„Radikale Unsicherheit“ (radical uncertainty)

-Ein Aufstand gegen die mathematische Modellbildung in der Finanzindustrie-

 

1)  Radikale Unsicherheit und Widerfahrnis

„ Radical Uncertainty – Decision making for an unknowable future” ist ein kürzlich erschienenes, umfangreiches Buch von John Kay und Mervyn King  (ca. 500 Seiten). Kay ist ein ehemaliger Kolumnist der „Financial Times“ und King  ein ehemaliger Gouverneur  der Bank von England. Es handelt sich um eine komplette Darstellung des Phänomens „Unsicherheit“, das von „Ungewissheit“ abzugrenzen ist. Die Unterscheidung ist ähnlich wie bei „Furcht“ und „Angst“. Furcht ist das Spezifizierte, Angst das Allgemeine. Ungewissheit verweist auf das Schicksal (fate). Im Zentrum des Buches steht die ökonomische Unsicherheit im Sinne der Knightschen Unsicherheit,  die nicht messbar ist  und  von dem, was Knight Risiko (Wagnis) nennt, abgegrenzt wird. Für quantifizierbare Risiken stehen eine Wahrscheinlichkeitstheorie und eine angewandte Statistik zur Verfügung, die aus der Mathematik heraus entwickelt wurden. Glückspiele waren der Ausgangspunkt der mathematischen Betrachtungen. (Siehe z.B. die Schrift von R. Inhetveen: „Wie kam der Zufall in die Mathematik“ pdf).

Es ist erstaunlich, dass es den Ausdruck „ Widerfahrnis“ im Englischen nicht gibt. Im Blogbeitrag „Widerfahrnis und Handlung“ vom März 2016 weise ich darauf hin, dass im deutschsprachigen Raum sprachgeschichtlich der Begriff „Widerfahrnis“ aus der Lutherschen Theologie hergeleitet werden kann. Versuche ich einen Luther-Satz z.B. “Die Gnade Gottes widerfährt dem Menschen“ ins Englische zu übersetzen, so kommt heraus „ The grace of god is happening to men“. „Happening“ im Englischen  deutet auf ein Ereignis hin. Wie der Philosoph Wilhelm Kamlah  (1905-1976) mehrfach hervorgehoben hat, ist Widerfahrnis  aber als Unverfügbarkeit (engl. unavailability) zu deuten. Und das ist ein permanenter Zustand und kein Ereignis. Natürlich kann „Widerfahrnis“ auch als Ereignis gedeutet werden. Es gibt in unserem Leben, Kamlah folgend, „erfreuliche“ oder „widrige“ Ereignisse, oder Widerfahrnisse können „gut“ oder „schlimm“ für uns sein. Beim Tennis wird deutlich, „dass Handlungen des einen Widerfahrnisse für den anderen sind“ (Kamlah, S. 37).

Wer von „radikaler Unsicherheit spricht“, der meint Unverfügbarkeit. „Verfügbar A“, das wissen wir aus der Modallogik (Lorenzen), lässt sich auflösen in eine Konjunktion „Erreichbar A ∧ Vermeidbar A“.  Für die Verneinung „Unverfügbar A“ gilt dann:

„Unverfügbar A“ ↔ Unerreichbar A ∨ Unvermeidbar A

Wenn etwas unverfügbar ist, dann ist es unerreichbar oder unvermeidbar.

Das Erreichen des  Mount-Everest-Gipfel  geht für mich nicht. Der Gipfel ist unerreichbar. Der Schneesturm, der mich überfällt, ist unvermeidbar. In beiden Fällen bin ich in einer unverfügbaren Welt. Wer radikale Unsicherheit oder Widerfahrnisse leugnet, den hat die Hybris befallen. Und für den gilt: „Hochmut kommt vor den Fall“.

In dem dicken Buch von Kay und King erfährt man nichts über Widerfahrnisse, obwohl sie das mit „radical uncertainty“ meinen. Aber das Buch war für Thomas Mayer, Chefvolkswirt der Vermögensverwaltung Flossbach von Storch der Anlass, eine beachtliche Artikelserie in DIE WELT zu .starten, die uns wieder der Finanzwelt zurückgeführt hat:

  • „Wie die ‚radikale Unsicherheit‘ an den Rand gedrängt wird „ vom 21.7. 2020
  • „Warum die moderne Geldpolitik scheitern muss“ vom 31.7. 2020
  • „Warum die Finanzwelt stets aufs Neue scheitert“ 18.8.2020
  • „Warum wir wahre Bedrohungen ausblenden „ 28.8.2020

Das ist starker Tobak, der mich aufgerüttelt hat. Das ist die zitierte Hybris, die Thomas Mayer anprangert und die schon in der Finanzwelt nach seiner Meinung zu erheblichen Störungen geführt hat. Unterstützt werden die WELT-Artikel  durch drei interessante Bücher von Thomas  Mayer:

  • „Die neue Ordnung des Geldes“, Finanzbuch Verlag 2015, 252 Seiten
  • „Die Ordnung der Freiheit und ihre Feinde“- Vom Aufstand der Verlassenen gegen die Herrschaft der Eliten, Finanzbuch Verlag 2019, 2 Aufl. 138 Seiten
  • „Die neue Kunst Geld anzulegen – Mit Austrian Finance zu einem besseren Portfoliomanagement“, Finanzbuch Verlag 2016, 239 Seiten

Das Gesamtwerk von Mayer hier zu kritisieren, ist mir nicht möglich. Er provoziert und da müssten sich Finanzfachleute zu Wort melden. Denn die haut er kräftig  in die Pfanne. Das darf man in Business und Politik. Akademisch gilt so etwas als unfein. Ich kann mir halt nur das vornehmen, wo ich mich  mit  meiner Vergangenheit provoziert fühlte.

2)  Markowitz, der Fels in der Finanzwelt, und ein Teil  meiner  Biografie

1961-1962 war ich Student des Operations Research (OR oder Mathematische Planungsforschung) an der Universität in Berkeley (Cal). Im Zentrum meiner Studien stand die interessante Forscherpersönlichkeit George B. Dantzig (1914-2005), der ich sehr viel  in meiner Entwicklung verdanke. Dantzig kam 1960 nach Berkeley.  Zuvor hatte er seit 1952 bei der RAND Cooperation, ein Think Tank, in Santa Monica gearbeitet. Und bei Rand war auch Harry M. Markowitz (*1927), mit dem er die mathematische Theorie des „portfolio selection“ entwickelte. Draußen, außerhalb von Berkeley,  im Vorort Richmond, gab es ein weiteres Dantzig- Institut, wir nannten es die Richmond Field Station. Ganz vorne im  Dantzig -Institut prangte ein Schild: „ Decision making in face of uncertainty“, ein Forschungsprogramm. Man wusste somit, dass hier auch Herr Markowitz zu Hause war. Denn die Zusammenarbeit Dantzig-Markowitz bei RAND war sehr intensiv. Wir Schüler haben es dann später  auch nicht verstanden, dass Markowitz den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1990 bekam und unser Dantzig nicht. Markowitz und Dantzig schufen noch bei RAND eine umfassende Geldanlagetheorie,  nämlich das optimale Portfolio Selection über ganze Finanzmärkte hinweg. Thomas Mayer schreibt in einem seiner  Artikeln anerkennend:  „Markowitz eröffnete den Wirtschaftswissenschaften nicht nur einen neuen Forschungsbereich („Modern Finance“), sondern revolutionierte auch die Finanzwelt.“. Das stimmt. Denn wenn ich zu meiner Sparkasse gehe und mich über Vermögensverwaltung unterhalte, dann sind sogar die Sachbearbeiter einer Sparkasse beim Nennen des Namens „Markowitz“ entzückt. Markowitz hat der Finanzwelt das Denken Rendite (Ertrag, mean,μ) und Risiko (variance, σ) beigebracht. Es ist eine empirische Allaussage in Sinne Poppers, die falsifiziert werden muss, dass das Risiko σ mit steigenden Renditen μ monoton steigt. Siehe auch unseren vorherigen Beitrag über Rassismus  und die Bemerkungen  zu  empirischen Allaussagen à la Popper.

3) Die Kritik an der universellen Markowitz/ Dantzig – Theorie

Die Markowitz/ Dantzig schen Grundlagen verbreiterten sich in großer Geschwindigkeit in der Finanzwelt, weil diese Grundlagen rechnerfähig waren. In Sachen Digitalisierung steht die Finanzwelt an erster Stelle. Es würde hier zu weit führen, die Portfolio-Theorie ,oder wie setzt man ganz allgemein einen Wertpapierbestand (Portfolio) zusammen, darzustellen. Mich als  Operation Researcher aus Berkeley hat das gefreut, aber nicht weiter interessiert bis Thomas Mayer uns die Defizite aufzählte. Das Schlimmste Defizit für mich ist der negative oder Null- Zinssatz. Das ist pervers; und bedarf einer gesonderten Darstellung. Stattdessen ist der von Mayer vorgeschlagene  Austrian Finance Ansatz ausgesprochen sexy. Ich interpretiere seine Darstellung der Austrian Finance im Buche „ Die neue Kunst Geld anzulegen“ (Seite 189 ff) als Rucksackproblem (wieder ein klassisches Problem des OR), diesmal lässt es sich aber harmlos darstellen. Wir machen eine Wanderung und wollen unseren Rucksack möglichst optimal im Sinne der Nützlichkeit  füllen. Aus einer Menge von Objekten, die einen Nutzwert und, leider auch, ein Gewicht  haben, soll eine Teilmenge ausgewählt werden, wobei ein Gesamtgewicht als Beschränkung vorgegeben wird. Wir lösen  das Rucksackproblem  im Sinne der österreichischen Lehre des abnehmenden Grenznutzens nach Carl Menger  (1840-1921) und beginnen die Füllung damit, dass wir das relativ zu seinem Gewicht nützlichste Gewicht auswählen. Dann kommt das nächste Objekt in der relativen Nützlichkeitsrangordnung usw. Der Grenznutzen, der Übergang nimmt ab. Studenten wird die Grenznutzlehre mit dem Biertrinken erklärt. Das erste Bier schmeckt prächtig, wenn man durstig ist, das zweite schon weniger. Die Leistung der österreichischen Schule ist die Einführung der Marginalanalyse in die Ökonomie. Die in den Naturwissenschaften und Technik dominierende Differentialrechnung war übergeschwappt.

So steht dann eine universelle hochmathematische Finanztheorie auf der Grundlage von Markowitz einer individuellen, Mayer spricht von subjektiven Finanztheorie gegenüber.  Der berühmten Billiardär   Warren Buffet, dem zum 90. Geburtstag gratuliert werden kann, gehört zur Individuallehre. Er empfiehlt, Firmen am Kapitalmarkt in der Tiefe zu studieren, um dann herauszufinden, welche Aktien am Markt deutlich unterbewertet sind. Und die kauft man und wird reich. Aber ein bisschen Genie braucht man schon. „Intelligent Investor“ heißt der Ansatz, dem Warren Buffet gefolgt ist.