Wir leben in einem paradoxen Zeitalter: Auf der einen Seite sind wir alle total vernetzt und globalisiert. Auf der anderen Seite werkeln viele einsam und alleine vor sich hin, als ob Kooperation ein Dorf in Böhmen wäre.
Man könnte sogar annehmen: Weil die Logistik sozusagen der Inbegriff der Vernetzung und Globalisierung ist, kooperieren hier alle vorbildlich miteinander. Sowohl vertikal, also entlang der Supply Chain vom Erzeuger über die Lieferanten und Hersteller bis zum Kunden, als auch horizontal, also verschiedene Speditionen und andere Dienstleister untereinander. Aber weit gefehlt.
Nach einer Umfrage von GS1 können sich über 50 Prozent der befragten Unternehmen, die noch nie irgendeine Kooperation in der Logistik eingegangen sind, auch nicht vorstellen in der Zukunft eine einzugehen. Im Zeitalter der Vernetzung ist das erstaunlich. Denn wie die Binsenweisheit verkündet: Gemeinsam sind wir stark. Wer im Alleingang vor sich hinwurstelt, verzichtet auf massive Kooperationsgewinne.
Das sagt auch das Votum jener Unternehmen, die bereits eine Kooperation eingegangen sind: 90 Prozent von ihnen wollen das beibehalten. Weil es funktioniert. Weil es Vorteile bringt, die man anders nicht erzielen kann. Wer die Erfahrung gemacht hat, möchte die Kooperation nicht mehr missen. Warum machen nur so wenige diese Erfahrung?
Das hat mit einer seltsamen Fehleinschätzung zu tun. Die GS1-Umfrage fragte zum Beispiel auch nach dem Einsparpotenzial von Kooperationsprojekten und fand heraus: Die Befragten schätzen, dass man mit einer Kooperation 13 Prozent an Treibhausgasen einsparen kann. Das ist erstaunlich wenig, wenn man bedenkt, dass NexTrust, ein EU-Förderprojekt, das Kooperationen in der Logistik untersucht, die Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen dank Kooperationen auf 32 Prozent veranschlagt: Menschen und Manager unterschätzen offenbar den Nutzen von Kooperationen auf kolossale Art und Weise.
Was einigermaßen rätselhaft ist. Denn eigentlich liegt auf der Hand: Wenn Speditionen miteinander kooperieren, können sie zum Beispiel die Anzahl ihrer Leerfahrten stark reduzieren und die Auslastung ihrer LKW steigern. Die GS1-Befragten schätzen diese Steigerung der LKW-Auslastung subjektiv auf 15 Prozent. NexTrust beziffert sie dagegen empirisch und relativ objektiv auf 43 Prozent. Da liegen Welten dazwischen. Es gibt offensichtlich einen systematischen Bias, eine immense Wahrnehmungsverzerrung, was die Vorteile von Kooperationen angeht: Wir unterschätzen sie chronisch und substanziell.
Diese Fehleinschätzung setzt sich bei der Wahrnehmung von wirtschaftlichem Einsparpotenzial und Kostensenkung fort: Die GS1-Befragten schätzen sie auf 11 Prozent, NexTrust veranschlagt die Kostensenkung der untersuchten Kooperationsprojekte dagegen auf 30 Prozent. Die Kooperation ist, grob gesprochen, um den Faktor drei besser als ihr Ruf. Diese verbreitete Fehleinschätzung könnte auch den Hindernissen geschuldet sein, die naturgemäß vor einer Kooperation liegen.
Das Hermes-Barometer des gleichnamigen Paketdienstes fragte nach diesen Hindernissen und ermittelte als die Top3 an erste Stelle Kommunikationsprobleme zwischen den Beteiligten. An zweiter Stelle folgt der Kostenaufwand bei der Implementierung von nötigen Technologien und fehlende personelle Ressourcen. Und an dritter Stelle rangieren kartellrechtliche Herausforderungen, die bestimmte Absprachen schlicht verbieten. Doch selbst das Kartellrecht ist kein prohibitives Hindernis.
In der Praxis wird für horizontale Kooperationen (also zwischen eigentlichen Konkurrenten) oft ein Trustee eingesetzt, ein neutraler Dritter, der die Kooperationspartner zusammenbringt und den Datenaustausch auf die nötige Vertrauensbasis stellt. Das ist die zentrale Lösung. Oder man macht’s dezentral und setzt dafür die aktuell stark diskutierte Blockchain-Technologie ein.
Ganz gleich, wie man es anstellt: Wir könnten jede Menge Leerfahrten und damit Verkehrsbelastung und Luftverschmutzung vermeiden, wenn die Verantwortlichen in der Logistik stärker miteinander kooperieren würden. Das ist nicht nur in der Logistik so: Der moderne Mensch ist zwar digital total vernetzt, aber für eine Kooperation müsste er es vor allem auch analog sein – und dabei hat der moderne Mensch noch eine Menge Nachholbedarf. Wir leben immerhin im Zeitalter der Individualisierung und Vereinzelung und nicht im Zeitalter der Kooperation. Vielleicht kommt das ja noch. Nötig wär’s.