Eine Bekannte erzählte mir von ihrer Bekannten. Sie lebt im Ausland. Ihre Tochter, 16 Jahre, war nachts mit einigen Freunden auf dem Nachhauseweg von der Party, kam am Bahnhof vorbei, sah einen Arbeitszug stehen, kletterte aufs Dach, zückte das Handy für das obligatorische Selfie und erlitt einen Stromschlag aus der Oberleitung. Seither liegt sie im Krankenhaus. Koma. Die Mutter hat die Familie angewiesen, den Grund für den Krankenhausaufenthalt zu verschweigen. Man wolle den Nachbarn keinen Grund zu Tratsch geben. Kein Einzelfall.
Immer wieder liest man von Teenagern, die auf Züge klettern und von der Oberleitung schwer verletzt oder getötet werden. Im Februar letzten Jahres kam eine 15-Jährige auf einem Güterzug im Bahnhof Fürstenwalde/Spree ums Leben. Allein 40 Jugendliche starben in Deutschland in einem besonders schlimmen Jahr (2008) beim und am S-Bahn-Surfen. Hunderte, wenn nicht Tausende Youtube-Videos zeigen vor allem russische Jugendliche bei diesem „Sport“, bei dem sie auf fahrende oder von fahrenden S-Bahnen und Zügen springen oder auf geöffneten Fenstern stehen und sich draußen an der Dachreeling des fahrenden Zugwaggons festhalten. Viele dieser Videos und viele der ebenfalls im Netz sehr beliebten Epic-Fail-Videos (Amateurfilme von Unfällen oder spektakulär gescheiterten Aktionen) zeigen schwerste Unfälle, mutmaßlich auch Todesfälle. Und unsere Kids schauen sich sowas an. Finden das toll. Rufen, wenn wir Glück haben: „Mama/Papa, schau mal – wie geil ist das denn?“ Manchmal haben auch diese Kids Glück.
Dann rastet der Erziehungsberechtigte nicht aus und erteilt Handyverbot auf unbestimmte Zeit (Lerneffekt Null), sondern stellt für die medial bestens dissoziierten Jugendlichen den Kontakt zur eigenen Emotionalität und zur Realität wieder her: „Wie würde euch gefallen, wenn ihr euch beim Sturz das Bein gebrochen habt, vielleicht nie wieder richtig laufen könnt, das halbe Gesicht weg ist, ihr wie Quasimodo ausseht und mit höllischen Schmerzen blutend auf dem Bahnsteig liegt – und andere machen sich im Netz lustig über euch?“ Manchmal sagen Jugendliche: „Bei zehntausend Clicks und Likes? Ich wär auf einen Schlag berühmt!“ Totaler Realitätsverlust.
Beziehungsweise: neue Realität. Virtuelle Realität. Wenn Beifall, Aufmerksamkeit und Anerkennung von tausend anonymen Torfköpfen im Netz einem jungen Menschen mehr wert sind als seine eigene Gesundheit, sein Leben, seine Familie, seine Zukunft und seine körperliche Unversehrtheit, dürfen wir mit Fug und Recht von Digitaler Transformation reden. Experten sprechen auch von Digitaler Demenz.
Diese befällt und rafft nicht nur Jugendliche dahin, die beim Anblick einer verlockenden Selfie-Location völlig vergessen, dass der Physik-Lehrer mehrfach darauf hinwies, dass man eine Ober- oder eine Mastleitung nicht berühren muss, um einen Lichtbogen zu erzeugen oder sich mit dem Handy via Induktion selbst zu grillen (Electrocution, sagen die Amerikaner zu dieser unfreiwilligen Art des Selbstmords). Die Gier auf Internet-Ruhm kommt direkt aus dem Reptilien-Hirn, da haben Gedanken aus dem Großhirn keine Chance. Das lernt man in Neurobiologie 101. Unsere Kinder haben es nie gelernt.
Wir lassen sie ohne dieses Wissen um die Wirkungsweise ihres jungen Gehirns und ohne entsprechendes kognitives Training auf die Versuchungen des Internets los – und das Internet gewinnt. Immer. Wenn wir Glück haben in Form von Kauf- oder Clickrausch, Spiel-, Surf- oder Facebook-Abhängigkeit. Wenn wir Pech haben in den Währungen Gesundheit und Leben. Im Juli dieses Jahres erschoss eine 20-Jährige in Minnesota ihren 22-jährigen Freund. Wegen eines Videos. Beide hatten vorher 18 Videos mit meist harmlosen Streichen auf Youtube gepostet. Mit jeweils weniger als 3000 Clicks. Sie wollten 300.000 – nach eigenem Bekunden, man sieht das alles auf Youtube; sozusagen die Chronologie eines angekündigten Selbstmords.
Deshalb feuerte seine Freundin aus 30 cm eine Pistole auf Pedro Ruiz ab, währen dieser sich mit einem etwa vier Zentimeter dicken Buch „schützen“ wollte. Er war sofort tot. Wenn sein Großhirn noch funktioniert hätte, hätte er, was der gesunde Menschenverstand gebietet, das Experiment vorher mit Buch aber ohne sich gemacht. Dann hätte er sehen können, dass 300 Buchseiten keinen Schutz gegen das Projektil bieten. Doch genau das bewirkt Internet-Gefallsucht: Sie schaltet situativ das Großhirn aus. Und zwar so, dass das Großhirn nicht merkt, dass es ausgeknipst wird.
Der zuständige Sheriff im Bezirk Norman, Jeremy Thornton, sagt: „Ich verstehe diese Generation und ihre Sehnsucht nach 15 Minuten Ruhm nicht.“ Auch die Mutter in unserem Eingangsbeispiel versteht das nicht. Sie versteht, dass man Klatsch und Tratsch in der Nachbarschaft vermeiden muss. Was ihre Tochter seit Jahren im Innersten bewegt, warum ihr Internet-Ruhm wichtiger ist als buchstäblich alles andere, das versteht sie weniger gut. Gleichzeitig würde sie jede Andeutung auf mangelndes Verständnis weit von sich weisen. Dabei ist virale Gefallsucht keine Atomphysik. Es ist eine der am leichtesten zu verstehenden und kurierenden, minderschweren Süchte (erst wenn sie zu lange ignoriert wird, kann sie tödlich werden). Können wir nicht verstehen? Wollen wir nicht verstehen? Und wie lange wollen wir uns dieses Unverständnis noch leisten?