Womit wollt ihr denn impfen?

Der kleine Piecks im Arm, von dem jetzt alle hoffnungsvoll sprechen, ist nicht die große Sache – sondern: Wie kommt der Piecks zu uns? Kürzer gesagt: Logistik.

Mal ganz unter uns gefragt: Welche Güter des täglichen Bedarfs, die wir im Supermarkt-Regal sehen, müssen bei minus 70 Grad gekühlt werden? Keines?

Aber dieser eine Impfstoff. Und das in Millionen Dosen. Wie soll das gehen, wenn nicht genügend LKW, Kühlboxen und Lagerhäuser vorhanden sind, die so kalt lagern und transportieren können? Aber davon spricht keiner.

Alle „Experten“ diskutieren die Medien rauf und runter, welche Bevölkerungsgruppe denn zuerst geimpft werden solle, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass nichts da ist und auf absehbare Zeit nichts da sein wird, was auf die Spritze gezogen werden könnte. Sie verteilen das Fell des Bären, ohne auch nur zu wissen, wie sie an diesen Bären herankommen. Es interessiert sie schlicht nicht – so sind die Experten halt. Nun gut, dann nehmen wir eben einen anderen von den drei Impfstoffen, die nicht so extrem gekühlt werden müssen!

Doch auch hier gilt: Wie wär’s mit zuerst nachdenken? Auch wenn es anfänglich weh tut?

Das wiederum fassen die Gedankenlosen als Vorwurf auf (es ist einer) und behaupten: Aber mit der saisonalen Grippeimpfung schaffen wir doch auch Millionen Impfungen! Und das seit Jahrzehnten!

Eben.

Seit Jahrzehnten ist die Lieferkette eingespielt und optimiert und daher zuverlässig und hat von Frühjahr bis Herbst jeden Jahres rund sieben Monate Zeit, sich Jahr für Jahr vorzubereiten. Diese Zeit haben wir für Corona nicht, wenn der Gesundheitsminister, der ein genialer Logistiker sein muss, Ende des Jahres mit dem Impfen beginnen möchte. Aber wahrscheinlich hat er das so gemeint wie die Baufertigstellungsprognose für den Berliner Flughafen gemeint war.

Das ist ohnehin eine amüsante Denkverzerrung der medialen, politischen und gesellschaftlichen Diskussion: Sie abstrahiert von der Logistik. Sie tut grad so, als ob Amazon den neuen Impfstoff liefern wird: Wahlweise mit 24- oder 12-Stunden-Belieferung. Amazon kann das. Das deutsche Gesundheitswesen kann das nicht. Warum sollte es das auch können, wenn es nicht ein Zehntel so reich und so gut organisiert ist wie Amazon?

Anstatt darüber zu diskutieren, wer zuerst drankommt, sollten wir diskutieren über: LKW-Flotten, Kühlboxen, Leuten an der Rampe, Software, Dispo, Impfzubehör, Impfpersonal und Schichtpläne: Wer? Woher? Wieviel? Welches Schichtmodel? Welche Software für Dokumentation, Analyse und Nachverfolgung? Und was hören wir stattdessen, wenn wir dreimal am Tag unsere Mehrfachdosis Nachrichten hören oder sehen? Nichts davon. Das ist die schlimmere Krankheit: Realitätsverlust. Dagegen gibt es keine Impfung (aber ein Therapeutikum: Bildung).

Alles spricht dafür und nichts dagegen, dass wir auch bei der Impfung dasselbe Chaos erleben werden wie bei der Kontaktnachverfolgung, die auf operativer Ebene längst im Desaster angekommen ist, zum Beispiel in Berlin: Dort verfolgen die Behörden die Kontakte bei Ansteckung nur noch in den Risikogruppen nach – alle anderen stecken alle anderen unkontrolliert weiter an. Und wir wundern uns, warum der Lockdown kaum was bringt! Übrigens: Das RKI wollte jüngst 68 neue IT-Spezialisten einstellen, eben weil wir im 21., also im digitalen Jahrhundert leben und Pandemien nur noch mit digitaler Unterstützung zu bewältigen sind. Und wie viele Stellen hat der Haushaltsausschuss des Bundestages dem RKI genehmigt?

Was tippen Sie?

Sie kommen nie drauf.

Vier.

Weil die Politiker böse sind? Nein, weil sie Politiker und keine Logistiker sind. Sie wissen nichts von logistischer Infrastruktur. Sie glauben, der Strom komme aus der Steckdose und die Supermarkt-Ware mit – ja womit denn? Darüber macht man sich in der Politik keine Gedanken. Deshalb sind nicht nur in Berlin die Gesundheitsämter inzwischen am Rande des Wahnsinns angelangt: Warum glauben wir, dass das bei der kommenden größten Impfaktion der Menschheitsgeschichte anders enden wird? Die meisten Menschen glauben nicht mehr an einen Gott – aber an den baldigen Beginn einer reibungslosen Impfaktion glauben sie? Hut ab, das ist der mutigere Glaube. Ich lege es wirklich nicht darauf an, bei diesem Thema sarkastisch zu werden, aber was bleibt einem anderes übrig?

Eine bislang kursierende Zahl besagt, dass zum Beispiel Bayern bald 30.000 Menschen am Tag impfen möchte. Wenn dann die jetzt bereits lückenhafte IT-Architektur und personelle Unterbesetzung Datenpannen und Lücken in der Dokumentation wie jetzt schon bei den Corona-Tests verursachen wird, können wir uns bereits heute auf das Chaos freuen: Terminchaos, fehlende Nachweise, Tausende Geimpfte, die ihre Impfung nicht nachweisen können, Zehntausende Nicht-Geimpfte, die ums Verrecken keinen Impftermin bekommen können und sich die Beine in den Warteschlangen in den Bauch stehen, weil ihre Datensätze im und vom System „temporär nicht auffindbar“ sind. Endlich wissen wir, was der Terminus „Digitale Revolution“ zu bedeuten hat: Bei jeder Revolution blieben bislang noch die einfachen Bürger auf der Strecke.

Und während die einen seit Wochen geimpft werden müssten, aber nicht geimpft werden, erschleichen sich andere die Impfung, die erst in Monaten dran wären: Alles schon mal vorgekommen. Nämlich zu Beginn der Einführung der elektronischen Patientenkarte, als sich ganze Cliquen Kassenleistungen erschlichen, indem sie die eine Karte des einen Kartenbesitzers einfach an drei kartenlose Kumpels weitergaben.

Auch hier gäbe es eine ganz einfache IT-Lösung – wobei das inzwischen ein Oxymoron ist: IT ist das Gegenteil von einfach. Die einfache Lösung wäre das digitale Impfregister, wie es die Österreicher (bald) haben. Das Register könnte bei Registrierung und Nachverfolgung helfen und wir könnten auch online Impftermine buchen.

Und trotz aller Missstände liegt im Chaos auch die Chance. Die große Chance der anstehenden Mega-Impfaktion ist, dass eine frühzeitige digitale Einbindung das Chaos beseitigen und effiziente Prozesse etablieren könnte. Die völlig überlasteten Gesundheitsämter könnten plötzlich wieder Herr der Lage werden. Impfen hilft, Digitalisieren auch.