Ein Relevanz-Problem,dargestellt an Upload-Filtern im Urheberrecht

1) Eine Geschichte von Alfred Schütz (1899-1959) zur Einführung

Das Erzählen von Geschichten ist wieder ein Tagesthema.  Geschichtenerzählen (storytelling) firmiert heute unter dem Begriff „Narrative“ und gilt wieder als hochmodern, obwohl diese Kunst aus dem biblischen Zeitalter stammt, das sich  durch  eine Dominanz des Analphabetentums auszeichnete. Man sollte vor Geschichtenerzählern aber nicht die Nase zu rümpfen. Geschichten brauchen nicht wirkliche Geschichten zu sein. Wenn Geschichten fiktiv sind, sind sie in der Regel viel eindrucksvoller. Man denke an das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter nach Lukas (10,29). Jesus wird gefragt “Wer ist mein Nächster? Da nahm Jesus das Wort und sprach: ‚Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho und fiel unter die Räuber‘. Nach dem Erzählen der Geschichte wusste jedermann, was es bedeutet, der Nächste zu sein. Ein großer Erfolg. Man stelle sich vor, es wäre der Versuch unternommen worden, mit wissenschaftlichen Definitionsmethoden zu Werke zu gehen. Ein Fehlschlag wäre sicher. Man kann Prädikatoren wie der „Nächste“ sehr schön narrativ einführen.

Und so tun wir es auch jetzt mit Alfred Schütz, wenn es um die vielen Facetten des Relevanzbegriffs geht. Statt „relevant“ kann man im Deutschen auch viel deutlicher synonym „erheblich“ sagen, weil man ja ausdrücken will, dass sich etwas aus einer vertraulichen Gleichheit heraushebt, das für mich wichtig zu sein scheint.

Wir greifen auf Alfred Schütz zurück mit seinem Werk„ Das Problem der Relevanz“, und wir werden dann sehr schnell beim aktuellen  Problem sein: „Upload-Filter in den neuen EU Richtlinien zum Urheberschutz“.

In Schützens Erzählung, die wir in kommentierter Form wiedergeben, kommt ein Mann gegen Abend in sein vertrautes Schlafzimmer und ist überrascht, in einer Ecke ein Knäuel liegen zu sehen, das er nicht so ohne weiteres identifizieren kann. Das Knäul ist nun sein Problem im wahrsten Sinnen des Wortes.  Denn: Das Wort „Problem“ (πρόβλημα) in seinem griechischen Ursprung  bedeutet  lateinisch „Objekt“, also das, was vor uns geworfen ist,  später dann das deutsche Wort „Gegenstand“, was uns also ent-gegensteht. „Was ist das für ein Gegenstand?“, fragt der Mann sich und beginnt eine Bestimmung des Typs, den er vor sich sieht. Typ oder Schema, das sind die allgemeinen Merkmale, um die der Mann sich bemüht. Man sagt auch: Der Mann hat ein Thema in einem Horizont, das ist sein ihm ansonsten vertrautes Schlafzimmer. Der Mann will über den Gegenstand etwas lernen, nämlich das, was thematisch relevant ist. Schütz spricht von thematischer Relevanz. Der Mann ist neugierig und will wissen, was für ein Material, Gewicht und Farbe der Gegenstand im Thema hat. Er fängt an zu interpretieren und zu spezifizieren. Der Mann lernt, was für die Auslegung relevant ist. Er kümmert sich nach Schütz um eine Auslegungsrelevanz. Dann die Frage: Könnte das Knäuel nicht auch eine Schlange sein, vor  die er sich in seinem Schlafzimmer fürchtet. Der Mann ist motiviert, er sammelt Antriebskräfte, Motivationen, um zu einem Stock zu greifen, damit durch Schlagen festgestellt werden kann, dass ein toter Gegenstand da liegt. Furcht ist der Grund seiner Motivationsrelevanz.

 Die drei Relevanzen bilden nach Schütz ein zusammenhängendes System (Bild 1):

Bild 1: Das Relevanzsystem nach Schütz

Nach Bild 1 kann man sich frei in dem System bewegen. Die Systeme sind gleichberechtigt, was durch eine doppelte gerichtete Verknüpfung im Kreis dargestellt wird.

2) Der Konflikt im Relevanzsystem des Art 17

Hier nun endet die Erzählung nach Schütz, und wir beginnen mit einem anderen Modell, dem Modell einer Hochschule, in der es drei Hörsäle gibt. Einen für thematische Relevanz, einen für Auslegungsrelevanz und einen für Motivationsrelevanz. In dieser Hochschule wird gerade das aktuelle Thema „Upload-Filter zum Zwecke der Urheberrechte (copy right)“  behandelt, und wir sind eingeladen zu hospitieren. Unser Horizont bei Upload-Filtern ist jetzt das Internet und kein Schlafzimmer mehr.

Wir beginnen mit dem Hörsaal für thematische Relevanz, und stellen fest, dass durchweg Parlamentarier und Politiker da  sitzen, ermattet und müde, die also gerne schlafen würden und nunmehr ein Knäuel in der Ecke des Hörsaals liegen sehen, einen Gegenstand, den manche Leute „Upload-Filter“ nennen. Andere lehnen diese Bezeichnung ab. Die thematische Relevanz zum so genannten „Upload Filter“, sagt uns die Mehrheit im Hörsaal, die steht in Art. 17 unserer Richtlinien. Bloß das Wort „Upload -Filter“ wird überhaupt nicht erwähnt. Auf der Tafel im Hörsaal sehen wir noch den Anfang von Art. 17 (pdf 1). Da stehen so Begriffe wie „online content-sharing service provider“, das sind die Internet-Plattformen, und „Copy Right“, das sind die Urheberrechte der Rechteinhaber (rightholder), die von den Plattformen erworben werden müssen, wenn die Plattform Zugänge für ihre Nutzer bereitstellen will. Es geht darum, dass die Rechteinhaber ordnungsgemäß vergütet werden.

Es liegt im Hörsaal auch sehr viel Material zum Art.17 herum, auch so kritische  Schriften, die das Thema behandeln, wie Upload-Filter in der Richtlinien verhindert werden müssen. Dass im Text von Art. 17 der inkriminierte Begriff „Upload-Filter“ nicht vorkommt, tut logisch nichts zur Sache, wenn der Terminus „Upload –Filter“ auch durch eine Kennzeichnung (definite description) festgelegt werden kann. Zu prüfen bleibt logisch nur, ob eine potentielle Kennzeichnung oder gar eine echte Kennzeichnung vorliegt. In der kritischen Schrift wird behauptet, dass eine Kennzeichnung des Terminus „ Upload-Filter“ zweifelsfrei möglich ist. In der kritischen Schrift wird die heutige Methode „Notice and take away“ akzeptiert. Diese „manuelle“ Methode ist ganz einfach. Ich melde einen Regelverstoß in meiner Angelegenheit, und die Plattform ist verpflichtet, den Verstoß zu entfernen. Mit Upload-Filtern soll das automatisch gehen. Mit „Upload-Filtern“ ist, wie man leicht erkennt, eine Theorie verbunden. Das simple „Notice and take away“ ist hingegen theoriefrei.

Wir gehen weiter und besuchen nunmehr den Hörsaal für Auslegungsrelevanz. Da sitzen nun Leute, die einen Knäuel oder einen Filter zu untersuchen und zu spezifizieren in der Lage sind. Beim Knäuel ging es um Material, Gewicht und weitere technische Eigenschaften. Die Neugierde des Mannes sollte befriedigt werden. Wir sind auch neugierig und wollen wissen, wie so ein Filter funktioniert. Nach Schütz tut man das über „frühere Erfahrungen, die einen gegenwärtigen zu handelnden Wissensvorrat ausmachen“. Dieser Wissensvorrat ist die Basis der Auslegung, d.h. eines möglichen Verständnisses von Filterungen in Online-Systemen. Ist ein Filter lediglich eine Sperre, die nur lizensierte Information durchlässt, wird dabei nur syntaktisch im Listenvergleich nach unpassende Wörtern gesucht, die einen Ausschluss bewirken, oder steht eine logisch komplizierte semantische Analyse zur Debatte, die deutlich im Unscharfen (fuzziness) landen kann. Der Hörsaal „Auslegungsrelevanz“ ist für uns mit großen Abstand der interessantes, was uns jetzt bestätigt wird, wenn wir nunmehr den dritten Hörsaal für Motivationsrelevanz betreten.

Unserem Mann in einem dämmerigen Schlafzimmer ist beim Anblick eines Knäuels mulmig zumute. Der Gegenstand könnte auch eine Schlange sein. Er ist versucht, nach einem Stock zu greifen, um durch Schlagen herauszufinden, ob der Gegenstand lebt.  Furcht motiviert ihn, so zu handeln. Wenn Furcht in Panik umschlägt, geht bekanntlich die Vernunft verloren.  Schütz spricht auch bei der Motivationsrelevanz von Um-zu- und Weil-Motiven. Es gibt Motive oder Beweggründe, um zu handeln. „Um-zu“ leitet finale Nebensätze ein. Finalsätze beschreiben eine Absicht, einen Zweck oder ein Ziel. Die  kritische Schrift  „Weshalb der Upload-Filter verhindert werden muss“ steckt voller Motive  mit Verhinderungshandlungen. Z.B. ist da von „Overblocking“ die Rede.  „Overblocking“   liegt z.B. dann vor, wenn ein zu genau eingestellter Filter auch Seiten sperrt, die völlig harmlos sind. Das wird dann Zensur genannt und ist in einer Demokratie als Kern einer Motivationsrelevanz anzusehen. Oder im Bilde von Alfred Schütz: Das Knäuel, auf das der Mann in seinem Schlafzimmer (sein Horizont) mit einem Stock schlägt, bewegt sich auf einmal.

3) Überwinden der Relevanzkonflikte durch ordentliche Wissenschaft.

Aus der Debatte über die Kernenergie kennen wir die Wucht einer Motivationsrelevanz sehr genau. Es kommt mit der Kollektivangst etwas Emotionales hoch, das nicht mehr zu kontrollieren ist. Volksverführer und Demagogen beherrschen das Feld. Für einen, der einmal Energie- und Kernreaktortechnik studiert hatte (Abschluss 1960), waren die mittlerweile von vielen als übereilt angesehenen Beschlüsse der Bundesregierung schmerzhaft. Was nützt es da, wenn jetzt schon  vorauszusehen ist, dass im Anblick der Klimafalle das nicht ordentlich behandelte Problem, der Gegenstand wieder hochkommt, weil er  eben nicht ordentlich wissenschaftlich behandelt wurde. Das darf nicht wieder passieren. Der höchste Wert einer Wissenschaft ist ihre Genauigkeit, die man schon an ihrer Sprache (Terminologie) erkennt.

Was wir jetzt zur Überwindung des Relevanzkonfliktes machen können, ist folgendes: Wir laden alle drei Hörsäle in den Hörsaal „Auslegungsrelevanz“ zu einem gemeinsamen Meeting ein. Vorher studieren wir aber noch einmal Material zum Thema „Konflikte und Kompromisse“. Da steht u.a., dass es öfters  hilfreich sein kann, wenn ein Dritter D hinzukommt, der die Kampfhähne zusammenbringt, (Kampfhahn:„ Um Gottes Willen nichts gemeinsam  von uns A mit denen da drüben, die von B, also ¬ (A∧B)“). Zur Debatte gestellt wird von dem Dritten D das wissenschaftliche Thema „Wie werden Upload-Filter gebaut?“ Dann erfahren wir systematisch etwas Genaueres über Primitivfilter oder einfache Sperren, bis hin zu den Möglichkeiten des Einsatzes von „Mechanical  Reasoning“ in  einer Künstlichen Intelligenz (KI).

Wir kommen dann wahrscheinlich im Stoff sehr schnell zu einer Typologie von Filtern: F1, F2 …Fn, um dann zum Thema der Einsatzfelder der verschieden Filtertypen überzugehen.  Das kann alles letztendlich „sine ira et studio“ in Diskussion geschehen. Denn Wissende und die sich um Wissen bemühen diskutieren und kritisieren des Fortschrittes wegen und können ihr eigenes Ego zurückstellen.  Wer sein Ego und seine machtpolitische Position im Vordergrund sieht und im Emotionalen weiter verharrt, der sollte an dem Meeting im Hörsaal  „Auslegungsrelevanz“ besser nicht teilnehmen oder das Meeting schnell  wieder verlassen, weil er nicht auf seine Kosten kommt.

Das ist hier nun das Relevanzsystem des Phänomenkomplexes „Upload-Filter im neuen Urheberrecht“. „Phänomenkomplex“ ist ein Ausdruck von Schütz.

Auf ähnlicher Weise ließen sich die folgenden Gegenstände, die uns heute vorgeworfen werden, behandeln: Klima, Brexit, Asyl, Energiewende, Finanzsystem, Glyphosat, Diesel und diverse mehr. Erheblichkeiten haben auch eine enorme Anziehungskraft für’s Entertainment. Unser Leben scheint dank des Internets nur noch aus ihnen zu bestehen. Man erkennt sehr schnell eine Typizität, wie Schütz statt Schemabildung sagt. In diesen Bemühungen um Typisierung kommen die  Sozialwissenschaften als Phänomenologie der Informatik sehr nahe. Wehe, wenn es bei konträren Relevanzsystemen keine ordentliche Wissenschaften gibt. Furcht und Schrecken, „crainte et terreur“, bestimmen sonst das Bild in den Straßen. Man sieht, wie wichtig auch Sozialwissenschaften in Zukunft sein werden. Die neuere Ratlosigkeit in den Geisteswissenschaften muss schnellstens überwunden werden, sagte uns auch Paul Lorenzen.“ Wenn überhaupt, dann sind drohende Katastrophen nur durch eine schnelle Reform der Geisteswissenschaften vermeidbar“, schreibt er in „Diesseits und Jenseits von Idealismus und Realismus“ (S. 214) in: Peter Janich (Hrsg.): „Entwicklungen der methodischen Philosophie“ (1992), Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.

 

2 Kommentare zu „Ein Relevanz-Problem,dargestellt an Upload-Filtern im Urheberrecht

  1. Könnten Sie folgende beiden Fragen beantworten:
    (1) Sind Upload-Filter zwingend notwendig, will man Zweck der EU-Richtlinie erfüllen?
    (2) Führen Upload-Filter unbedingt zur Zensur des Inhalts?

    1. Ich antworte sehr gerne (ein bisschen formal, so wird es klarer):

      Zu1)
      Wir sind im Zustand A (Richtlinientext Art.17) und wollen übergehen (—->) in den Zustand B (Upload Filter), also A —->B.
      Es ist aus dem Text nicht zu erkennen, dass dieser Übergang notwendig ist. Also: —|–>B mit dem Zeichen | als Sperre. Juristen sagen : Eine „conditio sine qua non“ ist nicht gegeben.
      Wir sind im Zustand B (Upload Filter) und wollen übergehen (—->) in den Zustand A (Richtlinentext Art.17), also: B —->A. Es ist zu erkennen, dass dieser Übergang hinreichend (sufficien) ist. Es steht nichts dagegen. Juristen sprechen von einer „condition per quam“. D.h. doch: Filter dürfen gebaut und eingesetzt werden
      Wir halten fest: A—|–>B und B—->A gelten.

      Zu 2)
      Die Argumentation ist ähnlich, wenn ich Art.17 betrachte:
      Der Übergang von A (Upload Filter) zu B ( Zensur) ist nicht notwendig:
      A—|–B.
      Die Umkehrung von B (Zensur) zu A (Upload Filter), B—->A, die hinreichende Bedingung, gilt aber. Der Übergang ist zulässig.

      Es müssen somit andere Normen herangezogen werden, die diesen Übergang verbieten. Die Normen müssen auch sagen, wie sie eine Kontrolle implementieren wollen. Das macht man in Ausführungsbestimmungen, die ersichtlich technischer Natur sind. Da geht’s zur Sache.Schluss mit lustig.

      Ihr
      H. Wedekind

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