Kaum zu glauben: Die EU-Kommission hat eine gute Idee! Sie erschien tatsächlich vor einigen Tagen kurz in den Schlagzeilen, verschwand aber rasend schnell aus denselben, weil sich daraus weder eine Krise noch eine Bedrohung oder ein Skandal machen ließ (nicht, dass es nicht versucht worden wäre …). Die Idee ist so einfach wie genial.
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, dass alle jungen Europäer, die heuer 18 Jahre alt werden, ein Interrail-Ticket bekommen. Gratis. Wie lange gibt es die EU schon? Und erst jetzt kommt sie auf die Idee? „Zur Stärkung der europäischen Identität“. Unter Ausformulierung der drei Abstrakta, die diesen Satz in den Orkus des Nebulösen reißen, könnte man auch sagen: Wer in seiner Jugend fremde Länder erlebt, entwickelt keine Fremdenfeindlichkeit. Was sich bereist, befehdet sich nicht. Wer den/die Fremde/n in der Fremde besucht, erkennt sich selbst in ihm und ihr. Reisen bildet. Nämlich die europäische Identität. Jedenfalls besser als jeder staatsbürgerliche Unterricht oder die informativen Broschüren, die von der EU erst hochglanzgedruckt, aber dann von kaum jemandem gelesen werden.
Für Menschen, die nach dem Schulabschluss oder während des Studiums nicht mit Interrail quer durch den Kontinent gereist sind: Mit dem Ticket reist man/frau auf der Schiene gratis bis äußerst günstig und sehr flexibel. Interrail gibt es seit 1972. Derzeit wird das Ticket jährlich von rund 300.000 Personen genutzt. Es ist sozusagen der Freifahrschein für 30 europäische Länder plus Türkei. Wie gesagt: gute Idee. Und jetzt der Haken.
Hat mal jemand nachgeschaut, wie viele Hunderttausende Europäer in diesem Jahr volljährig werden? Jemand von der EU-Kommission? Nicht nötig, denn man hat ja ein Budget: Es stehen 12 Millionen Euro zur Verfügung. Das reicht für 30.000 Gratis-Tickets. Man schätzt, dass etwas über eine Milliarde Euro nötig wären, um alle Volljährigen dieses Jahrs mit Interrail auszustatten. Weil die Nachfrage also voraussichtlich das Angebot überschreitet, ist ein Wettbewerb zur Zuteilung der Tickets vorgesehen; Modalitäten noch unklar. Uns beschleicht Unbehagen?
Natürlich. 12 Millionen klingt erst mal nach einer Menge Geld, um den europäischen Zusammenhalt zu retten. Betrachten wir jedoch, wie viele Hunderte Milliarden in die Bankenrettung und das seither laufende Staatenrettungs- und Anleiheaufkaufprogramm gesteckt wurden, schrumpft die Summe a) auf ein Trinkgeld zusammen und verdeutlicht b) die Prioritäten im geeinten Europa: Erst die Banken, dann die Bürger. Es gibt kaum eine bessere Investition in die Völkerverständigung und das Zusammenwachsen der Nationen als so eine Reise-Einladung. Dafür sollte man doch etwas mehr Geld freimachen können.
Abgesehen davon, dass Gratis-Reisen noch einen anderen Bildungseffekt haben: Die EU versucht seit Jahren, mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Wegen der Umwelt und der Atemluft. Denselben Effekt auf Umwelt und Atemluft hätte es auch, wenn mehr Menschen auf die Schiene gingen. Weil sie in ihrer Jugend mit Interrail gelernt haben, dass Bahnreisen nicht nur angenehmer sind als Autofahren, sondern man dabei auch deutlich mehr von der schönen europäischen Landschaft mitbekommt als wenn man mit dem Flieger drüber fliegt. Interrail ist gut für die Nachhaltigkeit.
Ein paar zaghafte Trolle versuchten, als die Meldung über den Ticker lief, einzuwenden: Ja, aber Interrail nützt doch wieder nur den gut Betuchten – weil man ja auch an den Reisezielen übernachten muss. Das ist ein altes, ein veraltetes Argument: Dank AirBnB und Couch-Surfing (man übernachtet für praktisch umsonst auf einer im Internet angebotenen Privat-Couch), dank Free Walking Touren (Stadtführungen für umsonst/ein Trinkgeld) und anderen Angeboten für budgetknappe Reisende, ist Reisen so günstig wie nie zuvor in der Geschichte des Reisens. Außerdem kommt man mit Interrail auch günstiger in Museen und kann gratis/vergünstigt den öffentlichen Personennahverkehr benutzen.
Wen die bloße Zahl von rund einer Milliarde Euro für Gratis-Tickets für alle 18-Jährigen stört: Der komplette EU-Haushalt (2018) kommt auf rund 160 Milliarden. Interrail für alle 18-Jährigen würde also nicht einmal ein Prozent davon ausmachen. Außerdem ist das brutto betrachtet: Wenn dank der Milliarde alle 18-Jährigen kürzer oder weiter mit Interrail unterwegs sind, essen und trinken sie ja auch an ihren Zielorten. Das ist ein kleines Konjunkturprogramm für Europa, das einiges von der aufgewendeten Milliarde via Steuern wieder zurück zur EU bringt.
Um den letzten Skeptiker zu überzeugen, könnte man das Ganze auch wissenschaftlich begleiten lassen. Um herauszufinden, wie und wie viele frischgebackene Volljährige das Angebot tatsächlich nutzen und ob es daher verlängert werden sollte oder nicht. Die EU sollte nicht zögern und zaudern und das langsame Dahinsiechen der europäischen Integration beklagen (lassen). Falls es so etwas wie Mut in der Brüsseler Bürokratie noch geben sollte, sollte sie ihren ganzen selben zusammen, die Milliarde in die Hand nehmen und Interrail vollflächig unter Europas Jugend verteilen. So wächst Europa zusammen. Das sollte die gemeinsame Zukunft uns wert sein.
Was sich bereist, befehdet sich nicht.
Chapeau!!!
Liebe Alcessa, bescheidensten Dank! Manchmal gelingt einem eine schöne Wendung …
da bin ich zu 100% der gleichen Meinung.
Ohne Wenn und Aber.
Die Sinnhaftigkeit wird ja wohl niemand ersthaft bezweifeln.
Da sprechen Sie, lieber Norbert, eine große Hoffnung aus: Hoffentlich bezweifelt das niemand ernsthaft und hoffentlich setzt sich die Idee durch.