Rettet die Innenstadt!

In zehn Jahren (ab 2011) wuchs der Handel in deutschen Innenstädten laut Statistischem Bundesamt um 10,3 Prozent; der Online-Handel dagegen – was schätzen Sie?

Um 221,7 Prozent. Das sind Welten. Unmittelbare Folge: Die Zahl der Shopper in den Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen nimmt ab, doch trotzdem stehen viele Innenstädte kurz vor dem Verkehrskollaps, weil sie von den Flotten der Kleintransporter zugestellt werden, welche unsere Online-Bestellungen ausliefern. 2021 waren das hierzulande 4,1 Milliarden Paketsendungen. Das Problem dabei ist nicht deren Transport auf der Schiene oder Fernstraße, sondern auf der berüchtigten letzten Meile. Hier kommt der Grünfuchs ins Spiel.

Das ist ein Start-up aus Göttingen, das auch bereits in Leipzig und Magdeburg aktiv ist. Mit einem für eben die letzte Meile revolutionären Service: Nehmen wir an, ich kaufe in der Innenstadt drei Pullis und ein Paar Schuhe. Dann läuft der Grünfuchs quasi hinter mir her, sammelt meine Einkäufe ein und bringt sie mir am Folgetag an die Haustür. Der Vorteil liegt auf der Hand.

Würde ich nämlich wie die meisten Menschen heutzutage die Pullis und Schuhe online bestellen, dann würden diese im ungünstigsten Fall in vier Paketen mit vier verschiedenen Lieferdiensten angeliefert – was dreimal zu viel ist. Sammelt der Grünfuchs meine Einkäufe ein, reduzieren sich die Lieferfahrten auf ein Viertel. Das ist sehr viel nachhaltiger, schädigt Umwelt und Klima weniger und verpestet die Luft weniger. Es entlastet außerdem Straßen, Verkehr, Innenstädte und deren Parkplatzsituation. Außerdem unterstützt es den stationären Handel in seinem Überlebenskampf gegen unseren Online-Bestellkoller. Noch ein Plus: Der Grünfuchs liefert mit Lastenrädern und E-Autos aus, was ebenfalls Umwelt und Klima schont. Die letzte Meile wird grün. Man wünscht dem Start-up eine möglichste großflächige Verbreitung. Sein Service entlastet Klima und Umwelt beträchtlich – weshalb man in den Nachrichtensendungen nichts davon hört. Nur Bad News sind Good News.

Ein ähnliches Konzept verfolgt Pickshare, zum Beispiel auf dem Wochenmarkt in Münster: Du kaufst, die bringen’s! Wobei Pickshare diesen Service auch über die Innenstädte hinaus anbietet und sogar für Online-Bestellungen: Man gibt nicht mehr seine eigene Adresse an, sondern die von Pickshare, wo die Bestellungen gesammelt werden und dann eben gesammelt die letzte Meile ausgeliefert werden. Ebenfalls eine tolle Idee, die an Suchtkäufern jedoch spurlos vorübergehen dürfte.

Denn diese bestellen zittrig wie Süchtige auf Entzug nicht, um auf den nächsten Hit dann auch noch warten zu müssen. Sie wollen vielmehr alles und das sofort: „Ich will Immos, ich will Dollars / ich will fliegen wie bei Marvel / Ich hab‘ Hunger also nehm‘ / ich mir alles vom Buffet“ wie Nina Chuba in der offiziellen Suchtkonsum-Hymne rappt. Instant Gratification. Überfluss – jetzt! Null Wartezeit. Klima und Umwelt? Sollen sich die Politiker darum kümmern! Wieviel unserer Einkäufe fallen mittlerweile unter diese Art von Suchtkonsum? 80, 90, 120 Prozent?

Noch ein Start-up: Angel Last Mile. Diese „Engel der letzten Meile” buchen überschüssige freie Kapazitäten bei vorhandenen Lieferdienstleistern. Sie verursachen damit also keine Extra-Fahrten, sondern satteln ihre Fracht lediglich dort drauf, wo ohnehin noch Frachtraum übrig ist. Das Start-up kommt aus Hamburg und ist bereits in Berlin, Bremen, Dortmund und zahlreichen anderen großen deutschen Städten unterwegs. Doch medial wie politisch diskutiert werden stets nur die radikalen Brechstangen-Ansätze wie „ab 2035 keine Gas- und Ölheizungen mehr“ – so gut wie nie diese kleinen, sinnvollen, hoch effizienten Lösungen. Das Grundgesetz der Attention Economy: Diskutiert wird nicht, was sinnvoll, effektiv und effizient ist, sondern was Schlagzeilen bringt. Nachgerechnet wird schon zweimal nicht.

Denn dabei könnte herauskommen: Die letzte Meile verursacht zwar lediglich 15 bis 20 Prozent der Kosten einer gesamten Lieferkette, doch bis zu 66 Prozent von deren CO2-Emissionen. Da liegt also der Flaschenhals, der Single Most Important Factor der Nachhaltigkeit einer Lieferkette, der größte Hebel. Weil sich hier alles verzettelt und verzigfacht. Wenn wir also schon unseren Konsum nicht zügeln können, dann könnten wir ihn zumindest in der Auslieferung grüner gestalten. Falls uns das wichtig sein sollte – was immer noch nicht raus ist. Der Politik ist das wichtig. Aber uns, dem Konsumprekariat?

Wir würden bereits dann etwas für Klima und Umwelt und das gute Gewissen tun, wenn wir Out-of-Home-Zustellungen an Paket- und Abholstationen stärker nutzen würden. Dann ersparen sich die Lieferdienste, mehrfach vergeblich bis zu unserer Haustür zu fahren und vergeblich zu klingeln. Das würde eine Verhaltensänderung bei uns voraussetzen. Warum sollten wir das? Warum sollten wir uns ändern?

Vielleicht hilft dieser Nudge: Auf jedem Paket, das Sie an der Haustür entgegennehmen, liegen unsichtbare durchschnittliche 300 Gramm CO2. Ob Sie wollen oder nicht. 300 Gramm; eine Menge Umweltgift. Da fühlt es sich doch gut an und bei jedem Paket besser, das wir über einen der neuen Lieferdienste anliefern lassen, welche die letzte Meile emissionsfrei zurücklegen.

2 Kommentare zu „Rettet die Innenstadt!

  1. Aus meiner aktiven Berufszeit kann ich mich noch gut erinnern, als in Nürnberg
    Mitte der 90er Jahre der Auslieferdienst „ISOLDE“ für die Nürnberger Innenstadt ins Leben gerufen wurde. Leider hatte sich das Konzept, nicht wie geplant, durchgesetzt. Geblieben ist m.W. dass DPD in der Fussgängerzone mit Elektrokarren ausliefert.

    1. Ich muss gestehen, dass ich Ihre Art, unsere Blogs mit zusätzlichen Aspekten zu ergänzen, äußerst bereichernd empfinde und ja: Alle wollen ja immer soo umweltbewusst sein. Aber wenn dann mal eine Dienstleistung ins Leben gerufen wird, die Umwelt, Klima, Luft und Menschen entlastet, dann geht sie ruckzuck pleite. Wozu auch sein eigenes Verhalten ändern, wenn es auch Lippenbekenntnisse tun? Evi Hartmann

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