Der Corona-Ausweis

In jüngster Zeit heftig diskutiert: der sogenannte Immunitätsausweis. Gesundheitsminister Spahn hatte die Idee: Massenveranstaltungen mit 50.000 Zuschauern im Fußballstadion, 500 Leuten beim Rave oder 200 Besuchern im Kino gehen wieder problemlos und vor allem ohne Angst und Ansteckungsgefahr, wenn nur jene reingelassen werden, bei denen Antikörper für Corona nachgewiesen wurden. Eine naheliegende und einleuchtende Idee – ungefähr drei Sekunden lang.

Dann setzte der Shitstorm ein. Was ein wenig verfrüht war, denn drei gute Argumente sprechen für den Ausweis:

  • Gewissheit in und nach der Krise: Wer den Pass hat, ist nicht ansteckend (dazu später mehr).
  • Endlich wird die gesellschaftliche Teilhabe auch an großen Veranstaltungen wieder bedenkenlos möglich (für die als unbedenklich Erklärten).
  • Der Corona-Pass würde beides sehr schnell ermöglichen, denn die Testkapazitäten liegen inzwischen in großem Umfang vor (fast eine Million pro Woche); die Tests können sehr schnell ausgewertet werden.

Vor allem würde der Corona-Pass nicht nur Publikumsveranstaltungen guttun, sondern der ganzen Wirtschaft. Gasthäuser zum Beispiel könnten sich den ganzen Hygiene-Aufwand und oft eine deutliche Reduktion der Anzahl ihrer Tische (wegen der Abstandsregel) sparen, die nicht selten ihre Existenz bedroht. Denn wer in den Gasthof reindarf, ist ja von vornherein unbedenklich und nicht ansteckend. Leider ist das auch der Punkt, der den Shitstorm auslöste:

Und alle anderen müssen draußen bleiben?

Das ist aus gesundheitlichen Gründen logisch, doch genauso logisch auch eine neue Art von Diskriminierung. Nicht nur von kranken Menschen – was vielleicht noch nachvollziehbar wäre. Doch auch gesunde Menschen, ja, außerordentlich gesunde Menschen würden diskriminiert: Sie haben es geschafft, die Corona-Krise ohne Ansteckung und Erkrankung zu überstehen, haben mithin auch keine Antikörper bilden müssen, weil sie sich so vorbildlich verhalten und alle Auflagen pflichtschuldigst erfüllt haben. Und mit der Verweigerung des Corona-Passes würden sie nun dafür „bestraft“, dass sie so gut auf sich und andere aufgepasst haben? Das wäre absurd.

Und umgekehrt: Auch jene würden mit dem Pass „belohnt“ werden, die möglicherweise so unvorsichtig oder gar fahrlässig waren, Corona-Partys zu feiern und sich dort anzustecken. Schlimmer noch: Was macht denn ein 16-Jähriger, dessen Clique dank laxem Verhalten schon prächtig „durchseucht“ ist, deshalb mit dem C-Pass „belohnt“ wird und jedes Wochenende in Fußball-Stadien, an Event Locations und in Disco-Höllen heftig Party macht, zu denen der 16-Jährige keinen Einlass findet, weil er sich als einziger Vernünftiger in der Gruppe nicht angesteckt hat? Wäre die Versuchung für ihn und Millionen anderer „Pass-Geschädigter“ nicht riesengroß, sich mal eben rasch anzustecken, um Antikörper zu bilden und den begehrten Pass zu bekommen (wenn man nicht vorher an der Infektion stirbt)? Das wäre makaber, morbid, absurd, paradox.

Tatsächlich hat diese Paradoxie einen Namen: Jevons Paradox. Hierzulande auch „Bumerang-Effekt“ genannt: Eine Maßnahme erzielt paradoxer- und teilweise auch das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt. Volkstümlich wurde Jevons Paradox damals bei der Einführung des Sicherheitsgurtes in Autos: Plötzlich kamen in gewissen Bereichen nicht weniger, sondern mehr Menschen mit dem Auto ums Leben, weil sie der (irrtümlichen) Meinung waren, dass man angeschnallt jetzt viel schneller und unvorsichtiger fahren könne: „Kann ja nichts passieren. Bin ja angeschnallt.“ Der Corona-Pass würde ebenso paradox viele Menschen dazu anstiften, sich mal eben rasch zu infizieren, um Antikörper und Pass zu bekommen – manchmal sogar aus wirtschaftlicher Not heraus.

Denn wenn ein Familienvater mit drei Kindern wegen fehlendem Pass nicht zurück in die Werkshalle dürfte, einige Monate zuvor ein kleines Häuschen für seine Familie gebaut hat und jetzt seine Kreditraten nicht mehr bedienen kann, weil er nicht mehr voll verdient – wofür wird er sich dann wohl entscheiden? Verlust des neuen Eigenheims und des Respekts seiner Familie? Oder vermeintlich vorübergehender Verlust der Gesundheit mit Aussicht auf den begehrten Corona-Pass? Viele werden Letzteres wählen. Aus reiner Not. Das kann, das darf nicht sein.

Oder noch weiter gedacht: Welcher Vermieter bei gesundem Verstand und gesunder Nutzenmaximierung wird an einen Miet-Bewerber vermieten, der keinen Corona-Ausweis vorzuweisen hat? Damit würde der Ausweis die Wohnungsnot 4.0 einläuten.

Der Gesundheitsminister verwies darauf, dass einige Staaten planen, eine Einreise vom Vorliegen eines solchen Ausweises abhängig zu machen. Das hat sich seit langem bereits für andere Krankheiten bewährt, zum Beispiel für das Gelbfieber. Das ist an sich nichts Neues. Doch wie jedes andere Instrument hat der Corona-Ausweis einen Wirkungsbereich: Wird dieser Bereich überschritten, funktioniert das Instrument nicht mehr oder löst seltsame Effekte aus. Wie es scheint, hat der Corona-Ausweis bei der Einreise in fremde Länder seine Meriten und seine Berechtigung, nicht jedoch bei der Anwendung im Inland.

Unbestritten sind die Vorteile des Ausweises. Doch sie werden mit gravierenden Nachteilen erkauft. Und es kommt noch ein entscheidender Punkt hinzu: Aktuell, Stand heute, weiß niemand, ob eine einmalige Corona-Infektion wirklich immun macht. Gesichert ist das nicht. Im schlimmsten Fall täuscht der Ausweis eine Sicherheit vor, die schlicht nicht gegeben ist. Die WHO sagt sinngemäß: Es gibt noch keinen Beweis dafür, dass jemand, der Antikörper gebildet hat, selber nicht wieder angesteckt werden kann und dann seinerseits wiederum andere ansteckt – mit dem gültigen Pass in der Tasche.

Natürlich müssen wir das Problem irgendwann und irgendwie in den Griff bekommen: Keiner, der ansteckend ist, sollte versehentlich Zugang zu Orten bekommen, wo er oder sie andere anstecken kann. Doch dafür ist der Ausweis nicht die einzige oder die beste Option. Heute schon werden andere Optionen praktiziert, zum Beispiel mit Security-Personal am Eingang von öffentlichen Gebäuden und von Firmen, die keinen Symptomträger reinlassen. An jeder Arztpraxis hängt schon seit Wochen der Zettel, der Verdachtsfälle bittet, wieder nach Hause zu gehen und von dort aus anzurufen. Auch eine automatische Zugangskontrolle mit ausgereifter Diagnostik ist in Zukunft denkbar (Medizintechnik und Entrepreneure arbeiten daran). Ganz gleich, welche Lösung kommen wird: Es wird eine kommen, denn ein Ende der Pandemie ist weder absehbar noch plausibel. Corona wird nicht einfach so verschwinden. Selbst wenn: Es gibt unbegrenzt andere Viren (wir leben in interessanten Zeiten – wobei „interessant“ ironisch bis sarkastisch zu verstehen ist).

Eine aus vielerlei Hinsicht akzeptable Lösung wäre zum Beispiel gegeben, wenn ein verlässlicher und weitgehend nebenwirkungsfreier Impfstoff vorläge. Dann wäre die Sache einfach (unter Vernachlässigung der Impfgegner-Position): Wer geimpft ist, weist das mit seinem ganz normalen Impfpass nach und bekommt damit Zugang zu allerlei Orten. Das wäre dann so wie bei Auslandsreisen in ein Land, in dem für Einreisende eine Impfpflicht für bestimmte Erreger besteht. Der Vorteil dieser Regelung: Dann können jeder und jede selbst entscheiden, ob ihnen die Reise in dieses Land eine Impfung wert ist oder nicht. Kategorische Impfgegner wären bei einer analogen Corona-Impfregelung im Inland immer noch diskriminiert. Doch – sofern Diskriminierung überhaupt skalierbar ist – dann wäre die Diskriminierung eine ganz andere, weitaus weniger gravierende als beim Corona-Ausweis, bei dessen vorschneller Ankündigung eben nicht so differenziert betrachtet und argumentiert wurde, wie Sie und ich das in den wenigen zurückliegenden Minuten eben taten. Und das ist meines Erachtens der größte Nutzen des Corona-Ausweises: Er bietet eine hervorragende Übung für differenziertes Denken, Informieren und Argumentieren, das zumal in dieser und jeder anderen Krise sowie im ganz normalen Alltag viel zu wenig praktiziert wird.