Eine schöne Sitte: Was im Supermarkt oder Discounter in den Regalen liegenbleibt, geht hierzulande meistens an die Tafeln und andere caritative Einrichtungen. Dann kommt auch bei jenen, die es sich nicht leisten können, etwas Gutes auf den Tisch. Leider in letzter Zeit immer weniger. Denn das, was liegenbleibt, wird immer weniger.
Das liegt nicht daran, dass Discounter und Supermärkte plötzlich hartherzig geworden wären und weniger vom Überfluss abgeben wollen. Es liegt nicht an etwas Bösem, sondern paradoxerweise an etwas im Prinzip Gutem. Watzlawick würde es „Das Schlechte vom Guten“ nennen: Das, was aussortiert werden muss, bevor es verdirbt, hat drastisch abgenommen.
Denn die Food Supply Chains werden immer effizienter, die Planung besser. Warenwirtschaftssysteme und Forecasts sind inzwischen so gut, dass sie „unvorhergesehene“ saisonale oder wetterbedingte Schwankungen in der Nachfrage immer besser vorhersagen können. Wir merkten das früher selber, wenn wir nach einem verregneten Sommerwochenende in der Folgewoche viele Sonderangebote für jenes Grillgut sehen konnten, das aufs Wochenende nicht verkauft wurde, weil es eben regnete: Solche Sonderangebote haben deutlich abgenommen. Denn auch die Supply Chain Manager oder ihre Prognosesysteme hören den Wetterbericht und können die Bestellmengen heutzutage so rechtzeitig, zuverlässig und relativ friktionsfrei reduzieren, dass eben nicht mehr Ware als unvermeidbar liegenbleibt und verderben könnte. Führende Händler gehen noch weiter.
Wal-Mart zum Beispiel hat ein intelligentes Lebensmittelsystem eingeführt, das den Warenstrom der Bananen aus sieben südamerikanischen Ländern exakt überwacht. Wenn dieses System, sozusagen die Künstliche Intelligenz für Bananen, feststellt, dass eine bestimmte Kiste unter den vielen Hunderten Bananenkisten auf dem Weg von Südamerika in eine der 4.000 Filialen schneller reift als andere, dann wird diese Kiste identifiziert, markiert und dann eben schneller als die anderen in der betreffenden Filiale angeliefert. Schön: Nichts verdirbt. Weniger schön: Die Tafeln gehen leer aus. Die Händler könnten jetzt sagen: Was sollen wir denn machen? Wir können die Lebensmittel doch nicht aus caritativen Gründen an den Rand des Verderbs bringen! Das sagen sie aber nicht.
Sie bedienen sich vielmehr eines sehr modernen Instruments: Crowdsourcing. Einige Händler – wir kennen sie vom Einkaufen her – legen Jute-Taschen mit Einkaufslisten aus. Der geneigte Konsument füllt die Tasche mit den gelisteten Lebensmitteln, der Händler gibt die gefüllte Tasche an die Tafeln weiter. Manche Geschäfte ersparen dem Konsumenten sogar das Füllen der Taschen und verkaufen bereits komplett zusammengestellte Care-Pakete. Auch Helfen folgt dem Convenience-Prinzip: Je bequemer es wird, desto eher, öfter, umfangreicher und schneller wird geholfen. Sozusagen One-Click-Hilfe. Ein bestimmter Discounter nimmt das wörtlich.
Wer am Pfandautomaten auf den entsprechenden Knopf drückt, kann sein Pfandgeld der nächsten Tafel spenden. Da behaupte noch einer, die moderne Technik mache das Leben kälter und unsozialer. Das alles ist jetzt aber kein Grund, sich wohl- und selbstgefällig zurückzulehnen.
Denn die Frage ist nicht: Was kriegen die Tafeln? Sondern: Reicht das? Reicht das, um die in diesem reichen Lande peinlicherweise noch immer grassierende Armut, wenn schon nicht auszumerzen, so doch dramatisch zu reduzieren? Reicht es, um jeden Rentner, jede Rentnerin mit kargen Bezügen vor der zunehmenden Altersarmut zu schützen? Jede alleinerziehende Mutter, die lieber für ihr Kind hungert, als sich wo hinzuwagen, wo ihr Gesichtsverlust droht? Jeden Jugendlichen, dessen Eltern sich aus welchen Gründen auch immer nicht um ordentliche und regelmäßige Mahlzeiten für Kinder und Familie kümmern können oder wollen?
Das sind die Fragen, die darüber entscheiden werden, ob unsere Zukunft nicht nur technologisch digitaler und moderner wird, sondern auch menschlicher und besser.