Ziemlich beste Freunde

Alle gucken EM! Den meisten fallen dabei Tore, zerrissene Trikots und Kabinettsstückchen auf. Mir fällt auch der Ball auf. Nicht bloß als Spielgerät.

Der Ball ist Symbol für eine musterhafte Hersteller-Lieferanten-Beziehung zwischen adidas und Covestro. Covestro sitzt in Leverkusen und baut die fünflagige Polyurethan-Hülle der Kickkugel. Gareth Bale (Star-Stürmer) und Iker Casillas (Torhüter-Legende) standen Pate beim zweijährigen Entwicklungsprozess. Covestro und adidas entwickeln schon seit über 30 Jahren zusammen Fußbälle. Das ist ungewöhnlich.

Vor allem, wenn man weiß, wie schnell in der heutigen Zeit oft Lieferanten ausgewechselt werden, sobald ein neuer Zulieferer auch nur drei Cent billiger aufs Stück liefert. Da sind 30 Jahre eine Ära. Und nicht nur das. Sie sind auch Hinweis auf exzellentes Supplier Management – so nennt die BWL die Beziehungspflege, die ein gewissenhafter Hersteller seinen Lieferanten angedeihen lässt. 30 Jahre sind keine normale Beziehung, sondern eine strategische Allianz.

In unseren dynaxen, dystopischen und disruptiven Zeiten vermittelt so eine wirtschaftliche Allianz Bedeutungsinhalte, die früher nur gesellschaftliche Institutionen vermittelt haben: Beständigkeit, Verlässlichkeit, Tradition, Werthaltigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Teamgeist. Das sind schöne Werte, aber streng genommen allesamt „außerökonomisch“, wie man/frau im Grundstudium lernt und deshalb ganz schnell wieder vergisst. Ist das zu empfehlen?

Anders gefragt: Warum sollte man seine Lieferanten gut behandeln, wo doch in Zeiten der Globalisierung erstklassige Zulieferer an jeder Weltecke auf den gewieften Supply Manager warten? Als Antwort darauf muss man noch nicht einmal gegen den Beau Jeu getreten haben (so heißt der EM- Ball, „Schönes Spiel“).

Es reicht schon, vor dem Fernsehapparat zu sehen, wie das Gerät am Fuß klebt (vgl. Draxler), sich zur Flanke biegt (vgl. Kimmich) oder beim Vollspannschuss in der Luft liegt wie ein gezogener Strich (vgl. Boateng). So eine Qualität bekommt man nicht, wenn man wegen drei Cent den Lieferanten wechselt. So eine Qualität erzielt man auch und gerade in Zeiten weit verstreuter und verzweigter Lieferantennetzwerke nur mit Partnern, die kein asymmetrisches Hersteller-Lieferanten-Verhältnis verbindet, sondern eine Beziehung auf Augenhöhe, eben echter Teamgeist.

Einmal abgesehen von den anderen, nun doch wieder streng ökonomischen Parametern: Geht die Lernkurve hoch, geht nicht nur die Qualität des Produktes mit, sondern auch die Kostenkurve runter. Wir alle kennen Economies of Scale. Was der Beau Jeu exemplifiziert, sind Economies of Relationship: Gute Beziehung – gutes Business. Oder wie Sepp Herberger, ein großer Supply Chain Manager seiner Zeit, gesagt haben soll: „Ihr sollt keine Hersteller und Lieferanten sein. Elf Freunde sollt ihr sein.“

Beim Fußball unterschreiben wir dieses (übrigens apokryphe) Dictum enthusiastisch. Im Business wird das leider ständig übersehen, unterschätzt und nicht nur von der operativen Hektik verdrängt. Sondern auch von der tendenziell unbeantwortet bleibenden Frage: Wie macht man denn das? In unserer entfremdeten Wirtschaft noch Freunde zu bleiben? Schön, dass gerade die EM läuft. Denn die Antwort auf diese Frage ist dieselbe wie die Frage nach der perfekten Fußballmannschaft. Was macht die aus?

Nicht so sehr die persönliche Klasse, denn selbst Star-Ensembles zerlegen sich oft und gerne auf dem grünen Rasen mit zeterndem Getöse selbst. Weil der Teamgeist fehlt. Weil man sich nicht blind versteht, sondern in Missverständnissen aufreibt. Weil die Kommunikation nicht auf Zuruf funktioniert, sondern per E-Mail-Marathon. Weil Einigungsprozesse nicht spontan ablaufen, sondern in 4-Stunden-Meetings. Weil man Konflikte verdrängt oder eskaliert, anstatt sie zu klären. Oder sind wir da unversehens vom grünen Rasen ins Business verrutscht?

Erstaunlich, was man bei so einer EM alles über Supply Chain Management lernen kann …