt eines kranken Nachbarn, dem anderen in der Gestalt eines lernbehinderten Kindes aus der Nachbarschaft, dem er Nachhilfe gibt, und vielen Bürgerinnen und Bürgern widerfährt er heute in Gestalt der Flüchtlinge, für deren Not sie durch die mediale Berichterstattung sensibilisiert worden sind. Grenzenlos wird es, wenn dieser Widerfahrnischarakter ignoriert und aus der Nächstenliebe ein moralisches Prinzip gemacht wird des Inhalts, dass man Menschen in Not helfen muss. Hier lässt sich keine Grenze mehr ziehen; denn es wäre Willkür, hier dem einen Notleidenden zu helfen und dem anderen nicht, und so sind wir für alle Notleidenden dieser Welt verantwortlich. Leider kennzeichnet dieser prinzipielle Charakter diejenige Ethik, die von höchsten kirchlichen Repräsentanten für das Reden und Handeln „der Kirchen“ formuliert wird (so als wären „die Kirchen“ die ethischen Subjekte, und nicht die Menschen, die ihnen angehören). Das Prinzip heisst dann zum Beispiel „Option für die Schwachen“, und hieraus wird als Maxime für das Reden und Handeln „der Kirchen“ abgeleitet, dass man den Flüchtlingen helfen muss. Freilich, wer ihnen mit dieser Begründung hilft, der hilft ihnen gerade nicht aus Nächstenliebe, d.h. in Ansehung ihrer Not, sondern eben aus Prinzip.“

Hier nun seine theologische Begründung:

Prof. em. Dr. Johannes Fischer

Kirche und Theologie als Moralagenturen der Gesellschaft.

Acht Thesen zur Rolle der Moral

in öffentlichen kirchlichen Stellungnahmen zu ethischen Fragen1

Im Folgenden soll es darum gehen, das Thema dieser Konsultation im Hinblick auf öffentliche Stellungnahmen und Sozialworte zu bedenken. Ich gehe davon aus, dass niemand ernstlich in Zweifel zieht, dass es sinnvoll und richtig, ja geradezu geboten sein kann, dass Kirche und Theologie sich öffentlich zu bestimmten moralischen und sozialen Fragen äußern. Daher stellt sich im Blick auf das Thema dieser Konsultation die Frage, welche Art von öffentlichen Stellungnahmen gemeint ist oder gemeint sein könnte, wenn in Frageform nahe gelegt wird, dass Kirche und Theologie hierbei als „Moralagenturen der Gesellschaft“ wirken. Bei der Klärung dieser Frage geht es aus meiner Sicht zuerst und vor allem um das Verständnis von Moral, das sich in kirchlichen und theologischen Stellungnahmen zu moralischen Fragen findet, und zum anderen um die Rolle, die die Moral in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit spielt. Zu beidem will ich im Sinne eines Diskussionsimpulses ein paar Gedanken formulieren. Ich bitte um Verständnis, dass ich hierzu zunächst etwas ausholen muss. Der Kürze der Zeit wegen trage ich meine Überlegungen in Form von Thesen mit Erläuterung vor.

  1. Das, was in unserer Kultur unter ‚Moral‘ verstanden wird, hat seinen Ursprung in der jüdisch-christlichen Tradition.

Man kann sich dies anhand zweier verschiedener Begriffe des Guten verdeutlichen. Der Begriff des moralisch Guten bezieht sich auf ein Verhalten, mit dem einer gegebenen Situation entsprochen wird: Sich so in einer solchen Situation zu verhalten ist moralisch gut.2 Diese Art des Guten wird exemplarisch durch die Samaritererzählung Jesu veranschaulicht (Luk 10, 30ff). Sie hat ihren Ursprung in Gottes Gebot, das den Menschen zu einem entsprechenden Verhalten anleitet. Demgegenüber bezieht sich in der antiken Ethik der Begriff des Guten auf das gute Leben, und damit ist etwas anderes gemeint als ein moralisch gutes Leben. Für Aristoteles ist das gute Leben ein Leben, das die Bestimmung des Menschen verwirklicht, die Vernunft zu ihrer grösstmöglichen Entfaltung zu bringen in Gestalt der dianoetischen und ethischen Tugenden. Wenn man die Tugenden ‚gut‘ nennt, dann sind sie dies nicht in einem moralischen Sinne, sondern vielmehr in dem Sinne, dass sich in ihnen die Bestimmung des Menschen realisiert. Aristoteles hat unseren Begriff der Moral nicht gekannt.

  1. Vom jüdisch-christlichen Ursprung der Moral her fällt Licht auf eine Ambivalenz und Zweideutigkeit, die der Moral in der Moderne und darüber hinaus bis in die Gegenwart anhaftet und von der – wie noch zu erläutern sein wird – auch kirchliche und theologische Stellungnahmen zu moralischen Fragen häufig nicht frei sind.

Geht man zurück auf den jüdisch-christlichen Ursprung der Moral, dann betrifft diese Zweideutigkeit das Verständnis von Gottes Gebot. Genauer gesagt geht es um den Grund und das Motiv der Gebotsbefolgung: Sind die Gebote Gottes deshalb zu befolgen, weil sie von Gott geboten sind? Oder sind sie um des willen zu befolgen, weshalb sie von Gott geboten sind, so um des Hungrigen willen, auf dass er satt wird, oder um des Fremden willen, auf dass er eine Bleibe hat? Im ersten Fall liegen Grund und Motiv des Handelns in dessen Gebotenheit durch Gott, und es gibt nur einen einzigen Grund und ein einziges Motiv für alles gebotene Handeln, nämlich seine Gebotenheit durch Gott. Im zweiten Fall ist es die Situation des Bedürftigen, in der Grund und Motiv des Handelns liegen, und es gibt so viele Gründe und Motive, wie es Situationen von Bedürftigkeit gibt (vgl. Matth 25, 35f). Der Sinn der Gebote liegt dann darin, den Blick für die Situation des Bedürftigen zu schärfen. Ersichtlich ist das Gebot der Nächstenliebe von dieser zweiten Art. Um die Alternative auf eine griffige Art zu bezeichnen, unterscheide ich daher zwischen einer Gesetzesmoral auf der einen Seite und einer Moral der Liebe auf der anderen Seite. Hinter dieser Alternative stehen zwei verschiedene Gottesbilder: einerseits ein Gott, der vom Menschen unbedingten Gehorsam in Bezug auf die Einhaltung seiner Gebote verlangt; andererseits ein Gott, der seine Gebote zum Wohl seiner Kreaturen erlässt und mit ihnen den Menschen für dieses Wohl in seinen Dienst nimmt.

Diese Ambivalenz und Zweideutigkeit zwischen Gesetz und Liebe haftet auch der säkularen Moral an. Um dies an einem aktuellen Beispiel zu verdeutlichen: Soll denen, die derzeit aufgrund politischer Verfolgung in Deutschland Asyl suchen, deshalb geholfen werden, weil dies moralisch geboten ist? Oder soll ihnen um des willen geholfen werden, weshalb dies moralisch geboten ist, nämlich um der verzweifelten Situation und Notlage willen, in der sich viele von ihnen befinden? Im ersten Fall liegen der Grund und das Motiv für ein entsprechendes Handeln in dem Urteil ‚Es ist moralisch geboten, politisch Verfolgten zu helfen‘. Im zweiten Fall liegen Grund und Motiv in der Angewiesenheit dieser Menschen auf Hilfe.

  1. Die Moderne ist bis in die Gegenwart durch ein Verständnis von Moral im Sinne der Gesetzesmoral geprägt. Die Moral wird dabei zu einer autoritativ-verpflichtenden Letztinstanz, gewissermassen als das säkulare Pendant des göttlichen Gesetzgebers.

In einem vielrezipierten Aufsatz aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts über „Moderne Moralphilosophie“3 hat die englische Philosophin Elizabeth Anscombe die These aufgestellt, dass die moderne Moralphilosophie und Ethik ein Relikt einer religiösen Gesetzesethik ist, die die christliche Tradition hervorgebracht hat, die aber mit der Reformation ihren religiösen Bezugsrahmen verloren hat, in den sie eingebettet war und innerhalb dessen sie nur Sinn machte. Anscombe hat bei dieser These die erste Seite der zuvor skizzierten Alternative im Blick, wonach Gottes Gebote deshalb zu befolgen sind, weil sie durch Gott geboten sind. Eben dies charakterisiert für sie eine religiöse Gesetzesethik. Die Bedeutung der Reformation liegt darin, dass sie die Gebotsbefolgung überhaupt problematisierte: „Der Protestantismus leugnete nicht die Existenz eines göttlichen Gesetzes; aber seine bezeichnendste Lehre bestand darin, dass dieses Gesetz nicht gegeben sei, um befolgt zu werden, sondern um zu zeigen, dass der Mensch – selbst im Zustand der Gnade – unfähig ist, es zu befolgen…“4 Damit wird der religiösen Gesetzesethik die Grundlage entzogen. Doch ist das nicht das Ende der Gesetzesethik überhaupt. Vielmehr lebt sie in der modernen Moralphilosophie in säkularisierter Form weiter, in welcher deontische Begriffe wie ‚geboten‘, ‚verboten‘ oder ‚Pflicht‘ eine zentrale Rolle spielen, wie Anscombe insbesondere mit einem Vergleich zur aristotelischen Ethik verdeutlicht. Was bei Anscombe nur angedeutet, aber nicht näher ausgeführt wird, ist die Tatsache, dass auch die gebietende Instanz, deren es zu einer Gesetzesethik bedarf, in der modernen Moralphilosophie fortexistiert, nur dass sie dort nicht ‚Gott‘ heisst, sondern ‚Moral‘, oder in Kantischer Terminologie: ‚Sittengesetz‘. Der Ausdruck ‚moralisch geboten‘ nimmt hier die Bedeutung an von ‚durch die Moral geboten‘ bzw. ‚durch das Sittengesetz geboten‘. Und wie es in der religiösen Gesetzesethik nur einen einzigen Grund und ein einziges Motiv für alles gebotene Handeln gibt, nämlich die Gebotenheit durch Gott, so gibt es in ihrer säkularisierten Form auch für alles moralische Handeln nur einen einzigen Grund und ein einziges Motiv, nämlich in Gestalt der Gebotenheit durch die Moral. Moralisch ist eine Handlung, wenn sie das moralisch Gebotene um seiner moralischen Gebotenheit willen tut. Diese Moralauffassung ist bestimmend bis in die Moralphilosophie der Gegenwart. Ich zitiere Dieter Birnbacher aus seinem Buch „Analytische Einführung in die Ethik“: „Was dieses <eine und einzige moralische> Motiv vor anderen Motiven auszeichnet ist, dass es den Gedanken an die moralische Richtigkeit des Handelns, zu dem es motiviert, ausdrücklich enthält. Es motiviert zu bestimmten Handlungen im Namen der Moral und in keinem anderen Namen.“5 Bei Kant heisse dieses Motiv „Achtung vor dem Sittengesetz“.6 So tritt an die Stelle des Gebotenseins durch Gott das Gebotensein durch die Moral, die zu einer verpflichtenden Instanz aufrückt, in deren „Namen“ gehandelt wird. Das Engagement derer, die sich für Asylsuchende einsetzen und die dies um der Asylsuchenden willen tun, wäre nach dieser Moralauffassung nicht moralisch, und zwar weil sie es um der Asylsuchenden willen und nicht um der um der Moral willen tun.

Ich möchte behaupten, dass diese Moralauffassung nicht nur in der Moralphilosophie verbreitet ist, sondern dass von ihr auch das allgemeingesellschaftliche Moralbewusstsein tief beeinflusst ist. Ein Phänomen wie die moral correctness, bei der Meinungen und Überzeugungen verpflichtend gemacht und zugleich der Kritik entzogen werden, indem suggestiv beansprucht wird, dass es ein Gebot der Moral ist, so zu denken und die betreffende Meinung zu haben; die Ablösung religiöser Glaubenskriege durch moralische Glaubenskriege wie z.B. diejenigen zwischen Inklusionsbefürwortern und Inklusionskritikern; überhaupt die hochmoralische Überfrachtung gesellschaftlicher Debatten – all das ist nur von dieser Aufwertung der Moral zu einer autoritativen Letztinstanz her verständlich, auf die man sich im gesellschaftlichen Meinungsstreit beruft. Wie es früher wichtig war, Gott auf seiner Seite zu haben, so ist es heute wichtig, die Moral auf seiner Seite zu haben.

Das reicht bis zur moralischen Instrumentalisierung der christlichen Nächstenliebe in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte. Bekanntlich ist die Liebe zum Nächsten nach biblischem Verständnis ein Charisma, d.h. etwas, wozu kein Mensch sich aus eigenem Vermögen bestimmen kann, weshalb sie dem Wirken von Gottes Geist zugeschrieben wird. An dieser Eigenart der Nächstenliebe ist nichts Mysteriöses, sondern sie beruht auf einem einsehbaren Sachverhalt. Dass ein Mensch von der Not eines anderen so berührt wird, dass sie zum Grund und Motiv seines Handelns wird, das ist etwas, das ihm widerfährt und das er nicht selbst macht und machen kann. Dieser Widerfahrnischarakter des Nächsten ist der Grund dafür, warum Nächstenliebe nicht moralisch eingefordert werden kann. Genau dies aber geschieht gegenwärtig mannigfach sowohl im politischen als auch im kirchlichen Raum, nach dem Motto: „Wir müssen die Flüchtlinge aus Nächstenliebe aufnehmen.“ Auf diese Weise wird in der öffentlichen Debatte moralischer Druck erzeugt. Die moralische Instrumentalisierung der Nächstenliebe hat dabei die fatale Konsequenz der Ausweitung unserer moralischen Verantwortung ins Grenzenlose. Man muss sich hierzu vergegenwärtigen, dass im Widerfahrnischarakter des Nächsten eine heilsame Begrenzung liegt: Nicht alle Menschen sind unsere Nächsten, auch nicht alle Notleidenden und Schwachen. Dem einen Menschen widerfährt der Nächste in der Gestalt eines kranken Nachbarn, um den er sich kümmert, dem anderen in der Gestalt eines lernbehinderten Kindes aus der Nachbarschaft, dem er Nachhilfe gibt, und vielen Bürgerinnen und Bürgern widerfährt er heute in Gestalt der Flüchtlinge, für deren Schicksal und Situation sie durch die mediale Berichterstattung sensibilisiert worden sind und für die sie sich engagieren. Grenzenlos wird es, wenn dieser Widerfahrnischarakter ignoriert und aus der Nächstenliebe ein moralisches Prinzip gemacht wird des Inhalts, dass man Menschen in Not helfen muss. Hier lässt sich keine Grenze mehr ziehen; denn es wäre Willkür, hier dem einen Notleidenden zu helfen und dem anderen nicht, und so sind wir unterschiedslos für alle Notleidenden moralisch verantwortlich. Die darin liegende Überforderung wird ins Paradoxe gesteigert, wenn das Prinzip noch dahingehend spezifiziert wird, dass Menschen in Not aus Nächstenliebe geholfen werden muss. Denn, wie gesagt, wird damit ein Handlungsgrund und ein Handlungsmotiv zur Pflicht gemacht, den bzw. das zu haben kein Mensch sich selbst bestimmen kann. Angesichts gewisser öffentlicher Äusserungen von höchster kirchlicher Stelle ist es in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte eine berechtigte Anfrage an die Kirchen, wie weit der Horizont der Verantwortung reichen soll, zu der sie öffentlich mahnen, ob es dafür Grenzen gibt oder ob alle Not dieser Welt darunter fällt.7

Die Dominanz der Gesetzesmoral im allgemeingesellschaftlichen Bewusstsein betrifft nicht nur ethische Fragen, sondern auch den Bereich des Politischen. Exemplarisch hierfür ist Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Webers Begriff der Gesinnungsethik bezeichnet eine moralische Gesetzesethik, die sich den Geboten der Moral einzig und allein deshalb verpflichtet weiss, weil diese moralisch geboten sind, also ohne Rücksicht auf die Folgen des entsprechenden Handelns. Weber illustriert diese Art des Denkens anhand der wörtlichen Befolgung der Bergpredigt, bei der der Christ recht tut und die Folgen Gott anheimstellt, und er verweist damit auf den religiösen Ursprung dieses Denkens. Der gesetzestreue Christ tut dies freilich im Vertrauen darauf, dass Gott seinen Gebotsgehorsams mit guten Folgen belohnen wird. Für den säkularen Gesinnungsethiker gibt es demgegenüber keine göttliche Garantie guter Folgen. Diese Lücke muss entweder durch den Glauben an eine letztlich gute Welt geschlossen werden, die schon dafür sorgen wird, dass alles gut hinauskommt. Oder sie muss durch säkulare Ideologien geschlossen werden, die dasselbe verheissen, wie Weber dies seinerzeit in den Wirren der Münchner Räterepublik vor Augen hatte.

Mit alledem ist deutlich, dass der moralische Fundamentalismus nur die säkulare Variante des religiösen Fundamentalismus ist: eine zur verpflichtenden Letztinstanz erhobene Moral als säkulares Substitut für den göttlichen Gebieter. Er ist ein typisch westliches Phänomen.

  1. Der Gesetzesmoral auf der einen Seite und der Moral der Liebe auf der anderen Seite entsprechen zwei grundverschiedene Arten des ethischen Denkens.

Wenn die Gründe und Motive für moralisches Handeln in moralischen Urteilen liegen wie dem Urteil ‚Es ist moralisch geboten, Asylsuchenden zu helfen‘, dann fällt der Ethik die Aufgabe zu, derartige Urteile mit möglichst zwingenden Argumenten zu begründen, um Menschen zu einem entsprechenden Handeln zu veranlassen. Eben dies ist das Projekt der Ethik der Moderne in Gestalt der modernen ethischen Theorien, also der Kantischen Ethik (unter Einschluss der Diskursethik) und des Utilitarismus. Die Aufgabe der Ethik besteht hiernach in der argumentativen Begründung moralischer Urteile. Diese ist eine Sache von Experten, nämlich der philosophischen und theologischen Ethikerinnen und Ethiker, die eine besondere Kompetenz bezüglich der Konstruktion moralischer Argumente besitzen. Wo dabei die Philosophen auf Argumente der Vernunft rekurrieren, rekurrieren die Theologen auf Argumente, die aus Prämissen des christlichen Glaubens wie z.B. der Gottebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet sind. Die Gesetzesmoral, die aufgrund der Rechtfertigungslehre eigentlich keine protestantische Option mehr sein dürfte, erlebt solchermassen ihre theologische Renaissance dank der Tatsache, dass die evangelische Ethik sich zu einem erheblichen Teil am philosophischen Ethik-Paradigma der Moderne orientiert.8 Der Vorstellung von Moral als autoritativer Letztinstanz entspricht die Vorstellung, dass es in allen moralischen Fragen genau eine richtige Lösung gibt, die durch die Moral bzw. das „Sittengesetz“ vorgegeben ist, ganz so, wie einst das Richtige durch Gottes Gebot vorgegeben war, und dass man, indem man dieser Lösung Folge leistet, sich von moralischer Schuld frei halten kann. Charakteristisch für diese Art des Denkens ist darüber hinaus dessen prinzipieller Charakter: Das moralisch Richtige und Gebotene wird aus allgemeinen Prämissen, Urteilen, Prinzipien oder Regeln abgeleitet. Es fehlt das Sensorium für die Besonderheit des Einzelfalls, für Grenz- und Ausnahmesituationen.

Wenn demgegenüber, der Moral der Liebe entsprechend, die Gründe und Motive für moralisches Handeln in den Situationen und Lebenslagen liegen, denen Menschen wie z.B. Flüchtlinge und Migranten ausgesetzt sind, dann besteht die ethische Aufgabe darin, für diese Situationen und Lebenslagen zu sensibilisieren, also Menschen dadurch zum Handeln zu bewegen, dass man ihnen diese Situationen vor Augen führt. Hier geht es nicht um die argumentative Begründung moralischer Urteile, sondern um ein möglichst genaues, empathiegeleitetes Hinsehen und Verstehen. Das aber lässt sich nicht an philosophische oder theologische Experten delegieren. Vielmehr muss hier eine jede und ein jeder selbst hinsehen und verstehen. Insofern kann hier die Ethik dem einzelnen das Urteil nicht abnehmen, indem sie selbst dekretiert, was richtig oder falsch ist. Sie kann nur versuchen, ihre Adressaten sehend zu machen für das, was auf dem Spiel steht, und sie solchermassen zu einem sachgemässen eigenen Urteil anzuleiten. Diese Art des ethischen Denkens sieht sich nicht selten in die Konflikte und Widersprüche der Wirklichkeit selbst verstrickt, also in Grenz- und Ausnahmesituationen – man denke etwa an den ganzen Komplex der Sterbehilfe –, in denen es keine moralisch verallgemeinerbaren Lösungen gibt, sondern in denen, wie Bonhoeffer es in seiner Ethik pointiert ausdrückt, das „verantwortliche Handeln … ein freies Wagnis“ ist, „durch kein Gesetz gerechtfertigt“9

  1. Für eine evangelische Ethik kommt nur und ausschliesslich ein ethisches Denken im Sinne der Moral der Liebe in Betracht, dem es um ein genaues und differenzierendes Hinsehen und Verstehen zu tun ist.

Nach dem Gesagten erübrigt sich bei dieser These eine Begründung. Ich will stattdessen nur anmerken, dass die evangelische Theologie und Ethik teilweise genau so wahrgenommen wird, und zwar mit einem Zitat aus zehn Thesen des Berliner Philosophen Volker Gerhardt, die dieser in einer Disputation mit dem damaligen Ratsvorsitzenden Bischof Huber anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Zeitschrift für Evangelische Ethik vorgetragen hat: „Im biowissenschaftlichen Diskurs, der die öffentliche ethische Debatte seit gut zehn Jahren dominiert, haben einzelne evangelische Theologen hohe Kompetenz bewiesen. Sie haben … nicht selten einen offeneren Horizont als mancher Schulvertreter aus der Philosophie bewiesen. Während Philosophen gelegentlich als Exegeten einer auf Aristoteles, Thomas, Kant oder John Stuart Mill gegründeten Lehre auftreten, achten die Theologen stärker auf die lebensweltlichen Bezüge ihrer Einsicht. … Dieses Lob gilt (mit der Ausnahme eines mutigen Jesuiten) nur für Theologen protestantischer Konfession. … Durch ihre Verbindung zu den kirchlichen Diensten stehen sie der Wirklichkeit des menschlichen Handelns näher. Sie nehmen die Entscheidungsnot wahr, in denen sich Eltern mit dem Wunsch nach einem gesunden Kind befinden, oder Schwangere in einer ausweglos erscheinenden Lage oder Schwerstkranke, die keine weiteren Therapien wünschen. Daher ist es den protestantischen Theologen in den letzten Jahren gelungen, in schwierigen Fragen zu vermitteln, obgleich die Position der höchsten Kirchenleitung dem entgegenstand und leider immer noch entgegensteht.“10

  1. Der Typus der Gesetzesmoral und das ihm entsprechende ethische Denken finden sich teilweise auch in kirchlichen Stellungnahmen zu ethischen Fragen. Leitend ist dabei die Vorstellung, die Kirche müsse sich in kontroversen ethischen Fragen als Kirche positionieren und eindeutig zugunsten einer der strittigen Optionen Stellung beziehen, was in der Regel dadurch geschieht, dass für die betreffende Option theologische Argumente und Begründungen aufgeboten werden. Damit wird öffentlich der Eindruck erzeugt, als gäbe es in ethischen Fragen wie z.B. Fragen der Bioethik immer „die“ christliche oder kirchliche Position, für die dann kirchenleitende Instanzen eine Art kirchliches Lehramt ausüben, und als könnten evangelische Christinnen und Christen in solchen Fragen nicht mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein.

Hier liesse sich eine Menge sagen, wozu im Rahmen dieses Impulsreferates die Zeit fehlt. Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich vorweg betonen, dass die in der These formulierte Kritik keineswegs auf alle kirchlichen Stellungnahmen zu ethischen Fragen zutrifft. Doch ist in derartigen Stellungnahmen das gesetzesmoralische Denken auch nicht eben selten. Ich will zwei Beispiele hierfür geben. Das eine ist die Stellungnahme des Rates der EKD zur Präimplantationsdiagnostik (PID) vom 15. Februar 2011. Es ging damals um die Frage der rechtlichen Zulassung der PID. In seiner Stellungnahme sprach sich der Rat dagegen aus. Seine theologische Begründung war: PID ist gleichbedeutend mit einer Selektion zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben, und das widerspricht dem christlichen Menschenbild. Der erste Teil dieser Begründung ist auf dem Hintergrund der Rolle, die die Eugenik in der deutschen Vergangenheit gespielt hat, gleichbedeutend mit einer moralischen Ächtung der PID, und der zweite Teil, die Berufung auf das christliche Menschenbild, stützt diese Ächtung zusätzlich theologisch ab. Es fehlt in dieser Stellungnahme völlig das, was Volker Gerhardt bei seinem Lob evangelischer Ethiker im Blick hat, nämlich das genaue Hinschauen auf die lebensweltlichen Bezüge, also auf potentielle Eltern aus Familien mit einer Erbkrankheit, die sich die PID als eine mögliche Option wünschen, und zwar – wohlgemerkt – nicht, um lebensunwertes Leben aussortieren zu können, sondern um dem Kind, das sie sich wünschen, das Leid zu ersparen, das die Erbkrankheit bedeutet. Das sind zwei grundverschiedene Dinge, und man tut solch potentiellen Eltern zutiefst Unrecht, wenn man sie in die Ecke der Eugenik rückt.11 Im Übrigen: Was tut der Rat der EKD, wenn er als Rat der EKD eine solche Stellungnahme abgibt? Für wen und in wessen Namen spricht er da? Und kraft welcher Kompetenz oder Befugnis tut er dies?

Das zweite Beispiel ist die Orientierungshilfe „Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft“.12 Es handelt sich um eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, der sich diesen Text zu eigen gemacht hat. Gerade das Thema ‚Inklusion‘ ist ein instruktives Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Debatten hochmoralisch aufgeladen werden und wie bis hinein in die Politik moralischer Druck aufgebaut wird, um bestimmte Positionen durchzusetzen. Bei der Heftigkeit der Diskussion kann man fast den Eindruck haben, als ginge es um die Alternative ‚Inklusion ist gut‘ versus ‚Inklusion ist schlecht‘. Solange man sich in dieser Alternative bewegt, geht es um abstrakte moralische Urteile, aber nicht um ein genaues Hinschauen und Verstehen dessen, was je und je in den verschiedenen Lebenszusammenhängen – Wohnen, Bildung bzw. Schule, Arbeit usw. – im Interesse der möglichst umfassenden Förderung und Begleitung behinderter Menschen das Beste ist. Ginge man die Dinge in dieser Weise an, dann dürfte man wohl kaum zu einem anderen Urteil gelangen als zu dem Urteil: „So viel Inklusion wie möglich und so viel zielgruppenorientierte Sonderförderung und -betreuung wie sinnvoll und nötig“.

Auch diese Orientierungshilfe folgt einem gesetzesmoralischen Verständnis, wonach es Aufgabe der Theologie bzw. theologischen Ethik ist, theologische Begründungen für moralische oder moralisch besetzte Positionen zu liefern. Das Kapitel ‚Theologische Orientierungen‘ ist ein einziges Plädoyer für das Urteil, dass Gott Inklusion will. Begründet wird das mit der Gottebenbildlichkeit, zu der Gott den Menschen geschaffen hat, sowie mit dem „inklusiven Handeln Gottes“ in Jesus Christus, dessen inklusiver Charakter darin gesehen wird, dass es allen Menschen unabhängig von Leistung und Verdienst gilt, sowie mit dem paulinischen Motiv des Leibes Christi, der alle Glieder der Gemeinde umfasst. So theologisch richtig das alles ist und sein mag: Inwiefern folgt aus alledem, dass behinderte Kinder nicht in zielgruppenorientierten Sondereinrichtungen gefördert werden sollen, wenn dies zu ihrem Besten ist? Inwiefern widerspricht eine solche Förderung ihrer Gottebenbildlichkeit oder ihrer Annahme durch Gott in Christus oder ihrer Zugehörigkeit zum Leib Christi? Und inwiefern folgt aus all diesen theologischen Begründungen zugunsten der Inklusion, dass wir uns utopischen Zielen verschreiben sollen wie dem Ziel der „volle<n>, selbstbestimmte<n> und gleichberechtigte<n> Teilhabe aller Menschen mit und ohne Behinderung in einer in jeder Hinsicht barrierefreien, offenen und demokratischen Gesellschaft…“13. Das wird, wohlgemerkt, nicht im Blick auf das Reich Gottes gesagt, sondern im Blick auf eine inklusive Gesellschaft hier auf Erden. Man versuche sich vorzustellen, was diese Formulierung für Menschen mit schwerer Demenz bedeuten soll.

Diese utopische Zielsetzung resultiert aus einem Denken, dem zufolge Behinderung nicht länger als etwas aufgefasst werden soll, das Menschen in Form körperlicher, psychischer oder geistiger Beeinträchtigungen haben – im Sinne von: Dieser Mensch ist behindert –, sondern vielmehr als etwas aufgefasst werden soll, das Menschen von einer nichtinklusiven Umgebung zugefügt wird – im Sinne von: Dieser Mensch wird behindert –.14 In einer inklusiven Gesellschaft kann es daher diesem Denken zufolge schon rein definitorisch keine Behinderung mehr geben, sondern nur noch volle gesellschaftliche Teilhabe aller. Aber warum sollen wir so denken? Folgt man der Orientierungshilfe, dann deshalb, weil „Behinderung … im Kopf“ beginnt, d.h. weil es sich beim Begriff der Behinderung um ein „kulturell/weltanschaulich diskriminierende<s> Denkmuster“ handelt.15 Daher ist es eine moralische Forderung, so zu denken. Es geht infolgedessen nicht um die Frage, ob es Sinn macht oder ob etwas Wahres ausgedrückt wird, wenn von einem Menschen gesagt wird, dass er behindert, d.h. von bestimmten gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ausgeschlossen ist. Vielmehr müssen derartige Aussagen aus moralischen Gründen unterbleiben, weil sie – so die Unterstellung – diskriminierend sind. Doch sind sie das tatsächlich? Diese Frage wird in der Orientierungshilfe nicht wirklich erörtert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es bei der Einforderung eines inklusiven Sprachgebrauchs nicht um Wahrheit geht, sondern vielmehr um moral correctness.

In der Orientierungshilfe wird völlig zu Recht ein Menschenbild kritisiert, das am Normalstandard des gesunden, nichtbehinderten Menschen orientiert ist und durch das Behinderte und Kranke ausgeschlossen werden. Doch ist nicht auch diese utopische Zielvorstellung einer inklusiven Gesellschaft an dem Normalstandard des gesunden, nichtbehinderten Menschen orientiert, wenn darin von voller, selbstbestimmter und gleichberechtigter Teilhabe aller (!) Menschen die Rede ist, und ist dies nicht ebenso exkludierend in Bezug auf all diejenigen Menschen, bei denen wegen einer schweren Behinderung oder Krankheit von einer vollen und selbstbestimmten gesellschaftlichen Teilhabe niemals auch nur von Ferne wird die Rede sein können? Dies ist ein Beispiel dafür, wie hochmoralisch aufgeladene Konzepte wie das einer inklusiven Gesellschaft zu Idealisierungen führen, die die Realitäten ganz aus dem Blickfeld geraten lassen. Das ist das Gegenteil einer Haltung des genauen und vorurteilsfreien Hinschauens und Verstehens, wie sie für die evangelische Ethik kennzeichnend sein sollte.

Muss sich die Kirche in einer solchen Frage überhaupt positionieren? Muss sie sich zu allen moralischen oder moralisch aufgeladenen gesellschaftlichen Debatten öffentlich äussern? Und muss es denn in allen wichtigen moralischen bzw. ethischen Fragen immer genau einen, eindeutigen „christlichen“ oder „kirchlichen“ Standpunkt geben? Können Christinnen und Christen nicht in vielen, auch fundamentalen ethischen Fragen mit guten Gründen verschiedener Meinung sein? Letzteres gilt umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieser angeblich „christliche“ oder „kirchliche“ Standpunkt in so mancher kirchlichen Stellungnahme gar nicht theologisch hergeleitet wird aus Prämissen, die mit dem christlichen Glauben zu tun haben, sondern unter Berufung auf Argumente anderer Art. So ist in der gemeinsamen Erklärung der Kirchen „Gott ist ein Freund des Lebens“ von 1989 das zentrale Argument für die These, dass Embryonen vom Zeitpunkt der Keimzellenverschmelzung an im vollen Sinne Menschen mit Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde sind, das sogenannte Kontinuitätsargument16, das ein philosophisches und kein theologisches Argument ist und das noch dazu in der philosophisch-ethischen Debatte hochumstritten ist. Ungeachtet dieser Strittigkeit wird aus diesem Argument „die“ christliche und kirchliche Position in der Frage der Schutzwürdigkeit des vorgeburtlichen Lebens abgeleitet. Wenn kirchliche Orientierungshilfen tatsächlich das sein sollen, was sie zu sein beanspruchen, nämlich Orientierungshilfen, müssten sie dann nicht, statt in ethisch kontroversen Fragen gewissermassen ex cathedra genau eine Position als die richtige, christliche und kirchliche zu behaupten, ihre Aufgabe darin sehen, die verschiedenen kontroversen Positionen mit ihren jeweils besten Gründen und Argumenten und gewiss auch den zugehörigen theologischen und nichttheologischen Einwänden darzustellen, um es solchermassen ihren Lesern und Adressaten zu ermöglichen, sich ein wohlbegründetes eigenes Urteil zu bilden?

  1. Es gibt eine sowohl gesellschaftliche als auch innerkirchliche Tendenz, die Kirche in Gestalt ihrer leitenden Gremien und Instanzen in die Rolle von so etwas wie einer Moralagentur zu drängen, die gesellschaftlich kontroverse moralische Fragen mit der ihr als Kirche eigenen Autorität und unter Beisteuerung religiöser bzw. theologischer Legitimationen ex cathedra eindeutig entscheiden soll bzw. entscheidet.

Wenn hier von ‚Tendenz‘ die Rede ist, dann ist damit das Zusammenwirken eines komplexen Bündels von Faktoren gemeint, von denen ich drei nennen will:

a. das gesetzesmoralische Verständnis von Moral, wonach es sich bei der Moral um eine autoritativ-verpflichtende Letztinstanz handelt, die man in gesellschaftlich kontroversen Fragen für sich zu reklamieren sucht. Von diesem Moralverständnis her liegt es nur zu nahe, die Kirche als eine Institution in Anspruch zu nehmen, die von ihrer Tradition her für diese Instanz zuständig ist und die deren autoritativen Anspruch religiös überhöht und mit theologischen Weihen und Legitimationen versieht. Darin kann umgekehrt für die Kirche die Versuchung liegen, um ihrer öffentlichen Stellung und Bedeutung willen dieser Erwartung nachzukommen.

b. die Moralisierung bzw. Ethisierung der Dimension des Religiösen. Wenn nicht alles täuscht, gibt es sowohl ausserhalb wie innerhalb der Kirche eine Entwicklung hin zu einer Auffassung von Religion, die nicht mehr an den traditionellen Glaubensinhalten orientiert ist, sondern der zufolge Religion in ihrem Kern in einem Glauben an die Werthaftigkeit der Wirklichkeit und an die objektive Existenz von Werten besteht. Paradigmatisch für diese Religionsauffassung ist Ronald Dworkins Buch ‚Religion ohne Gott‘17. Dementsprechend wird auch die Kirche sowohl gesellschaftlich als auch teilweise von ihren eigenen Mitgliedern als eine Institution gesehen, die für Werte und Wertvermittlung und für das Gute steht. Auch hierin kann für kirchenleitende Instanzen die Versuchung liegen, dieser Erwartung zu entsprechen und die Kirche öffentlich als eine Institution der Wertevermittlung, ja als Bollwerk der Verteidigung grundlegender Werte – insbesondere beim Thema Lebensschutz – zu profilieren.

c. der Bedeutungsverlust von Kirche und Theologie. 1945 am Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte es zu den selbstkritischen Einsichten der Evangelischen Kirche, dass sie auf den fortschreitenden Bedeutungsverlust seit der Industrialisierung und vollends seit Ende des Ersten Weltkriegs und der Austrittswelle der Zwanziger Jahre nur mit einer Zentrierung auf sich selbst in Gestalt von volksmissionarischen Anstrengungen der Bestandserhaltung reagiert hatte und darüber ihre Mitverantwortung für die Gestaltung von Gesellschaft und Politik aus dem Auge verloren hatte. Dies führte zur Gründung der evangelischen Akademien und zur dortigen berufsgruppenbezogenen Arbeit mit dem Ziel, Christinnen und Christen reflexions- und sprachfähig zu machen im Hinblick darauf, was es heisst, als Christ Gewerkschafter, Unternehmer, Lehrer, Soldat, Jurist, Naturwissenschaftler usw. zu sein. Und es führte zum Gedanken eines öffentlichen Auftrags der Kirche, der sich in der institutionellen Struktur der EKD mit ihren verschiedenen Kammern niedergeschlagen hat. Heute kann man umgekehrt den Eindruck haben, dass Kirche und Theologie den Bedeutungsverlust, den sie gegenwärtig erleben, durch Anstrengungen im Bereich ihrer öffentlichen Präsenz zu kompensieren suchen, indem sie im öffentlichen Raum ihre gesellschaftliche Relevanz unter Beweis zu stellen suchen. Damit aber machen sie sich abhängig von den Vorstellungen, die innerhalb der Gesellschaft darüber herrschen, worin die Relevanz von Religion und Kirche besteht, und das ist nach dem Gesagten vor allem Moral und Wertevermittlung. Dieses öffentliche Agieren der Kirche in Gestalt ihrer diversen Stellungnahmen und Orientierungshilfen geschieht dabei zumeist völlig abgekoppelt von der kirchlichen Basis in Gestalt der Ortsgemeinden. Das ist genauso eine Frage an die Theologie, nämlich mit welchen Strategien sie sich in Anbetracht ihres Bedeutungsverlusts in Universität und Gesellschaft zu behaupten sucht und an welchen Adressatenkreisen sie sich dabei primär ausrichtet, ob als öffentliche Theologie an der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und deren moralischen bzw. politischen Debatten oder ob als kirchliche Theologie an den Gemeinden, für die sie die Pfarrerinnen und Pfarrer ausbildet, und an der dort gelebten kirchlichen Praxis mit all den Fragen und Problemen, die sich in diesem Kontext stellen.

Meine achte und letzte These ist eine Art Fazit, und sie bedarf daher keiner Erläuterung:

Aufgrund des Ursprungs der Moral in der jüdisch-christlichen Tradition sollten gerade die Theologie und die Kirchen ein geschärftes Bewusstsein haben für die tiefe Ambivalenz und Zweideutigkeit der Moral. Das gilt besonders für die evangelische Theologie und Kirche auf dem Hintergrund der protestantischen Rechtfertigungslehre

Meine achte und letzte These ist eine Art Fazit, und sie bedarf daher keiner Erläuterung:

  1. Aufgrund des Ursprungs der Moral in der jüdisch-christlichen Tradition sollten gerade die Theologie und die Kirchen ein geschärftes Bewusstsein haben für die tiefe Ambivalenz und Zweideutigkeit der Moral. Das gilt besonders für die evangelische Theologie und Kirche auf dem Hintergrund der protestantischen Rechtfertigungslehre. In theologischer Hinsicht geht es darum, eine in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung als Letztinstanz und Ersatz-Gott fungierende Moral in ihrer Fragwürdigkeit bewusst zu machen – statt sich ihr anzudienen im Streben nach gesellschaftlicher Akzeptanz. Denn der moralische Fundamentalismus ist nicht weniger von Übel als der religiöse, da er wie dieser unfähig macht, die Realität in ihrer Nicht-Idealität, Widerständigkeit und Komplexität auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Daher sollten kirchenleitende Instanzen, die öffentlich zu moralischen Fragen Stellung nehmen, sich Rechenschaft geben über das Verständnis von Moral, das sie dabei zugrunde legen, sowie über Motivation, Sinn und Funktion ihrer Stellungnahmen, und zwar in Anbetracht der fragwürdigen Rolle, die die Moral nur zu oft in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen spielt.

 

 


1 Der folgende Text ist die erweiterte Fassung eines Impulsreferats bei der XVII. Konsultation Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie vom 16.-18. September 2015 in Eisenach, die unter dem Thema „Kirche und Theologie als Moralagenturen der Gesellschaft?“ stand. Das Referat leitete die Arbeitseinheit zu den öffentlichen Stellungnahmen und Sozialworten der Kirche ein. Der folgende Text erscheint in Heft 2/2016 der Zeitschrift „Evangelische Theologie“.

2 Vgl. hierzu Johannes Fischer, Die religiöse Dimension der Moral als Thema der Ethik, in: ThLZ 137. Jg. (2012), 388-406, bes. 389ff.

3 G. E. M. Anscombe, Moderne Moralphilosophie, in: Günther Grewendorf, Georg Meggle (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, 217-243.

4 AaO. 242 (Anm. 5)

5 Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York: de Gruyter, 2003, 283.

6 Ebd.

7 Vgl. den Artikel „Migration als Reflexzonenmassage“ von Christian Geyer in der FAZ vom 30. Januar 2016.

8 Vgl. hierzu Johannes Fischer, Zwischen religiöser Ideologie und religiösem Fundamentalismus. Zu einem Irrweg evangelischer Ethik, in: EvTh 74. Jg. (2014), 22-39.

9 Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München: Chr. Kaiser Verlag, 1992, 285.

10 Volker Gerhardt, Protestantische Ethik. Zehn Thesen zur Diskussion mit Bischof Huber, in: Protestantische Ethik für das 21. Jahrhundert. 50 Jahre Zeitschrift für Evangelische Ethik, Sonderheft, 2007, 49.

11 Vgl. hierzu Johannes Fischer, Christliches Menschenbild als Götze. Zur Stellungnahme des Rates der EKD zur Präimplantationsdiagnostik (PID), in: zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 6/2011, 41-43.

12 Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2014.

13 AaO. 27.

14 AaO. 25.

15 AaO. 26f.

16 Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz: Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens, Gütersloh: Verlagshaus Gerd Mohn, 1989, 43ff.

17 Ronald Dworkin, Religion ohne Gott, Frankfurt a.M. 2014.

3 Kommentare zu „„Sind alle Notleidenden unsere Nächsten?“

  1. Es hat mir immer Schwierigkeiten gemacht, Moral mit Logik zu verbinden. Mir scheint, dass Theologen die Problematik geschickt umgehen. Anstatt des Allquantors benutzen sie einen Selektor ‚Einige‘. Da Liebe ‚blind‘ ist, selektiert sie. Eine auf Liebe basierende Hilfeleistung hat nicht das Problem, das man sich übernimmt.

  2. „Alle Notleidenden sind unsere Nächsten“ ist eine empirische Allaussage, die im sozialen Bereich in der Regel mühelos widerlegt werden kann; Popper (1902-1994) sagt, Aussagen dieser Art sind falsifizierbar (siehe seine „Logik der Forschung“). Die Falsifikation, weil man zeigen kann, dieser ist dein Nächster, jener aber nicht, führt so gesehen zur Willkür; denn wieso ist der notleidende A dein Nächster und der notleidende B aber nicht.

    Deshalb die Erkenntnis, dass Widerfahrnis, übrigens auch ein zentraler Begriff der Anthropologie, am Werke sein muss. Charisma als Widerfahrnis ist nicht Amor oder Eros, die bekanntlich blind machen, sondern ein besseres Verstehen der Situation der Notleidenden. Man muss sich mit den Syrern in den Flüchtlingsheimen befassen, das ist Charisma. Dann erkennt man die Verwirrung, das völlig Aus-dem-Ortho-sein dieser Menschen, die unfähig sind, einen realen Willen aufzubauen und lieber träumen. „Ich will, weil ich kann“, diesen Satz hat ein Deutschlehrer in einem Flüchtlingsheim von einem Syrer noch nie gehört, und ich auch nicht. Wie bringt man denen realisierbaren Willen bei? Das ist eine charismatische Aufgabe, besonders schwierig zu lösen, wenn ein egozentrischer Macho-Hochmut vom Format „große Klappe nichts dahinter“ deutlich zu spüren ist. Demut und Bescheidenheit auf der notleidenden Seite würden die Sache deutlich erleichtern.

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