Die großen Katastrophen

Harvey und Irma – erinnern sie sich? Das waren die beiden fiesen Wirbelstürme, die in den vergangenen Wochen gewütet haben. Sie haben Texas und Florida heimgesucht, verwüstet, überflutet. Es fällt immer schwer, wenn Menschen sterben, auch über andere Aspekte von Katastrophen zu sprechen …

Harvey traf auch Houston. Nicht nur seine Menschen und Häuser, sondern auch seinen Hafen, den Flughafen, die Straßen: Kein Rad drehte sich mehr. Dazu muss man wissen: Houston ist ein Logistik-Hub, also ein sehr großes Verteilzentrum für Millionen Tonnen Warenströme jährlich. Houstons Hafen ist einer der größten der USA. Rund die Hälfte der US-Exporte an Rohbenzin und Gas werden von Houston aus in die ganze Welt verfrachtet. Nicht, während Harvey tobte.

Da ging nichts raus. Houston war praktisch geschlossen. Auch 13 der Raffinerien, die unter anderem für den Export produzierten, mussten sturmeshalber geschlossen werden. Damit fielen nicht nur Benzin und Gas aus, sondern auch viele Prozesse in der Plastik- und Petrochemikalien-Industrie. Wenn die Raffinerien nicht mehr liefern, kann die Industrie nicht mehr produzieren. Die ausgefallenen Raffinerien umfassen rund 70 Prozent der nationalen Ethylenversorgung – ein Hauptbestandteil von Plastik.

Auch die Herstellung von Kraftstoff für das ganze Land reduzierte sich wegen des Tornados auf ein Viertel der normalen Leistung. Mit einem Schlag. Von heute auf morgen. Das führte dazu, dass der Kraftstoff-Preis über 2 Dollar pro Gallone stieg; auf den höchsten Stand seit Juni 2015. Das waren nur einige der unmittelbaren Folgen von Harvey.

Die mittelbaren Folgen sind bis heute nicht vollständig abschätzbar. Zum Beispiel die Länder, die bislang von den USA Benzin und Gas bezogen: Viele werden während Harvey einfach woanders eingekauft haben. Und wer mal den Lieferanten gewechselt hat, wechselt nicht unbedingt zurück. Die USA und viele ihrer Unternehmen könnten viele Aufträge, ihre Marktstellung und etliche US-Arbeiter ihre Arbeit verlieren. Dann verlieren die Betroffenen nicht nur Haus und Hof, Hab und Gut an den Sturm, sondern auch noch ihre Lebensgrundlage und wirtschaftliche Existenz. Und alles wegen einer Naturgewalt. Im 21. Jahrhundert. Wie das?

Weil trotz allem technischen Fortschritt Katastrophen wie Harvey und andere Tornados zu den sogenannten Black Swans, zu den Schwarzen Schwänen zählen: Man weiß nicht, wann und wie oft sie auftreten und welche Schäden sie anrichten. Man weiß nur, dass sie auftreten können – und dass es dann richtig schlimm, teuer und beinah unabsehbar folgenreich wird. Man kann Schwarze Schwäne nicht vorhersehen oder verhindern.

Man kann sich aber auf sie einstellen. Das MIT hat zum Beispiel eine Plattform für eine „Risiko-Landkarte“ geschaffen. Sie soll Information und Kommunikation verbessern, die im Katastrophenfall Menschenleben retten können. In Echtzeit sieht man auf der Plattform aktuelle Evakuierungspläne, Standorttiefen des Wassers, die aktuelle Wetterprognose und Lagebeschreibungen – auch und gerade von Betroffenen. Sozusagen ein „Katastrophen-Facebook“, das dann auch über soziale Medien wie Twitter und Facebook jedem zugänglich ist. Alles ganz weit weg?

Nein. Auch wir leben mit der Katastrophe. Dass wegen der Sperrung der Rheintal-Strecke in diesen Tagen ebenfalls viele Unternehmen, Lieferanten und Arbeitsplätze gefährdet sind, erscheint kaum in den klassischen Medien. Doch Naturgewalten, Hacker-Angriffe, Epi- und Pandemien und eklatantes Missmanagement können jeden jederzeit überall treffen. Niemand ist vor Katastrophen sicher. Wobei: Nicht einmal die höhere Gewalt trifft alle gleichermaßen. Wer reich und privilegiert ist, um den macht vielleicht die Katastrophe keinen Bogen, aber ihre Folgen.

Wer zum Beispiel einen Tesla fährt und für die Flucht vor dem Tornado extra Power brauchte, der bekam von Tesla für den Tag seiner Flucht mit der Luxuskarosse ein Update seiner Software überspielt. Diese ermöglichte es den Flüchtenden, nicht nur die üblichen 80, sondern die vollen 100 Prozent der Akku-Leistung abzurufen – während viele zehntausende Menschen nicht an Flucht denken konnten, weil sie schlicht kein Benzingeld hatten für die Flucht oder keine Tankstelle mehr fanden, die Benzin ausschenkte. Wenn sie richtig Pech hatten, waren dann auch alle Shelter Rooms geschlossen. Muss man sich mal vorstellen.

Man entkommt nur knapp der tosenden Gewalt des Sturms, nur um draußen an der Tür des öffentlich zugewiesenen Zufluchtsorts das lapidare Schild zu finden: „Sorry, wegen Überfüllung geschlossen.“ Da dämmert es dann auch dem Letzten.

Es dämmert: Wir schimpfen gerne auf die Politik, dass sie uns vor diversen Katastrophen nicht ausreichend schützt. Im Tosen des Tornados verhallt die Wut ungehört. Es ist schön, wenn ein Großer uns beschützt. Wenn nicht, sollten wir Kleinen das selber für uns machen. Vor der nächsten Katastrophe.