Konventionen

1) Dressurakte

Wie bei den meisten Menschen, so ist das auch bei mir. Vom morgendlichen Aufstehen bis zum Abend laufen zum ganz großen Teil Konventionen (Übereinkünfte) ab, die ich mir als Regelwerk selbst zugelegt habe oder die mir auferlegt wurden. Konventionen sind wichtig, damit der Tagesablauf flüssig von statten geht. Herein geplatzte Ereignisse, die einem widerfahren und für deren Behandlung es keine Konvention gibt, halten auf, sind manchmal aber hoch interessant, häufig auch sehr unangenehm. Effektive Organisationen leben von Konventionen, ohne sie läuft fast nichts. Konventionen gehören nach Peter Janich zur „methodischen Ordnung“ unseres Lebens. Dass wir erst unsere Strümpfe anziehen und dann unsere Schuhe, ist ein Element unserer methodischen Ordnung (Peter Janich). Man kann es mit  Schuhen und Strümpfen auch mal andersherum versuchen; die Folgen sind sehr schnell zu sehen.

Einen Höhepunkt an Konventionen erlebe ich, wenn ich vor meinem Rechner sitze und auf dem „desktop“ eine Fülle von Symbolen (Bilder, Ikone, Piktogramme, Textfragmente, etc.) schaue, die alle ihre Bedeutung haben und sachgemäß und konventionell behandelt werden wollen. Schauen wir bei den Philosophen rein, so werden wir unterwiesen, dass Konventionen Festsetzungen sind, die vernünftig zu sein haben; Willkürliches  und Widersprüchliches  ist auszuschließen.

Man stellt schnell fest, dass es gar nicht so einfach ist, vernünftige Konventionen (Festsetzungen) als solche zu erkennen. Früher als ich mich noch mit hierarchischen Datenbanken befassen musste und ich die Frage stellte, warum gerade 17 Stufen als Maximum festgelegt worden waren, bekam ich mit Schulterzucken zur Antwort: „ It’s how they did it“. Spöttisch wurde dann  allgemein der Begriff „ How – they – did – it – approach” eingeführt, wenn Willkür (arbitrariness) gemeint war. Von einer begründenden Vernunft war keine Spur zu bemerken. Und so ist es dann in der Datenverarbeitung (EDV) und der späteren Informatik, auch häufig IT genannt, geblieben. Viel pure Konvention. Und man wird häufig an Goethe erinnert, der seinen Faust in einer berühmten Szene über den heranspringenden Pudel (das ist der Mephisto, der Teufel) sagen lässt:“ Ich finde nicht die Spur von einem Geist und alles ist Dressur“.  Bin ich dressiert, sind wir alle dressiert? Ja sicherlich, würde der Philosoph sagen, es sei denn, du kannst eine Begründung anführen, die dich aus Willkür und Widerspruch herausführt. Du sollst  vernünftig sein und begründen können! An-Dressiertes langt als Begründung nicht. An-Dressiertes wird im „How – they – did – it – approach“ erworben und alles bleibt rätselhaft.  Etwas vernünftig Festgesetzes  bedeutet Gewinn, ist nachhaltig (sustainable) und an folgende Generationen   übertragbar. Mit 17 Stufen in einem Datenbanksystem kann ich der folgenden Generation nicht mehr kommen. Die macht mich zum Opa, der seinen  alten Quatsch erzählt. Sage ich aber, die 17 Stufen mussten eingeführt werden, weil die Speichertechnik damals so aussah, wie sie aussah, und dass mehr Stufen entwurfstechnisch bei den Modellannahmen  nicht zugelassen werden konnten, dann steckt in der Begründung ein Stück Rechnergeschichte, die belehrend ist. Die Jugend lernt auf diese Weise, dass nicht alles  in einem „How – they – did – it“ vom Himmel  ist gefallen ist und hütet sich, Radau zu schlagen, weil sie ja begründen lernt. Einer, der  begründen gelernt hat, macht keinen Radau. Begründen ist  viel zu schwierig, um richtig laut  werden zu können. Wenn einer in seiner Begründung laut wird, dann regt er sich über die Dämlichkeit der anderen auf. Ihm platzt die Hutschnur, was menschlich ist. Meinen Desktop vor mir der Jugend in zehn Jahren als „How – they – did – it“ zu verkaufen, würde in Gelächter und Spott landen.  Man erkennt, Geschichte sollte  betrieben werden, weil es ein Begründungsreservoir für uns darstellt, in das man häufig hineingreifen sollte. Die randalierende Jugend von heute protestiert gegen eine stupides „How – they – did- it“ und hat keine Ahnung von dem, wie es geworden ist. Man sollte  der Jugend das aber auch sagen. Das ist eine erzieherische Aufgabe. Denn Verstehen heißt bekanntlich, Verstehen wie es geworden ist (Schnädelbach). Unter unseren Vorfahren gab es geniale Typen in großer Zahl, denen wir dankbar sind. „Dankbarkeit als eine kulturelle Tugend“ scheint unserer Jugend, die scheinbar alles hat, entglitten zu sein, wie im Blogbeitrag  „Trägerkultur und Dankbarkeit“  näher ausgeführt wird.

Es gibt den „How-they-did-it-approach“ aber  auch anderswo, nämlich in einer so honorigen Wissenschaft wie der Physik. Als  ich  noch als  junger Mensch durch Amerika fuhr,  gab‘s dann im Radio Nachrichten wie diese: „ LA (Los Angeles) hat 100° “. Die kochen mal wieder, dachte man als Europäer schmunzelnd, wohlwissend, dass 100 °F (Fahrenheit) gemeint waren. Die Umrechnungsformel  in unsere °Celsius hatte man im Kopf, nämlich [°C =  (°F  – 32) * 5/9].

Es waren also rund (100 – 32)  *1/2 =  34 °C. Das ist manierlich im sommerlichen Südkalifornien. Dass wir es insbesondere bei der Einführung der °Fahrenheit mit einem ziemlich willkürlichen „ How – Fahrenheit – did – it“ zu tun haben, ist bekannt. Fahrenheits Festlegung  bestand in einer späteren Interpretation darin, einen  Nullpunkt auf  32°F zu fixieren. Das erkennt man aus der obigen Gleichung sofort. Es gilt: 32°F = 0°C, und die Klammer verschwindet.

Fahrenheit (1686-1736) hat in der Temperaturmessung  und Skalierung trotz seiner Willkür  große Verdienste erworben. Er war Pionier, und Pioniere haben auch ihre Ratlosigkeit; jedoch im Drang  vorwärts zu kommen, sind sie ratlos. Es war dann der Schwede Anders  Celsius (1701-1744), der die Festsetzung eines  Fahrenheit  auf die Vernunft brachte und eine begründete Temperaturskala erfand. Die Welt, die uns umgibt, besteht zu rund  70% aus Wasser, das bei Normaldruck einen Gefrierpunkt und einen Siedepunkt hat. Wasser ist  also etwas Universelles. Den Gefrierpunkt legte Celsius  mit 0 °C und den Siedepunkt mit 100 °C fest, weshalb die Amerikaner  heute auch parallel zu Fahrenheit  von „Centigrades“ sprechen. Als Messmittel nahm Celsius Quecksilber; das hatte er von Fahrenheit gelernt. Zwischen 0 °C und 100 °C machte er 100 Striche und damit war 1 °C definiert.

Das, was Celsius uns vortrug, das war begründete Vernunft, fast ohne Willkür. Die Willkür, (noch an Wasser gebunden) in der Temperaturmessung  verschwand erst später vollständig, als man in der theoretischen Thermodynamik den absoluten Nullpunkt  ermittelte. Es war  William Thompson, der spätere Lord Kelvin (1824-1907), mit seinen Kelvin Graden  °K, dem es gelang, den Celsius-Nullpunkt um begründetet  – 273,15  °C zu verschieben:

°C = °K + 237,15 oder °K = °C – 237,15.  Mit °K  war dann eine  Vollbegründung erreicht, an der man Vernunft lernen kann. Besser geht es nicht. Oder? Vernunft ist also auch eine Frage einer langsamen, stetigen Entwicklung.

2) Vernünftige Konventionen

In „vernünftige Konventionen“ ist das Adjektiv  „vernünftig“ das Wort mit den größten Schwierigkeiten und Problemen. Große Teile der klassischen  Philosophie, insbesondere nach Kant (1724 -1804) hat sich mit dem Begriff „Vernunft“ auseinandergesetzt, (mit einigem Erfolg).

„Philosophie ist der methodische und beharrliche Versuch, Vernunft in die Welt zu bringen“

sagte Max Horkheimer (1895- 1973), einer der Begründer der Frankfurter Schule, in seiner Schrift:  „Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie“ (1940). In der Tat: Vernunft ist kein sichtbares Objekt und kein unmittelbarer Gegenstand unserer Erfahrung. Vernunft ist nicht immanent, also nicht innewohnend. Sie übersteigt uns oder wir müssen uns selbst übersteigen (transzendieren), um Vernunft  hinter  Sichtbarem  zu erkennen. Am besten ist, man klärt zunächst, was Unvernunft ist und formuliert einen Satz  mit „unvernünftig“ als eine  Brücke zur Vernunft hin:

Wenn einer unlogisch ist,  dann ist er auch unvernünftig.

Die besondere Bedeutung der Logik in unserem Leben wir auf diese Weise herausgestellt. Und was ist nun Logik?  Antwort: Logik ist ein  umfangreiches Regelwerk, dem wir folgen sollen. Beachten wir dieses Regelwerk nicht, werden wir unlogisch und werden nach dem obigen Satz unvernünftig. Eine Regel in dem Regelwerk lautet z.B.: Erst die Strümpfe und dann die Schuhe anziehen. Ein Verstoß gegen diese Regel ist ja  noch ein  kleiner Fisch gegenüber einem Verstoß gegen die  bekannte Widerspruchsregel, die da lautet: „Eine Aussage kann nicht zugleich wahr und falsch sein“, u.a. auch  eine Ermahnung an die Politiker. Das ist eine Grundregel des Teils der  Logik, der seit Kant Formale Logik genannt wird. Wer sich widerspricht, landet im Falschen und daraus folgt  dann beliebig Unvernünftiges. Schlimm ist auch, wenn man das Regelwerk über Bord wirft und  regellos, d.h. willkürlich handelt. Nur Pioniere dürfen das. Willkür und Widerspruch  sind  für  jedes ordentliche  Gericht ein rotes Tuch, weil ein Gericht in einer Rechtsstaatlichkeit keine Unvernunft zulassen kann. Unvernunft ist eine Gefahr für die staatliche Ordnung, wie uns die „failed states“ in aller Welt  laufend drastisch vor Augen führen. Die machen es wie „Pfarrer  Nolte, und der machte es, wie er es wollte“, sagten wir früher.