Güter gehören auf die Bahn

Die aktuelle Bundesregierung möchte 25 Prozent des Güterverkehrs bis 2030 auf die Schiene bringen. Spontan drängt sich die Frage auf: Wo stehen wir denn jetzt? Bei 19 Prozent. Sechs Prozent Steigerung in sieben Jahren? Das scheint machbar; vielleicht sogar eine leichte Übung. Bis wir den Trend betrachten.

Der Trend ist eigentlich keiner, sondern eher eine Horizontale: In den letzten 23 Jahren schafften wir gerade mal drei Prozent Steigerung. Warum sollte sich das jetzt ändern?

Weil jetzt die wirkmächtigste aller Wissenschaften eingreift, das Marketing (Ende der Polemik). Die Marketing-Strategen haben den Begriff vom „Deutschland-Takt“ geformt. Die Idee dahinter: Der Fahrplan soll sich nicht mehr nach der vorhandenen Infrastruktur richten, sondern umgekehrt die Infrastruktur nach dem gewünschten Takt. Konkret heißt das für die Bahn: mehr Züge, mehr Waggons, mehr Schienen, mehr Güterverkehr und das schneller und pünktlicher.

2018 wurde der Deutschland-Takt vorgestellt. Damals schätzte man für dessen Realisierung zehn bis 20 Jahre. Im ZDF hat Staatssekretär Michael Theurer Anfang März diesen Zeithorizont nach oben korrigiert. Danach werde es eher bis 2070 dauern. Auf den daraufhin einsetzenden Aufschrei korrigierte er seine Aussage in einem Interview mit der Augsburger Allgemeine und zog rasch 22 Jahre von seiner Prognose ab. Was soll man dazu sagen? Die LNG-Terminals haben wir im neuen Deutschland-Tempo geschafft; den Deutschland-Takt schaffen wir dagegen nicht im Deutschland-Tempo. Kein typisch deutsches Problem.

Denn innerhalb der EU liegen wir sogar leicht über dem Durchschnitt von 17 Prozent. Man ist versucht, keck die These aufzustellen: Wir könnten uns das für viele Wohnungs- und Hausbesitzer existenzbedrohend teure Verbot von Gas- und Ölheizungen sparen, wenn 80 Prozent aller Güter auf der Schiene transportiert würden. Dadurch würden sehr viel mehr Treibhausgase eingespart: Ein Güterzug stößt pro Tonnenkilometer sieben Mal weniger Treibhausgase aus als ein LKW. Doch ein deutlich gesteigerter Schienentransport würde, wie der Staatssekretär eben verlautbarte, noch runde 30 bis 50 Jahre auf sich warten lassen.

Das Heizungsverbot dagegen gilt schon ab nächstem Jahr. Es geht halt immer schneller, wenn man den Bürgern das verbietet, was der Staat nicht schafft. Möglicherweise ist dies das Geheimnis der Nachhaltigkeit: Man sollte sie zu hundert Prozent den Bürgern aufbürden und den langsamen Staat komplett raushalten (Ende der Polemik, Teil 2).

Das funktioniert nur leider nicht beim Güterschienenverkehr. Dieser ist praktisch per se ein öffentliches Gut, das ex definitionem vom öffentlichen Sektor zur Verfügung gestellt werden muss, falls man sich an seine ersten Vorlesungen in VWL erinnert. Seitdem die erste Schiene gelegt wurde, ist jedem klar: Im Vergleich zum LKW-Verkehr ist die Schiene grasgrün. Das lässt sich in Zahlen ausdrücken. Die externen Kosten des Straßentransports aufsummiert über Unfälle, Landschaftsverbrauch und Lärm betragen 4,5 Cent pro Tonnenkilometer – auf der Schiene lediglich 2 Cent. Weil die Schiene sicherer ist, weniger wetterabhängig und weniger anfällig für Staus. Außerdem ist die Schiene bereits zu großen Teilen elektrifiziert.

Man sollte meinen, dass aufgrund dieser Vorteile eine Entscheidung für die Schiene leichtfallen müsste. Das tut sie jedoch nicht. Im Gegenteil. Marginal erscheinende Nachteile verhindern bislang erfolgreich ein „Baltisches Wunder“ (s.u.) auch im restlichen Europa; um nur vier der Nachteile zu nennen: Schienentransport ist weniger flexibel, weil die Logistik sich nach einem fixen Fahrplan richten muss. Auf der letzten Meile braucht man bei fehlendem Fabrik-Gleisanschluss immer noch den LKW. Außerdem muss man im angeblich vereinten Europa beim Grenzübergang oft noch wegen unterschiedlicher Stromnetze die Lok und bei unterschiedlichen Spurweiten den ganzen Zug wechseln. Dazu kommen zu wenig Fachpersonal für zu viele Güter; zu viele Streiks und viel zu wenig Schienen.

Wegen der viel zu wenig Schienen gibt es Pläne, die Deutsche Bahn aufzuspalten in Bahnbetrieb und Schienennetz. Das wollen alle politischen Parteien plus GDL plus Fahrgastverband: Der öffentliche Sektor soll die Bereitstellung des öffentlichen Gutes wieder übernehmen und das Schienennetz für den Deutschland-Takt ausbauen, was nebenbei auch für mehr Wettbewerb auf der Schiene sorgen sowie die Kosten senken und das Angebot verbessern würde. Mal sehen, wie viele Jahre bis Jahrzehnte es wieder dauern wird, bis sich etwas absolut Sinnvolles durchsetzt, das wirklich alle wollen – bis auf das Bahn-Management und die Lobbyisten. Weitergehender Gedanke: Praktische Vernunft heißt so, weil sie in der Praxis selten vorkommt im Zeitalter der praktizierten Unvernunft. Wobei die Bahn dabei etwas schlechter wegkommt als sie ist.

Immerhin geht es in vielen Bereichen voran: Die ICE der 3. Und 4. Generation werden zum Beispiel derzeit ausgeliefert. Bis Ende der 20er-Jahre sollen 450 ICE fahren; das sind dann über 100 mehr als jetzt – laut Bahn zentrale Elemente des künftigen Deutschland-Takts. Auch der grenzüberschreitende Schienenverkehr wird aktuell optimiert und Mini-Schritt für Mini-Schritt EU-standardisiert. Die Rangierbahnhöfe werden digitalisiert, das Kuppeln der Waggons automatisiert, das Beladen der Güterzüge mehr und mehr maschinell erledigt.

Doch diese ganzen beachtlichen Fortschritte verblassen, wenn wir Estland, Lettland und Litauen und deren „Baltisches Wunder“ betrachten: Diese drei vorbildlich nachhaltigen Staaten transportieren 40 bis 63 Prozent ihrer Güter auf der Schiene. Da kann man nur neidisch gratulieren.

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