Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

– Ein kleines Brevier zur Logik für die Bundesregierung –

Vorbemerkung: Das Wort „Brevier“ wird hier nicht im Sinne eines Kurzgebetes für katholische Geistliche verstanden, sondern in der anderen Bedeutung, nämlich als ein kurzer praktischer Leitfaden. Ferner muss hervorgehoben werden, dass ein Verstoß in Sachen Logik in einem Urteil in der Jurisprudenz ohne wenn und aber (no ifs and buts) ein Revisionsgrund ist, d.h. das Urteil wird einer Revisionsinstanz zur Überprüfung der logischen Fehler zugestellt. Unsere Politik ist nicht allzu weit entfernt von der Jurisprudenz, die in einem Rechtsstaat seit der Aufklärung neben der Exekutive und Legislative in Form der Judikative eine dritte zentrale Bedeutung hat.

1) Gerechtigkeit und Barmherzigkeit stehen konträr zueinander

Gerechtigkeit basiert auf dem Prinzip der sozialen Gleichheit aller Menschen, als „egalité“, als Gleichheit vor dem Gesetz ein Produkt der revolutionären Aufklärung. Das übereinstimmende Gleichheitsmerkmal, nach dem in der Logik zum Begriff „Mensch“ hin abstrahiert wird, ist seit alters her die Vernunft (ratio). Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen. Ob eine Abstraktion eine Verdichtung oder Verdünnung ist, darüber wird an anderer Stelle in unserem Blog berichtet. Das Problem verdünnender oder verdichtenden Abstraktionen soll hier nicht diskutiert werden, weil es nicht zum Thema gehört. Der umgekehrte Vorgang, also vom Begriff zu seinen Repräsentationen, wie z. B. Mann oder Frau, wird in der Logik Konkretion genannt. Bei der Behandlung von Privilegien (Sonderrechten) werden wir auf die Konkretion des Begriffs „Mensch“ zu sprechen kommen.

Barmherzigkeit (misericordia) „ist eine Eigenschaft des menschlichen Charakters. Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz fremder Not und nimmt sich ihrer mildtätig an“. „Die Gerechtigkeit schaut auf die Sache, sie ist sachbezogen, Barmherzigkeit auf die Person, sie ist personenbezogen“ (Thomas von Aquin, „Summa theologica“ (I.21, 3 ad 2).

Die Unvereinbarkeit (Unverträglichkeit, Inkompatibilität) von „gerecht“ und „barmherzig“ wurde mir zum ersten Mal bei der Lektüre von Paul Lorenzens Aufsatz „Logik und Grammatik“ (1965) vor Augen geführt. Es ging bei Lorenzen um die Frage, wie Prädikatoren (Begriffswörter) in ihrer Bedeutung bestimmt werden. Lorenzen gibt Beispiele für konträre Wörter an:

  • „Wer gerecht ist, ist nicht barmherzig“.
  • „Was rot ist, ist nicht grün“

Das zweite Beispiel ist für die Lehre sehr günstig gewählt. Man trägt die Worte der Hauptfarben Rot, Gelb, Grün, Blau an einem Kreis auf. Rot oben, wie Goethe das schon wollte, und dann in steigender Frequenz gegen den Uhrzeigersinn Gelb, Grün und Blau, so dass Rot und Grün gegenüberliegen, wie auch Gelb und Blau.

Man nennt die gegenüberliegenden Paare Komplementärfarben, weil sie zusammen gemischt Weiß ergeben. Ein grünliches Rot oder ein rötliches Grün kann es nicht geben und wir erfahren bei Lorenzen in seinem Aufsatz „Rationale Grammatik“ (1980), dass Schopenhauer gefordert hat, ein Buch eines Kollegen polizeilich zu verbieten, in dem ein „grünliches Rot“ erwähnt wurde. Schade, dass die Polizei nicht für Semantik verantwortlich ist. Komplementär heißt es bei Farbwörtern, allgemeiner konträr bei Begriffen. Auch beim Erwähnen einer „barmherzigen Gerechtigkeit“ oder einer „gerechten Barmherzigkeit“ könnte ein Staatsanwalt mit seinen Polizisten wenig ausrichten, weil diese Instanzen für die allgemeine Unvernunft der Bürger nicht zuständig sind.

Etwas formaler können wir die Unvereinbarkeit von „gerecht“ und „barmherzig“ wie folgt hinschreiben. „Wenn du gerecht bist, dann bist du nicht barmherzig“. Das Umgekehrte gilt auch: „Wenn du barmherzig bist, dann bist du nicht gerecht“. Wenn wir uns wie ein Mathematiker eine Menge gerechter Menschen und eine Menge barmherziger Menschen vorstellen, dann können wir sagen, beide Mengen sind disjunkt, haben nichts miteinander zu tun. Das nennt man gesellschaftlich ein Schisma.

Über die Unvereinbarkeit von „gerecht“ und „barmherzig“ nachzudenken, hat die Menschen in der Geschichte stark beschäftigt. Bei Jürgen Mittelstraß „Die Möglichkeit von Wissenschaft“ (1974) finden wir z. B. die folgende Bemerkung“ : Wenn es im Alten Testament etwa heißt, Jahwe sei barmherzig und gerecht, so muss die Behauptung dem modernen Leser so lange im Grunde unverständlich bleiben, als er nicht selbst in seinem Gebrauch der Prädikatoren „barmherzig“ und „gerecht“ über Beispiele verfügt, die eine solche Verbindung zulassen“. Das ist sehr höflich formuliert. Der Autor will damit sagen, dass die Bibel mit ihren „Jahwe ist barmherzig und gerecht“ vom logischen Standpunkt daneben liegt. Die Konjunktion „barmherzig“ und „gerecht“ ist leer. Man will doch hoffentlich nicht sagen „Jahwe ist leer“.

Gehen wir aber weiter in der Geschichte zurück, so ist kein geringerer als der große Thomas von Aquin (1224-1274) zu nennen, der den bekannten Wahrspruch formuliert hat: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit, Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung“. Der heilige Thomas fragt uns nach 800 Jahren, was wollt ihr modernen Menschen: Grausamkeit mit ihrer Gerechtigkeit oder Auflösung mit ihrer Barmherzigkeit? Keins von beiden, antworten wir verschreckten Menschenkinder, also weder Grausamkeit noch Auflösung. Das „weder… noch“ bedeutet aber logisch, dass wir eine Verneinung vornehmen bzgl. „gerecht oder barmherzig“ bzw. „Grausamkeit oder Auflösung“, also: ¬(Grausamkeit ∨ Auflösung) oder (¬ Grausamkeit ∧ ¬ Auflösung), oder: Wir wollen weder Grausamkeit noch Auflösung. Wir konstatieren: Die Frage des Heiligen Thomas von Aquin ist teuflisch. Es ist eine Frage ähnlich der Frage nach einer Todesart, die wir wählen können, wo wir doch leben und nicht sterben wollen. Ich hoffe, der Leser versteht den zeitnahen Zusammenhang. Denn unser Blog heißt ja: „Unsere Zeit in Gedanken fassen“. Wir sind gerade mächtig dabei, unsere Zeit mit alten Mitteln neu zu begreifen.

2) Der Ausgleich zwischen beiden und der zentrale Begriff des Privilegs.

Wenn ich in meine Parkgarage fahre, wimmelt es nur so von Privilegien oder Sonder- oder Vorrechten, um die Welt nicht ganz so grausam aussehen zu lassen. Da gibt es Parkplätze nur für Behinderte mit amtlichem Ausweis, für Frauen und für sonstige Personen, die durch ihre Autonummern gekennzeichnet werden. Die Personen haben es gut beim Einparken, während ich herumsuchen muss und beim Scheitern die Parkgarage zu verlassen habe. Privilegien sind personen-orientierte Rechte für Konkretionen (Repräsentanten) des Begriffs „Mensch“, die es nach der strikten Unterscheidung zwischen einer sachbezogenen Gerechtigkeit und einer personenbezogenen Barmherzigkeit eigentlich gar nicht geben dürfte. Das Wort „Privileg“ hat international einen schlechten Ruf, weil es auch willkürlich benutzt wird. Ich sehe noch auf meinem Zertifikat eines „Master of Science in Engineering“ (Berkeley 1962) die Worte stehen „… Master with all the rights and privileges thereto pertaining“. Was soll das? Welche Privilegien sind das? Dann weiter: Beim Erwerb eines Führerscheins in den USA bekam ich die Mahnung mit auf den Weg: „Driving a car is not a right, it is a privilege“. Was das Wort „privilege“ da soll, ist mir nie ganz klar geworden. Ich glaube, man meinte eine Gunst, die mir zuteil wurde. Ein Privileg ist aber keine Gunst, es sei denn, man lebt in einem Günstlings-Staat, wie das früher war. In Deutschland geht man nicht ganz so üppig mit dem Wort um. Man denkt sofort an früher, an einen Ständestaat und an voraufklärerische Herrschaftsformen in Monarchien. Privilegien wurden vererbt und gehandelt. Der demokratische Rechtsstaat hat aber gelernt, Privilegien und deren Vergabe strengen Rechtsvorschriften zu unterwerfen, also unter Auflagen das Personenbezogene der „Barmherzigkeitswelt“ herüberzuziehen in die „grausame“ Welt des Rechts und der Gerechtigkeit. Und trotzdem gibt es illegale Privilegien in großem Umfang. An die Adresse der verantwortlichen Bundesregierung: Es gibt in Deutschland z. Z. mehrerer Hunderttausend illegal eingewanderte und dann geduldete Flüchtlinge. Ein Riesenprivileg gegenüber den 60 Millionen herumziehenden Flüchtlingen dieser Welt, die bisher noch kein deutsches Erbarmen erreicht hat, aber noch erreichen kann. Illegale Privilegien, ein Merkmal eines Günstlings-Staats, für unkontrolliert eingewanderte Flüchtlinge mit Barmherzigkeit als Hintergrund sind nach den Worten des heiligen Thomas die Mutter der Auflösung. Es ist etwas in der Reihenfolge durcheinander geraten. Erst kommt die Frage nach Recht und Gerechtigkeit und dann die Frage nach rechtlich einwandfreien Privilegien. Erst kommt der Anblick der Grausamkeit im Sinne Thomas, und dann zwecks Behebung der Grausamkeiten die Privilegien, die unkontrolliert in eine Auflösung d. h. Katastrophe oder Chaos führen, auch wieder im Sinne des Heiligen Thomas von Aquin. Juristisch gesprochen gibt es also einen Revisionsgrund. Gibt es auch eine Revisionsinstanz? In einem Günstlings-Staat gibt es die Instanz nicht, auch wenn er behauptet, ein Rechtsstaat zu sein.